Ich streckte meine zerschrammten und schmerzenden Glieder und stand auf. Vorbei an einem Zinnkrug und einer Waschschüssel trat ich ans Butzenfenster und schaute auf die Parklandschaft rund um das kleine Landschloss hinaus. Wie lange ich geschlafen hatte, konnte ich nicht sagen, aber ich fühlte mich erfrischt und fast wieder ganz der Alte. Dann begab ich mich auf die Suche nach meinen Kleidern. Wie ich mich zu erinnern glaubte, hatte Kate sie mir vom Leib geschält, nachdem ich mehr tot als lebendig aufs Bett gefallen war.

Ohne dass es so etwas wie ein Klopfen gegeben hätte, flog mit einem Mal die Tür auf.

Geschäftig kam Mistress Ashley mit einem Tablett herein. »Frühstück«, verkündete sie, »auch wenn es jetzt eigentlich Abendbrot geben müsste. Ihr habt fast den ganzen Tag verschlafen. Euer schmutziger Freund ebenso. Er ist jetzt in der Küche und verschlingt ein Lamm.«

Ich schnappte nach Luft. Meine Hände flogen nach unten, um meine Blöße zu bedecken.

Sie schmunzelte. »Ach, lasst Euch von mir nicht stören. Ich weiß, wie ein Mann in seiner Haut aussieht. Ich mag Euch vielleicht nicht mehr ganz taufrisch erscheinen, aber Ihr sollt wissen, dass ich verheiratet bin.«

»Meine Kleider?«, stotterte ich. Als ich Mistress Ashley zuletzt gesehen hatte, hatten ihre Augen mich schier durchbohrt. Jetzt erkannte ich das gedrungene Schlachtschiff von damals angesichts der fröhlichen Stimme und der aufgeräumten Art kaum wieder.

»Eure Kleider werden gerade gewaschen.« Schwungvoll zog sie das Tuch vom Tablett und enthüllte einen Teller voll mit frischem Brot, Käse, Obst und gepökeltem Fleisch. »Im Schrank liegen ein frisches Hemd, ein Wams und eine Hose für Euch bereit. Sie stammen von einem unserer Stallknechte, dessen Statur der Euren ähnelt. Nichts Modisches, aber fürs Erste seid Ihr versorgt, bis wir Euch später richtig ausgestattet haben.«

Sie warf mir einen nüchternen Blick zu. »Ihr braucht Euch um nichts zu grämen. Mistress Stafford hat Eure Sachen im Futter des Wamses entdeckt und sicher verwahrt. Sie sammelt gerade Kräuter im Garten. Die Treppe hinunter, durch den Saal und hinter der Tür links. Ihr trefft sie dort auch dann noch an, wenn Ihr gegessen und Euch gewaschen habt.« Sie zögerte. »Ihr seid zu schmal für einen Bart. Im Zuber ist Wasser, und in der Schüssel liegt Laugenseife. Wir machen die Seife selbst. Sie braucht den Vergleich mit gekaufter nicht zu scheuen, vor allem nicht mit dem albernen parfümierten Zeug aus Frankreich, für das sie in London horrende Preise verlangen.«

Sie marschierte zur Tür. Dort blieb sie abrupt stehen, als hätte sie etwas vergessen, und drehte sich zu mir um. Hektisch riss ich das zerknitterte Laken vom Bett und schlang es mir um die Hüften. Elizabeths Gouvernante schien das nicht wahrzunehmen. »Wir schulden Euch Dank«, ließ sie mich wissen. »Mistress Stafford hat uns erzählt, dass Ihr Ihrer Hoheit geholfen habt, Seine Majestät, ihren Bruder, zu besuchen, Gott sei seiner Seele gnädig. Und Euch hat sie es zu verdanken, dass sie danach den Klauen des Herzogs entronnen ist. Wärt Ihr nicht gewesen, wer weiß, was dann aus ihr geworden wäre. Northumberland hat ihr seit jeher nichts als Schaden zufügen wollen. Ich habe sie davor gewarnt, dieses Gut zu verlassen, aber sie hat einfach nicht auf mich gehört. Sie hört ja nie auf mich oder sonst wen. Sie hält sich für unbesiegbar. Das wird eines Tages ihr Untergang sein. Merkt Euch meine Worte.«

Sie redete wie ein Wasserfall! Wer hätte das geahnt?

Ich senkte den Kopf. »Es war mir eine Ehre, zu Diensten sein zu können.«

»Ja, gut«, schnaubte sie. »Ihr zu dienen hat nichts Zauberhaftes – das werdet Ihr schon noch zu spüren bekommen. Und ich muss es wissen, denn ich bin bei ihr, seit sie ein Dreikäsehoch war. Streitsüchtig wie keine andere auf der Welt. Seit jeher war es immer sie, die ihren Kopf durchsetzen musste. Und trotzdem liebt ihr ganzer Hofstaat sie über alles. Sie hat eine ganz besondere Art, sich einem ins Herz zu stehlen. Dagegen kommt man einfach nicht an. Bevor du weißt, wie dir geschieht, hat sie dich um ihren hübschen Finger gewickelt.« Sie drohte mir schelmisch mit dem Zeigefinger. »Und gerade dann ist höchste Vorsicht angebracht. Sie kann gerissen sein wie eine Katze, wenn ihr danach ist.« Sie lächelte mich an. »Na gut, ich muss weiter. Im Moment werdet Ihr von allen beiden erwartet, und es fällt mir schwer zu entscheiden, welche von ihnen weniger hohe Ansprüche stellt. Wascht Euch gründlich. Ihre Hoheit hat eine Nase wie ein Bluthund. Es gibt nichts, was sie mehr hasst als Schweißgeruch oder zu viel Parfum.«

Die Tür fiel zu. Mit Heißhunger machte ich mich über die Mahlzeit her. Nachdem ich mich satt gegessen hatte, wusch ich mich von oben bis unten und holte mir die frischen Kleider aus dem Schrank. Zu meiner Erleichterung befand sich dort auch meine Satteltasche. Vorsichtig zog ich das in Leder gebundene Buch heraus, dem die letzten Tage arg zugesetzt hatten. Sofort schlug ich die erste Seite auf, wo die mit blauer Tinte handgeschriebene Widmung stand, auch wenn sie mittlerweile verblasst war.

Votre amie, Marie.

Ich streichelte die geneigten Buchstaben, verfasst von einer geliebten Hand, die ich nie hatte spüren dürfen. Wehmütig legte ich den Band auf das Nachtkästchen. Später wollte ich Mistress Alice’ Lieblingspsalm lesen. Und in Erinnerungen schwelgen. In diesen Erinnerungen würde meine geliebte Alice immer eine Mistress sein, obwohl sie aufgrund ihrer Geburt Angehörige eines höheren Standes war und die Anrede »Dame Alice« angemessen gewesen wäre.

Danach rasierte ich mich mithilfe der Seife, meines Messers und eines Spiegelfragments aus meiner Satteltasche. Auch wenn das Glas zerbrochen und darin nicht viel von mir zu erkennen war, jagte mir das, was ich beim Abwaschen von Barthaaren und Schaum erspähte, einen Schreck ein.

Das Gesicht, das mir entgegenblickte, war von Blutergüssen übersät, bleich und viel kantiger, als ich es in Erinnerung hatte. In seine kindlichen Züge hatte sich unversehens eine hart erarbeitete Reife gemischt. Es war das Gesicht eines noch nicht ganz Einundzwanzigjährigen, das Gesicht, mit dem ich seit meiner Geburt gelebt hatte – und dennoch gehörte es einem Unbekannten. Doch mit der Zeit würde ich diesen Fremden, zu dem ich geworden war, schon noch kennenlernen. Ich würde mich zu seinem Herrn aufschwingen. Ich würde alles lernen, was ich benötigte, um in dieser neuen Welt zu überleben und mich in ihr zu behaupten.

Und ich würde nicht ruhen, bis ich Master Shelton gefunden hatte.

Denn er wusste weit mehr über mich, als er mir je verraten hatte – dessen war ich mir sicher. Er hatte dem verstorbenen Charles Brandon, Herzog von Suffolk, gedient und den Tod von dessen Frau, meiner Mutter, betrauert. Hatte er auch gewusst, dass das Goldblatt, das er Mary Tudor überbracht hatte, zu demselben Schmuckstück gehörte, dessen anderen Teil es, zusammen mit Mistress Alice’ wichtigsten Besitztümern, in ein Versteck verschlagen hatte? Und wenn es sich so verhielt, wusste er dann auch, dass es Mistress Alice anvertraut worden war, und aus welchem Grund? Ich hatte so viele Fragen, die nur er beantworten konnte.

Ich wandte mich wieder praktischen Dingen zu und zog mich an. Die Kleider passten mir erstaunlich gut.

Wenig später durchquerte ich den Saal mit seiner beeindruckenden, von Holzbalken gestützten Decke und den flämischen Wandteppichen und trat durch die offene Eichentür in einen milden Sommerabend hinaus, der sich einem samtenen Regen gleich über Heckenkirschen und Weiden legte.

Kate stand, den Kopf von einem Strohhut bedeckt, bis zu den Knöcheln in einem Kräuterbeet und band frisch gepflückte Thymianzweige zu Bündeln zusammen, die sie in einen Korb legte. Als sie meine Schritte hörte, sah sie auf. Dabei verrutschte ihr Hut, blieb jedoch auf ihrem Rücken an einem Band hängen. Bevor sie ihn wieder aufsetzen konnte, schloss ich sie in die Arme und ließ meinen ausgehungerten Sinnen freien Lauf.

»Ich nehme an, dass du gut geschlafen hast?«, flüsterte sie schließlich an meinen Lippen.

Ich ließ die Hände über ihre Taille gleiten. »Noch besser hätte ich geschlafen, wenn du bei mir gewesen wärst.«

Sie lachte. »Noch ein bisschen besser, und du hättest ein Leichentuch gebraucht.« Ihre Stimme wurde rauchig. »Denk bloß nicht daran, mich zu verführen. Ich habe nicht vor, irgendeinem streunenden Kater nachzugeben, der plötzlich beschließt, zu Hause vorbeizuschauen.«

»Doch, das hast du vor, und das ist gut so«, raunte ich. Wir küssten uns erneut, bis sie mich zu einer Bank bugsierte. Einander an den Händen haltend, blickten wir in den sich verdunkelnden Himmel.

Unvermittelt sagte Kate: »Ich habe das hier für dich.« Aus ihrer Rocktasche zog sie das Goldblatt – und zu meiner Überraschung Robert Dudleys Silberring mit dem Onyx.

»Den hatte ich ganz vergessen«, murmelte ich und streifte ihn mir über den Finger. Er war zu groß.

»Weißt du, was passiert ist?«, fragte Kate.

»Das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass die Armee des Herzogs desertiert ist, als er zum Marsch auf Framlingham blies.«

Sie nickte. »Nur hat er es nicht mehr erreicht. Die Nachricht ist heute eingetroffen. Kaum hatte der Kronrat Mary zur Königin ausgerufen, haben sich Arundel und all die anderen ihr zu Füßen geworfen und um Gnade gewinselt. Danach ist Arundel losgezogen, um Northumberland, Lord Robert und seine anderen Söhne zu verhaften. Sie werden jetzt in den Tower geschafft, wo Guilford bereits eingekerkert ist.« Sie zögerte. »Es heißt, dass Mary ihre Hinrichtung anordnen wird.«

Meine Finger schlossen sich um den Ring. »Wer könnte es ihr verdenken?«, sagte ich leise, während meine Erinnerung weit in die Vergangenheit zurückflog, als ein verwirrter Junge sich aus Furcht, entdeckt zu werden, in einer Dachkammer am Boden zusammenkauerte und eine Horde von Söhnen beneidete, die ihn nie als einen der Ihren akzeptieren würden.

Ich spürte Kates Hand auf der meinen. »Du hast immer noch die Blüte. Hast du erfahren, was sie bedeutet?«

Die Erinnerung verblasste.

»Es ist ein Blatt.« Ich blickte ihr in die Augen. Langsam öffnete ich ihre Finger und legte ihr das Goldblatt in die Hand. »Ich möchte dir alles erzählen. Nur brauche ich vorher noch Zeit, um es zu entwirren. Und sie erwartet mich. Mistress Ashley hat es mir gesagt.«

Ich spürte, wie sie sich fast unmerklich aufrichtete. Mir war klar, dass sie nie gegen ihre Gefühle ankommen würde und dass wir beide würden lernen müssen, mit dieser Situation umzugehen, wenn wir ein gemeinsames Leben aufbauen wollten. Elizabeth war ein zu wichtiger Teil von uns beiden geworden.

»Sie wartet allerdings«, bestätigte Kate. »Heute Nachmittag hatte sie wieder Kopfschmerzen. Das ist der Grund, warum ich im Garten Kräuter gesammelt habe. Daraus braue ich ihr einen Abendtrunk. Aber sie hat mich gebeten, dich zu ihr zu schicken, sobald du aufgestanden bist. Wenn du willst, kann ich dich nachher zu ihr bringen. Im Augenblick macht sie in der Galerie ihre Leibesübungen.«

Sie wollte aufstehen, doch ich hielt sie zurück. »Geliebte Kate«, flüsterte ich und führte ihre Hand an meine Lippen, »mein Herz gehört allein dir.«

Sie betrachtete unsere ineinander verschlungenen Finger. »Das sagst du jetzt, aber du kennst sie nicht so gut wie ich. Eine treuere Herrin gibt es nirgendwo auf der Welt, aber sie fordert dafür auch bedingungslose Hingabe.«

»Die hat sie schon. Aber das ist alles.« Ich stand auf, hob ihr Kinn sanft mit den Fingern an und küsste sie auf die Lippen. »Behalte dieses Blatt bei dir. Es ist jetzt dein, als Symbol für unsere Verbindung. Ich würde dir gern einen dazu passenden Ring schenken, wenn du mich nimmst.«

Der Glanz in ihren Augen wärmte mir das Herz. Später würde ich noch genug Zeit haben, ihr zu beweisen, dass nichts die Liebe beeinträchtigen konnte, die ich zusammen mit ihr erleben wollte – eine Liebe, die weit entfernt war vom Aufruhr unserer Tage und der Niedertracht des Hofs, eine Liebe, in der das Geheimnis um meine Vergangenheit endlich zur Ruhe gebettet werden konnte.

Ich folgte Kate zurück in das Landschloss. Am Torbogen vor der Galerie zögerte ich. Die schlanke Gestalt, an deren Seite sich Urian befand, wirkte Ehrfurcht gebietend. Noch einmal atme ich tief durch, dann trat ich mit einer Verbeugung vor.

Freudig bellend sprang mir Urian entgegen.

Elizabeth stand, nur als Silhouette erkennbar, in dem durch die Schießscharte hereindringenden Zwielicht, und ihr malvenfarbener Umhang schien die letzten Reste der Sonnenstrahlen aufzusaugen. Ihr offenes rotgoldenes Haar fiel ihr über die Schultern. Sie kam mir vor wie ein erschrockener Faun, den man auf einer Lichtung überrascht hat, doch dann trat sie mit jener Entschlossenheit auf mich zu, die sie als Jägerin, nicht als Opfer auswies. Als sie mich schon fast erreicht hatte, bemerkte ich einen zerknüllten Pergamentbogen in ihrer Hand.