Ich lächelte, als William mich ansah.

«Zimperliesen, hm?«sagte er zwinkernd.

Ich lachte nur.»Es ist auszuhalten. Wirklich. Die Kälte, meine ich, Es ist ja schließlich auch ein altes Haus, nicht wahr? Kein Wunder, daß man da nachts merkwürdige Dinge hört. Das ist eigentlich der einzige — «

«Was sagst du da? Merkwürdige Dinge? Wovon redest du?«

«Ach, du weißt schon. «Ich spielte mit meiner Gabel.»Mitten in der Nacht wacht man von irgendwelchen komischen Geräuschen auf. Ist dir das nie passiert?«

Er zog die Brauen hoch.»Ich kann mich nicht erinnern. In dem Haus gibt's keine Geräusche. Dazu ist es zu solide gebaut. Ganz im Gegensatz zu den Bruchbuden, die sie heute hochziehen. Vor hundert Jahren hat man noch für die Ewigkeit gebaut. Nein, mich haben nachts nie Geräusche geweckt. Hier, in unserem Haus, da knarrt und knackt es immer irgendwo, nicht wahr, May?«

«Aber ich meine«, fuhr ich hastig fort,»hast du dir nie Gedanken über das Haus gemacht? Hast du nie seltsame Geräusche gehört oder vielleicht — vielleicht etwas Merkwürdiges gesehen? Ich meine, irgend etwas Unerklärliches. «Er starrte mich verständnislos an.

«Was willst du damit sagen, Andrea?«fragte Elsie, während sie sich Wein einschenkte.»Daß es im Haus spukt?«Wieder lachten sie alle — William, Elsie, May. Ed lächelte nur und aß weiter.

«Nein, das meinte ich nicht«, erwiderte ich, obwohl ich genau das gemeint hatte.»Es hätte mich nur interessiert, ob — «

«Hast du denn etwas gesehen, Andrea?«fragte May.»Nein, nein, natürlich nicht. Aber in Los Angeles, wißt ihr, wenn da ein Haus hundert Jahre alt ist, dann — na ja, dann gibt es immer irgendwelche Geschichten über es. Schauermärchen manchmal.«

«Nein, hier ist das nicht so«, sagte William, nahm sich das letzte Stück Braten, leerte die Soße aus der Schale auf seinen Teller und stellte die Schale krachend wieder weg.»Dazu gibt's hier viel zu viele alte Häuser. Wenn da jedes sein eigenes Gespenst hätte — du lieber Schreck! Wenn du Spukgeschichten nach Amerika mitnehmen willst, mußt du nach Penketh fahren. Hier in der Gegend können wir mit so was nicht dienen. Wir haben keine Zeit für Gespenster.«

Elsie neigte den Kopf leicht zur Seite und sah mich über den Tisch hinweg an.»Enttäuscht, Andrea?«

«Ach wo! Keine Spur. Ich war nur neugierig.«

«Die Amerikaner haben komische Vorstellungen von England, hm?«meinte William.»Als lebten wir alle in Gruselhäusern. Tut mir leid, Kind, keine Geister weit und breit. Denen ist es hier viel zu kalt. «Er lachte dröhnend, und ich wünschte, ich hätte das Thema nicht aufs Tapet gebracht.

«An unserem alten Haus ist nichts Geheimnisvolles, nicht wahr, Elsie?«sagte er, wieder ernst werdend.»Ich bin 1922 in dem Haus geboren und habe fast bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr dort gelebt. Nicht ein einziges Mal habe ich was Ungewöhnliches gesehen oder gehört. Es war immer ein angenehm ruhiges Haus. Gut gebaut. Solide. Nicht wie diese windigen Dinger von heute. Christine spart schon eifrig, um sich irgendwann mal eines von diesen alten Häusern draußen in…«

Ich zog mich aus dem Gespräch zurück. Schweigend stocherte ich in meinem Essen. Ich war irritiert und enttäuscht. Ich hatte gehofft, meine unheimlichen Erlebnisse in dem alten Haus wären nichts Neues, und meine Verwandten könnten von ähnlichen Begebenheiten erzählen. Aber sie hatten nichts zu erzählen. Gar nichts.

Nach dem Essen, bevor William und May zum gewohnten Besuch im Krankenhaus aufbrachen, beschloß ich, meine Mutter anzurufen. Meine Verwandten waren sofort begeistert von der Idee und drängten sich begierig um mich, sobald das angemeldete Gespräch durchkam. Es war mir unmöglich, ein privates Wort mit meiner Mutter zu sprechen.

Jeder wollte einmal an den Apparat, um ihr guten Tag zu sagen, und als wir schließlich den Hörer auflegten, hatte ich nichts Wesentliches mit meiner Mutter gesprochen. Ich fühlte mich betrogen. So vieles hatte ich ihr sagen, so vieles hatte ich sie fragen wollen, aber ich war nur eben dazu gekommen, mich nach ihrem Befinden zu erkundigen, ein wenig von meinem Großvater und dem Alltag bei meiner Großmutter zu berichten und ihr dann zu sagen, daß hier vier Leute Schlange stehen, um mit ihr zu sprechen.

William und May setzten mich auf der Fahrt zum Krankenhaus in der George Street ab. Sie kamen noch einen Moment mit ins Haus, um sich zu vergewissern, daß Großmutter sich wohl fühlte, und ihr zu erzählen, wie nett das Familienessen gewesen war, wie schade, daß sie nicht dabei gewesen war. Und während sie schwatzten, machte ich mir Vorwürfe, daß ich mich, kaum waren wir durch die Tür getreten, wieder von der Atmosphäre des Hauses hatte einfangen lassen. Ich sollte mehr um das Befinden meines Großvaters besorgt sein, hielt ich mir vor, anstatt mich auf diese morbide Weise von dem Haus besetzen zu lassen. Um neun, als wir beide wieder vor dem Kamin saßen, in dem das Gasfeuer brannte, schaltete Großmutter das Radio ein, um sich die von ihr so geliebte >Stunde schottischer Musik< anzuhören. Ungefähr fünf Minuten, nachdem die Dudelsäcke zu wimmern angefangen hatten, ging es wieder los.

Wir lehnten beide bequem in unseren Sesseln und hörten schweigend der Musik zu, als mir auffiel, daß die Uhr zu ticken aufgehört hatte.

Ich starrte sie an wie hypnotisiert.

Wie aus weiter Ferne vernahm ich dann die Klänge eines schlecht gestimmten Klaviers — wieder war es die Melodie von >Für Elise<, diesmal jedoch wurde sie von geübterer Hand gespielt als zwei Abende zuvor.

Ich drehte den Kopf und sah meine Großmutter an. Sie lehnte mit geschlossenen Augen in ihrem Sessel und summte leise das Lied der Dudelsäcke mit. Der Moment schien eine Ewigkeit anzudauern, als wäre die Zeit zum Stillstand gekommen und wir in einem Raum zwischen zwei Wirklichkeiten gefangen. Ich starrte meine Großmutter ungläubig an. Wie war es möglich, daß sie das Klavierspiel nicht hörte!

Mir wurde heiß im Gesicht. Das Zimmer schien immer enger zu werden. Ich bekam Angst, als mir klar wurde, was geschah.»Großmutter!«Sie öffnete die Augen nicht.

Das Klavierspiel wurde lauter. Es war jetzt sehr nah und umgab mich von allen Seiten. Das Pfeifen der Dudelsäcke rückte immer weiter in den Hintergrund.

«Großmutter…«

Endlich blickte sie auf.»Was ist denn, Kind?«In dem Moment, als sie die Augen öffnete, brach das Klavierspiel ab. Ich sah zur Uhr hinauf. Sie tickte wieder.»Ich bin wahnsinnig müde, Großmutter. «Ich rieb mir mit beiden Händen das Gesicht.»Macht es dir was aus, wenn ich zu Bett gehe?«

«Aber gar nicht. Wie gedankenlos von mir, dich wachzuhalten. «Sie griff nach ihrem Stock und wollte aufstehen.»Bleib sitzen, Großmutter. Du brauchst nicht aufzustehen.«

«Na hör mal? Ich werd doch nicht hier unten sitzen bleiben, wenn du schlafen willst.«

«Wieso — «

«Dein Nachthemd und dein Morgenrock liegen schon unter dem Kissen. Ich wollte nicht, daß du erst wieder durchs kalte Treppenhaus nach oben mußt.«

Verwirrt blickte ich zum Sofa hinüber und sah, daß Kissen und Decken schon bereit lagen. Jetzt verstand ich, was sie meinte.»Ich soll heute nacht hier unten schlafen?«

«Aber sicher. Du hast es hier so schön warm gehabt und so gut geschlafen, warum sollst du da wieder in das kalte Zimmer hinauf?«

«Ach, aber — «Ich wollte nicht hier unten schlafen, ich verstand es selbst nicht. Ich wollte wieder hinauf ins Vorderzimmer. Ich hätte mich fragen sollen, was hinter diesem widersinnigen Wunsch, oben zu schlafen, steckte, aber ich tat es nicht, sondern versuchte nur stockend, meiner Großmutter eine Erklärung zu geben.»Das war gestern nacht was anderes«, sagte ich.»Da hatte ich einen Alptraum. Das passiert heute nacht bestimmt nicht wieder. Wirklich, Großmutter, ich fühl mich wohl da oben — «

«Gib dir keine Mühe, Kind. Ich weiß, es ist meine Schuld. Ich hab dir ständig vorgejammert, wie teuer das Gas ist und wie sparsam wir mit Gas und Strom umgehen müssen, und jetzt kannst du es nicht einmal genießen, hier unten in der Wärme zu schlafen. Aber ich sage dir, kümmre dich nicht um mein Genörgel. Wir lassen die Gasheizung an, solange du hier bist, und basta. Gute Nacht, Kind.«

Damit tappte sie auf ihren Stock gestützt aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

Ich ließ mich aufs Sofa fallen. Was war das nun wieder gewesen? Warum hatte ich ihrem gutgemeinten Vorschlag widersprochen, obwohl ich ihr bei klarer Überlegung beipflichten mußte, daß hier unten der behaglichste Schlafplatz für mich war? Irgend etwas, eine Kraft, die etwas Verborgenes in mir ansprach, zog mich nach oben. Es war beinahe so gewesen, als wollte diese Kraft mich zwingen, gegen meinen Willen zu handeln.

Ich hob den Kopf und sah mich im Zimmer um. Ein ganz gewöhnliches Zimmer, vertraut schon und gemütlich. Warum konnte ich mich dann nicht entspannen? Zwei Tage war ich jetzt hier, da mußte ich die Zeitverschiebung doch verarbeitet, mich an meine neue Umgebung gewöhnt haben. Aber das unheimliche Gefühl, das mich beim ersten Betreten des Hauses überfallen hatte, war nicht, wie ich erwartet hätte, abgeflaut; im Gegenteil, es war stärker geworden.

Und das Klavierspiel. Es war klar, daß meine Großmutter es nicht gehört hatte. Wieso nicht? Woher war es gekommen? Konnte nur ich es hören? Aber wieso? Wie kam es, daß keiner meiner Verwandten je etwas Ungewöhnliches in diesem Haus erlebt hatte? Warum nur ich allein? Hatte ich diese seltsamen Geschehnisse vielleicht durch mein Kommen ausgelöst? Hatte ich etwas an mir, das die Geister dieses Hauses um ihre Ruhe brachte? Mit einem Ruck hob ich den Kopf zur Zimmerdecke. Was war das für ein Geräusch? Ohne den Blick von der Decke zu wenden, stand ich langsam auf und lauschte angestrengt in die Stille. Es klang, als weinte eine Frau.»Großmutter?«flüsterte ich.

Ich vergaß mein eigenes Dilemma und rannte, tief besorgt um meine Großmutter, aus dem Zimmer in den finsteren Flur.

Kapitel 5

Die Finsternis im Treppenhaus machte mir angst. Das Herz klopfte mir so heftig, daß ich das gedämpfte Schluchzen kaum noch hören konnte. Dennoch hastete ich so schnell ich konnte die Treppe hinauf. Das Weinen meiner Großmutter erschreckte und besorgte mich.

Nachdem ich oben Licht gemacht hatte, näherte ich mich vorsichtig ihrer Zimmertür und drückte lauschend das Ohr an das Holz. In Großmutters Zimmer war alles still. Verwirrt trat ich einen Schritt zurück und blickte den Flur hinunter. Im trüben Schein der Deckenbeleuchtung konnte ich umrißhaft die Tür zum Vorderzimmer erkennen. Sie war geschlossen. Das Weinen schien von der anderen Seite zu kommen.

Auf Zehenspitzen huschte ich den Gang entlang. Je näher ich der Tür kam, desto lauter wurde das Weinen. Vor der Tür blieb ich stehen und lauschte. Die Luft um mich herum war eiskalt. Abgesehen von dem Weinen war alles still. So kalt und still wie in einem Grab, schoß es mir durch den Kopf. Mich schauderte. Am liebsten wäre ich stehenden Fußes umgekehrt und die Treppe hinunter geflohen, aber ich war nicht fähig, mich von der Stelle zu rühren. Eine Macht, die stärker war als ich, befand sich mit mir im dämmrigen Flur und zwang mich, die Hand zu heben und auf den Türknauf zu legen.

Er war hart und kalt. Lautlos öffnete ich die Tür und starrte in die undurchdringliche Schwärze des Zimmers. Ein kalter Hauch streifte mein Gesicht. Vorwärts gezogen von einer Macht, gegen die ich mich nicht wehren konnte, trat ich mit weit geöffneten suchenden Augen ins Zimmer und sah, daß die Mitte des Raums von einem bleichen Licht erleuchtet war, dessen Quelle ich nicht ergründen konnte. Die Außenzonen des Zimmers lagen in Dunkelheit, das geisterhafte Licht selbst, das auf das Bett gerichtet war, hatte einen hellen Mittelpunkt und verlor sich zu den Rändern hin in milchigem Dunst.

Ich blickte auf die Gestalt, die im Schein des Lichts auf dem Bett lag. Ein kleiner, weißgekleideter Körper, der von Schluchzen geschüttelt wurde.

Ich sah ein junges Mädchen, höchstens zwölf oder dreizehn Jahre alt, das bäuchlings quer über dem Bett lag. Sie trug ein knöchellanges Kleid aus weißer Baumwolle, das mit Schleifen und Rüschen verziert war. Um die schmale Taille lag eine breite Schärpe, die auf dem Rücken zu einer großen Schleife gebunden war. Unter dem weißen Rock konnte ich die gefältelten Unterröcke und die weißen Strümpfe sehen.

Den Kopf in die Arme gedrückt, weinte das Mädchen herzzerreißend.

Ich weiß nicht, wie lange ich reglos dastand und sie anstarrte. Ich hatte keine Angst, aber ich war völlig fasziniert. So gefangen war ich von dem Bild, das wie Realität schien und doch nur Täuschung sein konnte, daß ich erst erschrak, als das Mädchen den Kopf hob. Was würde geschehen, wenn sie mich entdeckte? Aber dann geschah etwas Seltsames. Das Mädchen richtete in der Tat ihren Blick auf mich, und ich erkannte fast im selben Moment, obwohl ich erschrocken zusammenfuhr, daß sie mich nicht sah. Nein, sie blickte einfach durch mich hindurch. Mit hämmerndem Herzen starrte ich wie gebannt in das reizlose Gesicht des Mädchens und erkannte, daß es dasselbe Mädchen war, das ich auf dem Foto der drei Townsend-Kinder gesehen hatte. Nur älter war sie jetzt. Harriet Townsend, Schwester von Victor und John.