Langsam setzte sie sich auf. Die langen Locken fielen ihr über die Schultern. Ihr Gesicht war verschwollen vom Weinen, doch jetzt schien sie sich gefaßt zu haben und hielt den Blick auf etwas oder jemand gerichtet, der sich hinter mir befand. Als sie zu sprechen begann, zuckte ich zusammen. So real die Szene erschien, das hatte ich nicht erwartet.

«Es ist mir gleich, was Vater sagt«, erklärte sie trotzig mit schmollend vorgeschobenen Lippen.»Ich bleibe hier oben und esse nichts mehr, bis ich verhungert bin. Ich bin ihm ja sowieso gleichgültig.“

Immer noch blickte sie durch mich hindurch, als lausche sie den Worten des unsichtbaren Gegenübers. Dann warf sie zornig den Kopf in den Nacken und sagte:»Warum mußte Victor fortgehen? Er mußte doch gar nicht. Vater wollte, daß er hier bleibt und im Werk arbeitet. Aber nein, Victor mußte seinen Kopf durchsetzen. Ich wünsche ihm nur, daß er in London schrecklich unglücklich wird. Und ich hoffe, er schneidet sich und stirbt an einem Gift.«

Bei der Antwort ihres Gegenübers verzog sie ärgerlich das kleine Gesicht. Ich hatte keine Ahnung, wer mit ihr sprach, aber es war nicht schwer, die Lücken des Dialogs zu füllen.»Das ist mir egal! Du kannst Vater ausrichten, daß ich mich im Schrank einsperre und nie wieder einen Bissen zu mir nehme. Victor hat versprochen, daß er nie fortgehen würde. Er hat es mir versprochen!«

Harriet Townsend durchdrang mich mit herausfordernd blitzendem Blick. Doch schon im nächsten Moment wandelte sich ihr Trotz in Erschrecken und dann in Furcht. Ihre Augen weiteten sich, der Mund öffnete sich zum Schrei.»Schlag mich nicht!«flehte sie und kroch hastig zur anderen Seite des Betts.»Es tut mir leid. Ich hab's nicht so gemeint. Bitte, bitte, schlag mich nicht. «Sie hob abwehrend die Arme, während sie immer wieder schrie:»Nicht! Bitte, nicht!«Ich stürzte zum Bett und rief:»Harriet — «

Das Licht an der Decke flammte auf. Ich drehte mich verwirrt um.

«Was tust du hier oben?«

Ich zwinkerte geblendet, dann sah ich meine Großmutter, die an der offenen Tür stand. Auf ihrem Gesicht lag ein merkwürdiger Ausdruck.

«Ich-ich-«

«Du solltest schlafen«, sagte sie.

Ich sah mit offenem Mund zum Bett hinüber. Dort lag mein aufgeklappter Koffer, sein Inhalt über der Steppdecke verstreut. Das gespenstische Licht war ebenso verschwunden wie Harriet, selbst die beißende Kälte im Zimmer schien etwas gemildert. Ungläubig sah ich wieder meine Großmutter an. Hatte sie denn nichts gesehen? Hatte sie nichts gehört?

«Meine — meine Hausschuhe«, erklärte ich verlegen.»Ich wollte meine Hausschuhe holen.«

«Ich hörte dich sprechen.«

«Ja. «Ich fuhr mir mit den Fingern durch das Haar.»Ich hab mir im Dunklen das Schienbein angestoßen. -Ach, da sind sie ja. «Ich bückte mich und hob meine Hausschuhe auf. Wir gingen hinaus und knipsten das Licht aus. Ich fragte mich, wie lange meine Großmutter hinter mir gestanden, wieviel sie gesehen und gehört hatte. Als ich mich vor der Tür zu ihrem Zimmer von ihr trennte, gab sie mir einen Kuß auf die Wange.»Gute Nacht, Kind. Schlaf gut. Und bleib unten, wo es warm ist, sonst holst du dir noch eine Erkältung.«

Bevor sie in ihrem Zimmer verschwand, schaltete sie das Flurlicht aus, und mit einem Schlag war das ganze Haus wieder in schwarze Finsternis getaucht. Ich stand an der Treppe, ohne die Stufen erkennen zu können, und fühlte mich noch ganz im Bann der rätselhaften Begegnung mit Harriet Townsend. Langsam, wie im Traum, stieg ich die Treppe hinunter und hatte dabei die ganze Zeit ihre klägliche kleine Stimme im Ohr.

Was hatte ich da gesehen? War es Einbildung gewesen? Die Ausgeburt einer überreizten Phantasie? Oder hatte ich diese Szene wirklich miterlebt?

Unten angekommen, tastete ich mich an der Wand entlang zum Wohnzimmer vor. Von weither vernahm ich ganz schwach die Klänge eines Klaviers. Mich fröstelte. Während ich in dem pechschwarzen, kalten Flur stand, hatte ich den Eindruck, in einer riesigen, klammen Höhle gefangen zu sein, aus der ich niemals hinausfinden würde. Und die zarte Melodie von Beethovens >Für Elise< wehte aus dunklen Höhen zu mir herunter und lockte mich.

«Nein«, flüsterte ich unwillkürlich. Was immer dort oben wartete, ich hatte nicht den Mut, ihm ins Auge zu sehen. In blinder Hast stolperte ich zum Wohnzimmer und atmete tief auf vor Erleichterung, als sie sich unter dem Anprall meines Körpers öffnete.

Aber ich war nicht allein.

Ein junger Mann stand an den Kaminsims gelehnt und lächelte mir entgegen. In der Hand hielt er ein Glas mit einer dunklen Flüssigkeit.

«Ein scheußlicher Abend«, sagte er und winkte mich zum Feuer.

Ich stand wie eine Idiotin an der Tür und starrte in den offenen Kamin, in dem ein prasselndes Feuer brannte. Es war ein richtiges Feuer, die Flammen leckten an den sorgsam aufgeschichteten Scheiten, und die Funken stoben.

Ich sah wieder den jungen Mann an, der mich mit gutmütiger Belustigung fixierte.»Du bist ja naß bis auf die Haut«, bemerkte er mit leichtem Spott.»Das geschieht dir recht. «Verdutzt blickte ich an mir hinunter, musterte mein T-Shirt und meine Jeans, die völlig trocken waren. Erst dann drehte ich mich um und blickte über die Schulter nach rückwärts. Draußen im Flur war ein zweiter junger Mann, der eben einen klatschnassen Umhang am Garderobenständer aufgehängt hatte und die Nässe von seinem Zylinder schüttelte.

Automatisch wich ich zum Büffet zurück. Ich war plötzlich am ganzen Körper wie gelähmt; meine Glieder waren bleischwer und gehorchten mir nicht mehr. Mein Puls raste und dröhnte mir so laut in den Ohren, daß ich meinte, er müßte im ganzen Haus zu hören sein. Ich weiß nicht mehr, ob Angst und Schrecken oder einfach maßlose Verwunderung mich in diesem Moment lahmten; jedenfalls war ich so gebannt, daß nicht einmal ein Frösteln mich befiel, als der kalte Luftzug mich streifte, den Victor Townsend bei seinem Eintritt ins Zimmer mitbrachte.

«Das reinigt die Luft, John«, sagte er mit volltönender Stimme, während er sich die Hände über dem Feuer rieb. John Townsend ging zur Glasvitrine, holte ein Glas heraus und füllte es aus einer Karaffe mit der dunklen Flüssigkeit, die auch er trank. Dann prosteten die beiden Männer einander zu, tranken und lachten.

Verblüfft erkannte ich, daß sie meine Anwesenheit überhaupt nicht bemerkten.

Die beiden Brüder wirkten sehr gegensätzlich. John, der Jüngere, vielleicht zwanzig Jahre alt, war kleiner und nicht so gutaussehend wie sein Bruder. Dafür waren seine Gesichtszüge weicher, und er strahlte eine sanfte Freundlichkeit aus, die sofort für ihn einnahm.

Victor — mein Urgroßvater (welch seltsame Vorstellung) — hatte dichtes rabenschwarzes Haar und Koteletten, die fast bis zum Unterkiefer reichten. Die großen dunklen Augen lagen tief in den Höhlen, und zwischen den kräftigen Brauen trat die steile Falte über der Nasenwurzel stark hervor. Er war fast einen Kopf größer als sein jüngerer Bruder, kräftiger gebaut, mit breiteren Schultern, und wirkte dadurch imposanter.

Die Kleider, die sie trugen, dunkle Gehröcke und Nadelstreifenhosen, entsprachen ganz der Mode des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Sie sahen beide sehr elegant aus, wie sie da standen, und galten unter ihren Zeitgenossen zweifellos als Männer von Geschmack.

«Aha, daran hat dir London offensichtlich nicht den Geschmack verdorben«, bemerkte John, als er sah, daß Victor sich noch einmal aus der Karaffe einschenkte.

«Ich bin doch erst ein Jahr weg, John. Du redest, als hättest du großartige Veränderungen erwartet.«

«Ich habe jedenfalls erwartet, daß du gescheiter heimkommst, als du fortgegangen bist. Das King's College hat einen großen Ruf. Was bringen sie euch denn an der medizinischen Fakultät alles bei?«

«Bettgeflüster«, antwortete Victor scherzhaft. John warf den Kopf zurück und lachte.»Das, lieber Bruder, könntest doch du eher den Londonern beibringen. Aber jetzt mal im Ernst«- er neigte sich mit einem verschwörerischen Lächeln zu Victor hinüber —»macht es dir wirklich Spaß, Leichen zu sezieren?«

«Du bist schrecklich, John, und das gleich an meinem ersten Abend zu Hause.«

«Na schön, dann sprechen wir von angenehmeren Dingen. Durftest du schon mal junge Damen untersuchen?«Victor schüttelte lächelnd den Kopf.»Du bist wirklich unverbesserlich, John. Man wird doch nicht aus Lust an Leichen und nackten jungen Frauen Arzt.«

«Aber nein, natürlich nicht!«John wedelte theatralisch mit einem Arm.»Dich treibt die Menschenliebe, das Mitgefühl mit allen, die leiden, der brennende Wunsch, allem Schmerz und Elend ein Ende zu machen.«

«So etwa«, murmelte Victor.

Einen Moment lang versiegte das Gespräch, und die beiden jungen Männer blickten schweigend in die Flammen im Kamin. Jetzt erst fiel mir auf, wie sich das Zimmer verändert hatte, Eine Tapete mit Blumenmuster bedeckte die Wände, und auf dem Boden lag ein dicker Perserteppich in satten Blau- und Rottönen. Die Glasvitrine stand neu und blitzblank in der Ecke, und dem Roßhaarsofa fehlte Großmutters Schonbezug. Auf dem Kaminsims stand eine Tischuhr auf geschwungenen Beinen, die von zwei Staffordshire-Hunden flankiert war. Gaslampen an den Wänden beleuchteten das Zimmer und mehrere oval gerahmte Porträts mir unbekannter Personen. Ich war so fasziniert von der Szene, daß ich sie auf keinen Fall zerstören wollte. Aus diesem Grund machte ich auch nicht die kleinste Bewegung und wagte kaum zu atmen. Ich hörte, wie hinter mir die Tür geöffnet wurde und eine dritte Person ins Zimmer trat. Ich spürte den kalten Luftzug, der hereinwehte, und sah, wie Victor sich umdrehte und mit strahlendem Lächeln beide Arme ausbreitete, als Harriet auf ihn zuging.

«Victor, ich freu mich so, daß du gekommen bist. «Bruder und Schwester umarmten und küßten einander. Dann hielt er sie auf Armeslänge von sich ab und betrachtete sie von oben bis unten.»Du bist in dem einen Jahr ganz hübsch gewachsen«, sagte er.

Richtig, das war nicht mehr das eigensinnige kleine Mädchen, das noch vor wenigen Minuten oben im Schlafzimmer geweint und geklagt hatte. Harriet war eine junge Dame geworden. Sie trug ein langes Seidenkleid mit hohem Kragen und engem Mieder. Die langen Locken trug sie hochgekämmt und mit Nadeln festgesteckt.

Sie sah sehr elegant aus und wirkte im Feuerschein, der ihre Wangen rosig färbte, beinahe hübsch.

«Ich bin ja auch schon vierzehn«, erklärte sie stolz.»In dem einen Jahr habe ich mich sehr verändert.«

«Aber sie flennt immer noch soviel wie früher.«

«John!«

Victor unterdrückte ein Lächeln.»Ist das wahr, Harriet, weinst du viel?«

«Du hättest sie an dem Abend erleben sollen, als du abgereist bist, Victor! Das war wirklich ein Drama. Sie wollte sich in den Kleiderschrank einsperren und nie wieder etwas essen. «Jetzt ließ Victor das Lächeln heraus.»Meinetwegen wolltest du das tun?«

Ich sah, wie Harriet errötete.»Es hat mich so gekränkt, daß du fortgegangen bist, Victor. Aber jetzt macht es mir nichts mehr aus. Jetzt bin ich stolz darauf, daß du Arzt wirst.«

«Wenn nur auch Vater stolz darauf wäre«, murmelte John unterdrückt.

«Und ich bin froh, daß du das Stipendium bekommen hast. Weil du ja wirklich der klügste Mann von ganz Warrington bist, und ich — «

«Warrington ist ein kleines Städtchen«, warf John ein und griff zur Karaffe.»Noch ein Glas, Victor?«Victor schüttelte den Kopf.

«Kann ich was haben?«fragte Harriet herausfordernd.»Damit du dir deinen hübschen Teint verdirbst? Du weißt, was Vater tun würde, wenn er dich dabei ertappte, daß du Brandy trinkst.«

«Brandy!«sagte Victor.»Du bist ja wirklich erwachsen geworden, hm, Harriet?«

«Mehr als du ahnst. Ich war auf den Tennisplätzen.«

«Harriet!«John warf ihr einen mißbilligenden Blick zu.»Das hat Vater dir doch verboten.«

«Ich spiele ja nicht. Ich sehe nur zu. Das hat er mir nicht verboten.“

«Aber er wird sicher böse werden, wenn er davon hört.«

«Und wer soll es ihm erzählen?«

«Tennis?«fragte Victor mit hochgezogenen Brauen.»Hier in Warrington?«

«Ja, stell dir vor. Meine Freundin Megan O'Hanrahan spielt sogar. Und sie raucht Zigaretten.«

«Diese Megan ist ein ganz lockeres Ding«, bemerkte John finster.»Du solltest dich von ihr lieber fernhalten. «Doch Victor sagte:»In London findet man nichts dabei, wenn eine junge Dame Tennis spielt.«

«Aber wir sind hier nicht in London.«

«Ach, John, du bist so spießig. «Harriet umfaßte Victors Arm und begann schnell auf ihn einzureden.»Tennis interessiert mich gar nicht so besonders«, sagte sie.»Aber weißt du, was ich liebend gern hätte?«