Victor betrachtete seine kleine Schwester amüsiert.»Was denn?«

«Ein Fahrrad.«

John wirbelte herum.»Also, das ist doch wirklich — «

«Einen Augenblick, John, laß deine Schwester ausreden. Also, Harriet, warum möchtest du ausgerechnet ein Fahrrad haben?«

«Megan O'Hanrahan hat auch eines und — «

«Und jeder kann ihre Unterröcke sehen, wenn sie die Straße hinunterfährt!«

«John!«rief Harriet schockiert.

«Es ist unanständig. Vater wird niemals erlauben, daß seine Tochter sich so unschicklich zur Schau stellt. Und ich werde ebensowenig zulassen, daß meine Schwester — «

«Victor! Hilf mir doch!«

«Tja, ich…«Er kratzte sich am Kopf.

«Du bekommst kein Fahrrad, und damit Schluß. Auf der Straße herumfahren und sich unter die Röcke gucken lassen. Das schickt sich nicht für eine anständige junge Dame.«

«John Townsend, wie kannst du so gewöhnlich sein. Ich ziehe doch lange Pumphosen an — «

«Niemals würde Vater diese Dinger in seinem Haus dulden. Sollen die Amerikanerinnen sie anziehen, wenn sie wollen. Die haben sie ja erfunden. Aber du wirst dich nicht auf diese Weise zur Schau stellen.«

Harriet sah John einen Moment lang mit zornig blitzenden Augen an, dann wandte sie sich Victor zu.»Und was findest du?«

«Ich muß John da leider zustimmen, Harriet. Tennisspielen mag noch angehen, aber Radfahren ist etwas ganz anderes. Ich glaube, du schlägst dir das am besten aus dem Kopf.«

«Das sind nur diese Iren«, sagte John, während er wieder zur Karaffe griff und sein Glas füllte.»Vater hat ihr den Verkehr mit diesen O'Hanrahans verboten. Das sind üble Leute.«

«Gar nicht wahr! Es sind sehr anständige Leute.«

«Katholiken!«

«Sie sind genauso gottesfürchtig wie du und Vater — «

«Keine Widerworte, Harriet!«schrie John sie an. Einen Moment stand Harriet wie vom Donner gerührt und blickte ungläubig von einem Bruder zum anderen, dann schlug sie die Hände vor das Gesicht, drehte sich um und lief weinend aus dem Zimmer.

Als sie an mir vorüberstürmte, drehte ich mich um und öffnete den Mund, um zu sprechen. Aber sie war zu schnell an mir vorbei, und schon fiel krachend die Tür hinter ihr zu. Zornig, Worte des Vorwurfs auf den Lippen, wandte ich mich wieder den Brüdern zu, aber als ich zum Kamin blickte, waren sie nicht mehr da.

Verwirrt fragte ich mich, wohin sie so schnell hatten verschwinden können, dann fand ich in die Realität zurück und lachte nervös. Gespenster! Und ich hatte tatsächlich mit ihnen sprechen wollen!

Zögernd und furchtsam ging ich zur Mitte des Zimmers. Alles war wieder so, wie ich es von Anfang an gekannt hatte: die Möbel alt und glanzlos, die Wände schlicht weiß, im Kamin das Gasfeuer. Und die Uhr auf dem Sims tickte ruhig und gleichmäßig. Mir zitterten plötzlich die Knie, und ich ließ mich in den nächsten Sessel fallen. Was hatte das alles zu bedeuten? Wie war es möglich, daß meine Phantasie mir eine solche Szene vorgaukelte? So lebensecht, so richtig bis ins kleinste Detail, so scheinbar real. Ich war wie im Schock. Ich fühlte mich so schwach, als wäre meinem Körper alle Kraft entzogen worden. Mein Geist war stumpf, wie betäubt.

Was war das nun eben gewesen? Hirngespinste, die meinem erschöpften Geist entsprungen waren? Phantasien, die Großmutters Erzählungen in Verbindung mit der unheimlichen Atmosphäre des Hauses bei mir ausgelöst hatten? Oder… Ich hätte den Gedanken gern lächerlich gefunden, aber es gelang mir nicht.

Oder hatte ich hier wirklich etwas gesehen und miterlebt? War ich von Gespenstern heimgesucht worden, oder war mir ein Blick in die Vergangenheit gewährt worden?

Ich sah zur Uhr hinauf. War es das gewesen? Ein kurzer Blick den Zeitschacht hinunter?

Nein, sagte ich mir, den Blick weiter auf die Uhr gerichtet, ein Spuk im üblichen Sinn war das nicht gewesen; vielleicht schien es so zu sein, daß ich Zeugin gewisser Ereignisse aus der Vergangenheit geworden war. Es war, als hätte ich durch Zufall ein Zeitfenster entdeckt, durch das ich die Geschehnisse beobachten konnte.

Eine Besonderheit fiel mir auf, während ich nachdachte, und das war die Abfolge der Ereignisse. Ich erinnerte mich des Abends meiner Ankunft in diesem Haus, als ich zum erstenmal die Klänge von >Für Elise< gehört hatte. Sie hatten sich angehört, wie von Kinderhand geklimpert. Später jedoch hatte die Melodie flüssiger geklungen, wie von geübterer Hand gespielt. Und Victor war, als ich ihn das erste Mal am Fenster erblickt hatte, ein Junge von etwa fünfzehn Jahren gewesen. In der Nacht, als ich ihn an meinem Bett hatte stehen sehen, war er schon älter gewesen, aber noch nicht so alt wie in dieser letzten Szene, die ich soeben miterlebt hatte. Das gleiche galt für Harriet — oben im Schlafzimmer das weinende Kind und wenige Minuten später schon ein ganzes Jahr älter, eine junge Dame.

War die Uhr vielleicht zurückgedreht worden bis zu den ersten Tagen dieses Hauses im Jahr 1880, als die Familie Townsend hier eingezogen war? Und war sie dann wieder in Bewegung gesetzt worden, um die Ereignisse ihren Verlauf nehmen zu lassen? Wenn das so war, warum? Oder war vielleicht in Wirklichkeit alles nur meine Einbildung?

Ich hatte irgendwann einmal von einer Theorie gelesen, die besagte, daß Zeit in Wirklichkeit Gleichzeitigkeit sei, daß Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins seien und daß wir nur aufgrund gewisser physikalischer Bedingungen des Universums andere Zeitalter nicht wahrnehmen könnten. Man glaubte, daß hochsensible Menschen, wie Medien oder Hellseher, die Fähigkeit besäßen, die Barrieren zu überwinden und die Zukunft oder die Vergangenheit zu sehen; daß dies möglicherweise das Phänomen des deja vu und der Vorahnung erklärte; daß wir möglicherweise gerade dann, wenn wir am unbewußtesten sind und die Abwehrmechanismen am schwächsten, versehentlich die Barriere durchstoßen und einen Blick in die Zukunft tun könnten. Oder in die Vergangenheit…

Uhren und Kalender sind Erfindungen des Menschen, doch die Zeit ist ewig. Wäre es möglich, daß sie ein Kreislauf ist — und immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt? Oder ist sie vielleicht ein Strom, in dem alle Zeitalter gemeinschaftlich in einem treiben? Wenn alle Geschichte heute existiert und ebenso die Zukunft, könnte es dann nicht möglich sein, daß man irgendwo durch Zufall auf eine Öffnung stößt, ein Fenster gewissermaßen, durch das man einen Blick auf die mitfließenden Ströme erhascht?

Als ich erwachte, war es noch dunkel. Ich lag völlig angekleidet im Sessel, und die Hitze des Gasfeuers brannte auf meinen Beinen. Abrupt setzte ich mich auf. Einen Moment lang wußte ich nicht, wo ich war. Ich rieb mir die Augen und sah auf die Uhr. Es war vier.

Mein ganzer Körper war steif, und meine Glieder schmerzten, als ich vorsichtig aufstand, um mich im Zimmer umzusehen. Alles war wie immer. Ich war ganz einfach mit meinen Gedanken über den Besuch in der Vergangenheit eingeschlafen. Wenn es denn tatsächlich ein Besuch gewesen war. Vielleicht war es ja auch nur ein Traum gewesen. Es war möglich, daß ich schon vor Stunden am Gasfeuer eingeschlafen war und alles nur geträumt hatte. Aber nein, da standen meine Hausschuhe. Jene erste Periode zumindest, als ich dem Schluchzen folgend nach oben gegangen war und dort die weinende Harriet angetroffen hatte, war real gewesen. Und die zweite Szene, die mit Victor, John und Harriet?

Ich konnte nicht glauben, daß ich sie phantasiert hatte. Zu lebensecht war die Episode gewesen. Die drei hatten gesprochen und agiert wie Menschen aus Fleisch und Blut. Aber eine Erklärung für diese Vorfälle wußte ich nicht. Da ich nicht wieder einschlafen wollte, wanderte ich noch eine Weile im Zimmer umher und schlug mich dabei mit den Fragen herum, die mich bedrängten. Wenn ich sie sehen kann, wieso können dann sie mich nicht sehen? Ist dieses >Zeitfenster< eine Art Einwegspiegel? Und wenn ich sie sehen und hören und den kalten Luftzug bei ihrem Eintritt ins Zimmer fühlen kann, kann ich sie dann vielleicht auch berühren? Was würde ich dabei zu fühlen bekommen? Würden sie die Berührung wahrnehmen? Und weiter — aus welchem Grund liefen die Ereignisse in ihrem Leben in chronologischer Folge ab? Hatte das einen bestimmten Sinn? Völlig erschöpft ließ ich mich in den Sessel fallen. Ja, was hatte das alles für einen Sinn? Wozu wurden mir bestimmte Ereignisse gezeigt, ganz willkürlich, wie mir schien? Ich konnte nicht selbst bestimmen, was ich sehen wollte und was nicht, das lag auf der Hand. Ich hätte Harriet und ihre Brüder nicht herbeiholen können, wenn ich es jetzt versucht hätte. Aber wenn sie sich mir zeigten, würde ich der Begegnung höchstwahrscheinlich nicht ausweichen können. Das Geschehen lag ganz außerhalb meiner Kontrolle.

Andrerseits schienen sie meiner überhaupt nicht gewahr zu sein. In allen Spukgeschichten jedoch, die ich je gehört oder gelesen hatte, hatte immer der >Geist< das Geschehen beherrscht und bestimmt, wem er sich zeigen wollte. Dies hier schien mir ein Spuk von ganz anderer Art zu sein. Zusammenhanglose Szenen aus der Vergangenheit, alle so real, als lebte ich in jenen Momenten wahrhaftig im England des neunzehnten Jahrhunderts. Warum gerade ich? fragte ich mich immer wieder. Wenn dies alles keinen Sinn hat, keinem bestimmten Zweck dient, warum dann gerade ich? Warum nicht Christine oder Ann oder Albert? Warum nicht William oder Elsie oder Großmutter?

Ich hockte mit hochgezogenen Beinen im Sessel, den Kopf auf den Knien, als mir ein neuer, erschreckender Gedanke kam. Mit einem Ruck richtete ich mich auf und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die ruhig tickende Uhr. Alles läuft in der gleichen zeitlichen Reihenfolge ab wie vor hundert Jahren, dachte ich. Und das kann nur heißen -

Nein! Ich sprang auf. Großmutters Worte fielen mir wieder ein.»Victor Townsend war ein nichtswürdiger Mensch. Manche sagen, er hätte sich der Schwarzen Kunst verschrieben. Andere behaupten, er hätte mit dem Satan selbst in Verbindung gestanden. Nichts in der Welt wird mich dazu bringen, über die unsäglichen Scheußlichkeiten zu sprechen, die dieser Teufel begangen hat. Solange Victor Townsend lebte, machte er den Menschen in diesem Haus das Leben zur Hölle.«

«Nein…«, stöhnte ich.

«Andrea!«

Ich bewegte stumm meinen schmerzenden Kopf hin und her.»Andrea, Kind!«

Langsam öffnete ich die Augen und sah meiner Großmutter ins Gesicht.

«Andrea, fühlst du dich nicht wohl?«

«Doch, doch — es geht mir gut.«

«Es ist fast zehn«, sagte sie, während ich noch immer in das alte Gesicht blickte, das einmal frisch und schön gewesen war.»Möchtest du aufstehen oder lieber noch eine Weile schlafen?«

Stirnrunzelnd blickte ich an mir hinunter, sah das Nachthemd, das ich anhatte, die Decken, die auf mir lagen. Ich drehte den Kopf zur Seite. Meine Sachen lagen sauber gefaltet auf einem Stuhl. Wann hatte ich sie ausgezogen?

«Ach, Großmutter…«, sagte ich seufzend und rieb mir die Augen.»Ich habe solche Kopfschmerzen.«

«Armes Kind. Warte, ich hol dir eine Tablette. Bleib ruhig liegen.“

Auf ihren Stock gestützt schlurfte sie zum Büffet und zog die oberste Schublade auf. Ich dachte an die vergangene Nacht zurück. Ich erinnerte mich an die weinende Harriet, die oben auf dem Bett gelegen hatte, und an ihr Gespräch mit ihren beiden Brüdern. Und ich erinnerte mich, daß ich im Zimmer umhergegangen war und versucht hatte, mir klarzuwerden, was diese Visionen oder Besuche in die Vergangenheit, oder was es sonst war, zu bedeuten hatten. Aber was danach geschehen war, wußte ich nicht mehr. Ich hatte keinerlei Erinnerung daran, mich ausgekleidet und ins Bett gelegt zu haben.

«Hier, Kind. «Mit ihrer schmalen, von der Gicht verkrüppelten Hand reichte sie mir zwei weiße Tabletten und mit der anderen ein Glas Wasser.»Die helfen dir bestimmt.«

«Was ist das?«

«Ein Mittel gegen Kopfschmerzen. Nimm sie.«

«Danke.«

Ich setzte mich auf und schluckte die Tabletten. Es irritierte mich, daß ich mich nicht erinnern konnte, wie ich ins Bett gekommen war, und ich verstand nicht, weshalb ich so starke Kopfschmerzen hatte. Während meine Großmutter in die Küche hinüberging, stand ich müde auf, nahm meine Sachen und ging in den Flur hinaus. Die Kälte traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Fröstelnd stieg ich die Treppe hinauf. Auf halbem Weg hielt ich inne.

Eine flüchtige Erinnerung blitzte in meinem Gedächtnis auf. Es war das Fragment eines Traums, den ich gehabt hatte. Nur ein Schatten war von ihm geblieben, und sosehr ich mich anstrengte, ihn zu erhellen, es gelang mir nicht. Ich konnte mich nicht an den Traum erinnern. Bis auf jenes eine dürftige Fragment. Es hatte mit dem Kleiderschrank in meinem Schlafzimmer zu tun.