«Wieder da, Kind?«hörte ich meine Großmutter rufen.»Ich dachte mir doch, daß ich die Tür gehört habe. Komm herein. Elsie und Ed werden bald kommen, um dich abzuholen. «Niedergeschlagen, daß es mir doch nicht gelungen war, mich gegen die unheimliche Atmosphäre dieses Hauses zu feien, folgte ich meiner Großmutter ins Wohnzimmer, legte die dicken Kleider ab und ging zum Kamin.»Muß kalt sein draußen«, sagte meine Großmutter auf dem Weg in die Küche.»Du bist ganz rotgefroren. Du solltest noch etwas Warmes zu dir nehmen, ehe du wieder hinausgehst. Ich hol dir ein Glas von meinem Kirschlikör.«
«Wenn ich ehrlich sein soll, war mir ein Brandy lieber, Großmutter«, rief ich ihr nach.
«Tut mir leid«, gab sie zurück,»aber Brandy hab ich nicht im Haus.«
«Aber natürlich!«widersprach ich kopfschüttelnd über die Vergeßlichkeit des Alters und ging zur Vitrine. Ich sah das alte Teeservice und die in Leder gebundenen Bücher, und da fiel es mir ein. Den Brandy hatte es damals gegeben. Ich drehte mich hastig um und sah meine Großmutter in der Küche verschwinden. Mir wurde ganz heiß im Gesicht. Begann ich schon, Illusion mit Wirklichkeit zu verwechseln? Eine erschreckende Vorstellung.
Als Großmutter wieder ins Zimmer kam, stand ich immer noch bei der Vitrine. Sicherlich verriet mein Gesicht meinen Schrecken, aber sie bemerkte es nicht. Sie reichte mir das Glas mit dem gewärmten Likör und wandte sich von mir ab. Ich war erleichtert, als Elsie und Ed kamen. Sie waren die Gegenwart und die Vernunft. Ich mußte fort aus diesem Haus und dem Bannkreis seines unheimlichen Einflusses auf mich. Als wir im Flur in unsere Mäntel schlüpften, sagte Elsie:»Pack dich nur richtig ein, Andrea. Wir bekommen schlechtes Wetter. Im Westen sieht's nach Regen aus. Hoffentlich gibt es keinen Sturm.«
Mein Großvater saß aufrecht im Bett, als wir kamen. Seine Augen waren weit geöffnet, und er wirkte etwas wacher als die letzten Male.
«Hallo, Dad«, sagte Elsie und nahm ihren gewohnten Platz ein.
«Ich hab heute eine Überraschung für dich. Schau mal!«Sie nahm eine grün-goldene Dose aus ihrer großen Handtasche.»Sirup. Für den Nachmittagstee.«
Mein Großvater lächelte beglückt.
Ed, immer sanft und zurückhaltend, fragte gedämpft:»Fühlst du dich heute ein bißchen besser?«
Mein Großvater nickte, als hätte er verstanden. Dann wandte er sich ganz überraschend mir zu. Mir wurde unbehaglich unter seinem Blick. Seine Augen waren so umflort, ihr Ausdruck so unergründlich, daß unmöglich zu erkennen war, was in ihm vorging. Vielleicht hatte er sich in meine Richtung gewendet, weil er das Scharren meines Stuhls gehört hatte. Vielleicht war es einfach seine Gewohnheit, erst nach dieser, dann nach jener Seite zu sehen. Ganz gleich, als er mich ansprach, war ich überrascht.»Ruth? Du bist also wieder da, hm?«
«]a, Großvater, ich bin hier. «Vorsichtig griff ich nach seiner mageren, von Altersflecken übersäten Hand und tätschelte sie leicht.
«Ruth? Du bist also wieder da, hm?«
Elsie beugte sich über das Bett und sagte laut:»Das ist Andrea, Dad. Ruth ist in Los Angeles.«
Er nickte und lächelte selig wie ein Kind.»Ja, ich weiß. Das ist unsere Ruth, ja, ja.«
Elsie wollte erneut widersprechen, doch ehe sie etwas sagen konnte, kam eine der Schwestern, blieb am Fußende des Bettes stehen und betrachtete meinen Großvater mit gespielter Mißbilligung.»Er will einfach nicht auf die Beine«, sagte sie zu Elsie und Ed.»Er will einfach nicht aufstehen und gehen. Stimmt's, Mr. Townsend?«
Mein Großvater nickte, ohne den Blick von mir zu wenden.»Die Schwester redet mit dir, Dad, nicht mit Andrea«, sagte Elsie.
Er drehte den Kopf und sah seine Tochter an. Das Lächeln blieb unverändert, die Augen schienen blicklos.
«Die Schwester hat gesagt, daß du nicht gehen willst. Der Doktor möchte, daß du aufstehst und versuchst zu gehen. Wie willst du denn nach Hause zu Mama, wenn du nicht gehen kannst?«
Mein Großvater nickte ihr lächelnd zu, und Elsie wandte sich achselzuckend zur Schwester.»Er kann uns heute überhaupt nicht folgen, nicht?«
«Ach Gott«, meinte die Schwester,»es ist mal so, mal so mit ihm. Spät abends ist er immer sehr wach. Da spricht er so viel, daß wir ihn gar nicht zum Schweigen bringen können. «Elsies Gesicht zeigte Besorgnis.»Spricht er wirr?«
«Das weiß ich nicht so recht. Ich verstehe meistens nicht, was er meint, aber Sie würden vielleicht wissen, wovon er spricht. Er unterhält sich mit Leuten, die nicht hier sind. «Ich spitzte die Ohren, als ich das hörte, und richtete meine Aufmerksamkeit auf die Schwester. Sie war schon älter und trug einen dunkelblauen Kittel.»Mit wem unterhält er sich denn?«fragte ich. Elsie sagte:»Das ist meine Nichte aus Amerika. Die Tochter meiner Schwester. Als sie hörte, daß ihr Großvater krank ist, kam sie extra hergeflogen.«
«Können Sie mir sagen, mit wem er spricht, Schwester?«
«Nein, ich hab keine Ahnung. Was er sagt, ergibt keinen Sinn.«
«Hat er Namen genannt?«
«Andrea, was soll das?«fragte Elsie.
Ungeduldig über die Unterbrechung antwortete ich:»Ach, nichts, Tante Elsie. Ich dachte nur — er hätte vielleicht Mutters Namen erwähnt. Oder mit ihr gesprochen, weil er glaubte, sie sei hier. Dann hätte ich ihr vielleicht etwas von ihm ausrichten können, wenn ich wieder zu Hause bin.«
«Nein, mit Frauen spricht er nie«, warf die Schwester ein.»Einen Frauennamen hab ich nie von ihm gehört. Er spricht immer nur mit einem Mann.«
«Und hat er nie einen Namen genannt?«fragte ich wieder.»Da muß ich erst mal überlegen. Er führt richtige Gespräche, wissen Sie. Meistens dreht sich's um Pferderennen. Er bildet sich ein, daß er eine Wette placiert, verstehen Sie. Oder er bestellt ein Glas Bier. Aber Namen — warten Sie mal. «Sie rieb sich nachdenklich die Wange.
Ich rutschte gespannt bis zur äußersten Stuhlkante. Endlich schnalzte sie mit dem Finger und sagte:»Ja, an einen erinnere ich mich. Erst neulich abend hat er ihn genannt. Und gestern abend auch wieder. Er redete mit einem Victor. Ja, genau. Victor.«
Ich rutschte auf meinem Stuhl wieder nach hinten.»Victor!«wiederholte Elsie.»Großvater hat nie einen Victor gekannt. Das muß er sich ausgedacht haben.«
«Sicher«, meinte die Schwester und machte Anstalten zu gehen.»Das tun sie hier fast alle. Erfinden sich unsichtbare Besucher. «Während sie zum nächsten Bett trat und sich über den dort liegenden Patienten beugte, starrte ich auf ihren kräftigen Rücken und dachte, er hat Victor auch gesehen.
Kapitel 6
Der Abend war endlos. Ich wurde von einer Ungeduld gequält, die ich mir nicht erklären konnte. Es war, als hätte sich alles Erleben des Tages in mir gestaut und drängte zu einer Explosion, die ich fürchtete. Den ganzen Tag hatte mich die schattenhafte Erinnerung an den Traum von dem alten Kleiderschrank verfolgt; der Zwischenfall mit dem Brandy, den ich gern als trivial und bedeutungslos abgetan hätte, war mir immer wieder durch den Kopf gegangen, nagende Erinnerung, daß ich einen Moment lang zwischen die Zeiten geraten war. Und dann hatte ich auch noch hören müssen, daß mein Großvater Abend für Abend mit seinem Vater sprach. Diese Neuigkeit hatte vielleicht den beunruhigendsten Eindruck hinterlassen.
Während ich jetzt am Kamin saß und dem Klappern der Stricknadeln in den Händen meiner Großmutter zuhörte, rief ich mir das Gespräch im Wagen auf der Heimfahrt ins Gedächtnis.»Da scheint Dad sich tatsächlich eine Person ausgedacht zu haben, die ihn regelmäßig abends besucht«, hatte Elsie zu Ed und mir gesagt.»Wie die Kinder, die sich einen unsichtbaren Spielgefährten erfinden.«
«Ich glaube nicht, daß die Person erfunden ist, Tante Elsie«, hatte ich widersprochen.
«Wieso? Wie meinst du das?«
«Ich glaube, Großvater hat vielleicht die Vorstellung, daß sein Vater ihn besucht.«
«Sein Vater?«Elsie riß die Augen auf.»Du lieber Gott! Ich glaube, du hast recht, Andrea. Hieß Dads Vater nicht Victor? Victor Townsend, natürlich, ich erinnere mich. «Sie drehte sich nach mir um.»Aber Dad hat seinen Vater nie gekannt, Andrea. Soviel ich weiß, ließ er seine Frau sitzen und verschwand, ehe Dad geboren wurde.«
Ich zuckte nur die Achseln. Der kleine Wagen rumpelte über das Kopfsteinpflaster, und ich starrte zum Fenster hinaus, ohne etwas wahrzunehmen.»Vielleicht hat er ihm einen Körper und ein Gesicht gegeben, um mit ihm sprechen zu können«, sagte ich. Meine Vermutung überzeugte Elsie, doch, mich überzeugte sie nicht. Eingedenk meiner seltsamen
Erlebnisse in den vergangenen drei Tagen konnte ich den Gedanken, daß mein Großvater seinen Vater vielleicht wirklich gesehen hatte, nicht von der Hand weisen.
Das war das Beunruhigende. So einfach war es heute morgen auf dem Newfeld Heath gewesen, über meine >Träume< zu lachen, das Melodram der vergangenen Nacht als Hirngespinst abzutun, Ausgeburt einer durch Zeitverschiebung und Kulturschock überreizten Phantasie, daß der Gedanke, meine ersten Ahnungen könnten vielleicht doch richtig gewesen sein, ich könnte tatsächlich einen Blick in die Vergangenheit getan haben, nun um so alarmierender war.
Nach dem Abendessen hatte Großmutter ihr Strickzeug herausgeholt, und ich hatte mich mit Block und Kugelschreiber ans Gasfeuer gesetzt, um nach Hause zu schreiben. Aber ich hatte mich nicht konzentrieren können; unaufhörlich kreisten meine Gedanken um das Geheimnis dieses alten Hauses und um die Frage, ob in dieser Nacht wieder etwas geschehen würde. Gegen neun war ich so rastlos, daß ich kaum noch ruhig sitzen konnte.»Weißt du nicht ein paar lustige Geschichten, Andrea?«fragte Großmutter unerwartet.
Ich sah von meinem leeren Block auf.»Wie meinst du das?«
«Na, du weißt schon, etwas zum Lachen. Witze. «Sie hob den Kopf und sah mich über die Ränder ihrer Brillengläser an, ohne zu stricken aufzuhören.»Weißt du nicht ein paar gute Witze?«
«Ach so — hm…«Ich überlegte.»So auf Anhieb fällt mir nichts ein…«
«So geht's mir auch immer. Ich kann mir wirklich keinen Witz merken. Kaum höre ich ihn, schon hab ich ihn vergessen. «Sie senkte den Blick wieder auf ihr Strickzeug.»Dein Onkel William, der konnte immer herrlich Witze erzählen, schon als kleiner Junge. Er muß das von meiner Familie haben. Ich glaub, bei den Townsends war's mit dem Humor nicht so weit her. Wie soll man auch lachen, wenn man ständig unglücklich ist?«Meine Gedanken wären gern ihre eigenen Wege gegangen, und es kostete mich Anstrengung, Großmutter und der Gegenwart meine Aufmerksamkeit zu geben. Sie sprach langsam, im Takt mit dem gleichmäßigen Klappern ihrer Nadeln. Ihre Hände bewegten sich flink, hielten nur gelegentlich inne, wenn sie etwas mehr Wolle vom Knäuel zog.
«Deine Mutter schrieb mir oft, dein Bruder hätte den Humor der Dobsons mitbekommen. So Familienähnlichkeiten sind schon was Eigenartiges, nicht? Du brauchst dich nur selber anzuschauen, Andrea. Du bist deinem Großvater fast wie aus dem Gesicht geschnitten. Natürlich kannst du das jetzt nicht mehr erkennen, weil er so alt ist. Aber als er ein junger Mann war… Also, ich hab gleich gesehen, daß du ihm nachgerätst. Dem Aussehen nach bist du eine richtige Townsend.«
Während sie sprach, sah ich zur Uhr auf dem Kaminsims. Sie tickte nicht mehr. Ich saß wie erstarrt, die Finger so fest in die Armlehnen des Sessels gedrückt, daß sie mir wehtaten.»Ein Glück, daß du nur das Aussehen von den Townsends geerbt hast«, fuhr Großmutter fort.
Ihre Stimme klang plötzlich gedämpft, wie durch Watte. Obwohl ich mich an die Sessellehnen klammerte, spürte ich, wie das Zimmer schwankte und sich um mich zu drehen begann. Großmutter verschwamm vor meinem Blick. Ihre Stimme wurde immer schwächer, und bald konnte ich nur noch die Bewegungen ihrer Lippen sehen, ohne zu hören, was sie sprach. Ein kalter Lufthauch wehte ins Zimmer, Schatten tanzten an den Wänden. Ich starrte ungläubig meine Großmutter an, die ruhig in ihrem Sessel saß und schwatzte und strickte, während das ganze Zimmer in wilder Bewegung war und immer kälter wurde.
Der kalte Wind blies heftiger. Ich sah jetzt unbestimmte Gestalten aus den Wänden hervortreten. Sie umkreisten mich, kamen und gingen wie die Figuren eines Karussells. Sie wurden groß und schrumpften wieder, sie drängten zu mir und zogen sich wieder zurück, und die ganze Zeit drehte sich das Wohnzimmer schwankend um mich wie in einem verrückten Tanz. Ich sah mich im Sog eines gewaltigen Strudels, der mich immer tiefer in sich hineinzog. Der Schweiß brach mir aus allen Poren, Schwindel und Übelkeit überwältigten mich. Wie eine Ertrinkende klammerte ich mich an den Sessel, und dennoch fiel ich taumelnd immer tiefer, hinunter in den Abgrund. Die dunklen Gestalten drängten sich dichter um mich, umringten wie wartend meinen Sessel, während die Gefühle von Schwindel und Übelkeit immer stärker wurden. Ich wollte sprechen, nach meiner Großmutter rufen, aber sie war jetzt weit weg von mir — eine winzige Frauengestalt, die am anderen Ende dieses ungeheuer großen Raums in einem winzigen Sessel saß und strickte. Ich wußte, daß sie mich nicht hören würde.
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