Als die Schatten schließlich so nahe waren, daß ich glaubte, sie würden mich berührten, verschmolzen sie alle zu undurchdringlicher Schwärze, die sich wie ein erstickendes Tuch über mich legte.

Als ich die Augen öffnete, sah ich als erstes, daß das Zimmer ruhig geworden war. Der wilde Tanz hatte aufgehört. Blinzelnd sah ich mich um. Alles war so wie immer, nichts hatte sich verändert. Mir gegenüber saß meine Großmutter, strickend und schwatzend. Neben uns war das Gasfeuer im offenen Kamin. Und auf dem Sims tickte die Uhr. Es war gerade fünf Minuten nach neun.»Habt ihr auch etwas davon mitbekommen?«fragte meine Großmutter, ohne aufzublicken.

«Ich — wovon?«Ich wischte mir mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Mein T-Shirt war feucht.

«Von den Jubiläumsfeierlichkeiten für die Königin. Haben sie die bei euch im Fernsehen gezeigt?«Großmutter sah auf.»Es würde mich interessieren, was du — Andrea, was ist denn? Geht's dir nicht gut?«

«Doch, doch… Ich hab — ich war nur eingeschlafen. Darum habe ich dich nicht gehört.«

«Das macht doch nichts, Kind. Wir haben morgen noch Zeit genug zum Schwatzen. Es ist sowieso Zeit, schlafen zu gehen. «Verzweifelt sah ich zu, wie sie schwerfällig aufstand. Ich wollte ihr sagen, was mir geschehen war, wollte mich samt meinen Ängsten ihr anvertrauen. Aber meine Zunge gehorchte mir nicht. Ich konnte nur dasitzen und sie stumm anstarren. Sie packte ihr Strickzeug weg, hängte den Beutel über die Sessellehne und kam zu mir, um mir einen Kuß auf die Wange zu geben.»Es ist schön, daß du da bist«, sagte sie leise.»Gott segne dich dafür, daß du gekommen bist.«

«Gute Nacht, Großmutter«, sagte ich schwach.

«Gute Nacht, Kind. Du weißt, wie du das Gas höher drehen kannst, falls du frieren solltest?«

«Ja. «Ich stand auf und ging mit ihr bis zur Tür. Als sie draußen war, schloß ich die Tür fest hinter ihr und lehnte mich erschöpft dagegen, das Gesicht an das kalte Holz gedrückt. Ich konnte nicht begreifen, was mir da eben geschehen war; was diesen beängstigenden Aufruhr verursacht hatte. Es war, als wäre ich in einen Zusammenprall der Zeiten geraten, als hätten sie zurückkommen wollen und wären, vielleicht durch die Anwesenheit meiner Großmutter, daran gehindert worden, so daß, wie bei einem rasch strömenden Fluß, dem sich plötzlich ein Damm entgegenstellt, ein Rückstau mit tausend Wirbeln und Strudeln entstanden war, in die ich hineingerissen worden war. Mir war immer noch übel von den rasenden Kreisbewegungen, und meine Beine waren so schwach, daß ich fürchtete, ich würde nicht einmal den Weg zum Sessel zurück schaffen. Jetzt, da die Kälte aus dem Zimmer gewichen war, war mir noch heißer als zuvor, und mein Gesicht brannte wie im Fieber. Als ich mich von der Tür abwandte, um zum Kamin zu gehen und das Gas herunterzudrehen, fand ich mich unversehens John Townsend gegenüber.

Mit einem unterdrückten Aufschrei wich ich zur Tür zurück. Er rührte sich nicht. Mit einem Glas Brandy in der Hand stand er in der Mitte des Zimmers und sah immer wieder auf die Uhr. Er schien ungeduldig zu sein, als erwarte er jemanden. Und welches Jahr haben wir jetzt? fragte ich mich, das Gesicht glühend heiß vom prasselnden Feuer, das im Kamin brannte. Die Scheite waren hoch aufgeschichtet und leuchteten weiß und rot im Spiel der Flammen, die bis in den Abzug hinauf loderten. Im Widerschein des flackernden Feuers wirkten Johns eigentlich weiche und sanfte Gesichtszüge schroffer als sonst. Sein Haar, das nicht so dunkel war wie Victors, hatte den Glanz polierter Kastanien, und in den warmen braunen Augen schimmerte es golden.

Ich war erstaunt, daß ich überhaupt keine Furcht verspürte, nur Neugier, was ich diesmal erleben würde. Das Zimmer sah aus wie am Abend zuvor; nichts hatte sich, soweit ich sehen konnte, inzwischen verändert. In der Vitrine standen dieselben Nippessachen, die Möbel wirkten neu, die Tapete war noch sauber und hell.

Als John plötzlich den Kopf hob und mich direkt ansah, stockte mir der Atem.

«Wo bist du gewesen?«fragte er ärgerlich.

Ich drehte den Kopf zur Seite und sah zu meiner Verblüffung Harriet neben mir stehen. Wie sie hereingekommen war, war mir schleierhaft, da ich doch immer noch an der Tür lehnte. Und dennoch stand sie neben mir, ein junges Mädchen aus Fleisch und Blut, das hätte ich schwören können. Sie war ein wenig älter als das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte fünfzehn, vielleicht sogar sechzehn, und der Schnitt ihres Kleides mit den Puffärmeln verriet mir, daß sich die Mode inzwischen geändert hatte.»Eben war der Postbote hier«, sagte sie, und ihre Stimme klang so klar und deutlich, als hätte sie in der Tat direkt an meiner Seite gestanden.»Victor hat geschrieben.«

Ihr Gesicht und die Bewegungen ihrer Hände verrieten eine eigentümliche Erregung, aber ich hatte den Eindruck, daß John sie nicht bemerkte. Harriet hielt sich sehr steif und gerade, ihre Gesten wirkten abgehackt, und sie sprach, als hätte sie Mühe, ihre Stimme zu beherrschen.»Victor? Gib mir den Brief.«

«Er ist an Vater adressiert.«

«Ich lese ihn vorher. Komm, Harriet, gib her. «Sie ging zu ihm und reichte ihm den Brief. Mir fiel auf, daß sie gleichzeitig mit der anderen Hand eine Bewegung machte, sie verstohlen hinter ihren gebauschten Rock schob und dabei den Körper ein klein wenig drehte, als wolle sie etwas vor ihrem Bruder verbergen.

Dann sah ich es. In der anderen Hand hielt sie einen zweiten Brief, den sie jetzt, als John den Blick auf Victors Schreiben richtete, hastig in eine Tasche ihres Rocks schob.»Was schreibt er?«fragte sie ein wenig zu laut. John las schweigend weiter, dann reichte er Harriet den Brief.»Hier, lies selbst. Schreibst du ihm, Harriet?«

«Natürlich. Wenn es schon von euch keiner tut. «Sie nahm den Brief und las begierig.»Ach, John!«rief sie dann bestürzt.» Er will nach Edinburgh gehen.«

«Nur wegen dieses Lister«, sagte ihr Bruder und wandte sich zum Feuer.»Wegen dieses Emporkömmlings.«

«Mr. Lister ist ein großartiger Arzt, John. Er hat die Königin betreut, als sie sich der Armoperation unterziehen mußte. Er ist kein Emporkömmling.«

«Vor zehn Jahren war man in London noch bereit, ihn fallenzulassen, falls du dich erinnerst, wegen seiner Befürwortung der Vivisektion und der Unverschämtheit, die er sich der medizinischen Fakultät gegenüber erlaubte. Er hat das King's College praktisch als mittelalterlich bezeichnet.«

«Dazu kann ich nichts sagen, John, aber diesem Brief nach zu urteilen hat Mr. Lister Victor davon überzeugt, daß es für ihn das beste sein wird, nach Schottland zu gehen.«

«Und außerdem ist er Atheist.«

Harriet schüttelte den Kopf, während sie weiterlas.»Mr. Lister ist Quäker, John. Nur weil man nicht der englischen Staatskirche angehört, ist man noch lange kein Atheist. Oh, aber hier schreibt Victor von Experimenten. Von Forschung!«Entsetzt sah sie John an.»Ich dachte, er wollte Arzt werden, nicht Wissenschaftler.«

«Heutzutage gibt es da kaum noch einen Unterschied. Glaub mir, Harriet, Victor weiß nicht, was er will. Wenn du mich fragst, diese ganze Karbolsäure hat ihm das Hirn vergiftet.«

«Aber John!«Sie sah wieder auf den Brief.»Er schreibt, daß er schon eine Anstellung hat und ein gutes Gehalt bekommen wird.«

John verschränkte mit geringschätziger Miene die Arme und lehnte sich an den Kaminsims.

«Wird auch langsam Zeit. Er lebt jetzt immerhin seit drei Jahren von der Krone. Während ich in dem verflixten Stahlwerk schufte, hol's der Teufel. Victor hatte immer schon einen Größenwahn. Ich glaube, er sieht sich bereits als zweiter Louis Pasteur.«

«Aber wäre es nicht wunderbar, wenn er ein Heilmittel gegen eine Krankheit finden würde, gegen die es bisher nichts gibt, John? Die Cholera zum Beispiel.«

«Jetzt verteidigst du ihn plötzlich. Entschließ dich endlich — willst du, daß er nach Schottland geht, oder willst du, daß er heimkommt?«

Sie ließ die Hand mit dem Brief sinken und seufzte.»Ich weiß es ja selbst nicht. Ich hatte gehofft, er würde nach Warrington zurückkommen und sich hier niederlassen. Aber wenn er in Schottland glücklicher ist — «

«Wer kann in dem gottverlassenen Land glücklich sein?«Harriet drehte sich plötzlich um, als hätte sie ein Geräusch gehört.»Ich glaube, der Fotograf ist hier. Ich sag Mutter Bescheid.«

Sie lief aus dem Wohnzimmer in die Küche, aus der sie gleich darauf mit einer älteren Frau zurückkehrte. Mrs. Townsend, Victors Mutter, war eine stattliche Frau mit wogendem Busen. Ich dachte bei ihrem Anblick und ihren Bewegungen unwillkürlich an eine Dampfwalze. Sie trug ein schwarzes Kleid mit hohem Kragen und einer voluminösen Turnüre. Das Gesicht der Frau wirkte hart. Ihm fehlte jeder Reiz, und sie tat offensichtlich nichts, um es zu verschönern. Auf dem zum Knoten gedrehten vollen Haar saß ein kleines weißes Häubchen, das ihr das Aussehen einer Königin Victoria in Übergröße verlieh.

Ich hörte stolpernde Schritte und lautes Poltern an meiner Seite, und als ich den Kopf drehte, sah ich den Fotografen eintreten, einen maulwurf sähnlichen Mann mit buschigem Schnurrbart und ölgeglättetem Haar. Ächzend und stöhnend schleppte er mehrere unhandliche Kästen ins Wohnzimmer.

«Sie sind sehr pünktlich, Mr. Cameron«, sagte Mrs. Townsend lobend.»Mein Mann wird sofort herunterkommen.«

«Wir werden gleich alles vorbereitet haben, Madam. Heimporträts sind mein Geschäft, da habe ich Übung im schnellen Aufstellen der Geräte.«

Gemeinsam sahen wir zu, wie Mr. Cameron flink wie ein Wiesel seine Geräte in der Mitte des Zimmers aufstellte. Erst kam das dreibeinige Stativ, dann folgte die ziehharmonikaähnliche Kamera mit dem weit herabfallenden schwarzen Tuch. Nachdem er den Apparat auf dem Stativ befestigt hatte, klappte er einen zweiten Kasten auf, der Holzkassetten, Metallplatten und viele sauber etikettierte Flaschen enthielt. Mit Johns Hilfe rückte er dann das Sofa von der Wand weg und stellte seinen Fotoapparat ein.»Wenn die Herrschaften sich jetzt bitte hinter dem Sofa aufstellen würden? Das Plakat gibt einen schönen Hintergrund ab. Es stammt wohl von der großen Ausstellung?«

«Ich höre meinen Mann kommen«, sagte Mrs. Townsend, während sie sich mit ihren voluminösen Röcken etwas mühsam in den kleinen Raum hinter dem Sofa zwängte.

Ich drehte mich gerade rechtzeitig um, um Victors Vater eintreten zu sehen, einen großen, schweren Mann, der noch dabei war, seinen steifen Kragen zu knöpfen. Er wirkte streng und furchterregend in seiner schwarzen Kleidung. Selbst das Halstuch unter dem weißen Kragen war schwarz. Das Auffallendste an seinem Gesicht waren der breit ausladende, steif gezwirbelte Schnauzbart, der wie aus Holz geschnitzt aussah, und die tiefe Furche zwischen den dunklen Augenbrauen. Es konnte keinen Zweifel daran geben, daß dies Victors Vater war, ein gutaussehender und imposanter Mann.»Dann mal los«, sagte er mit dröhnender Stimme in kaum verständlichem Londoner Cockney.

Die Familie stellte sich in Positur — Harriet und John vorn, die Eltern hinter ihnen, jedoch so postiert, daß keiner den anderen verdeckte. Hinter der Gruppe prangte farbenfroh das Reklameplakat von >Wylde's Großem Globus<, der angeblich ein >Wunder moderner

Zeiten< war, fast zwanzig Meter im Durchmesser maß und zahlreiche Ausstellungsräume vorweisen konnte, so daß eine Besichtigung mehrere Stunden in Anspruch nahm. Das Plakat trug kein Datum, doch ich vermutete, daß es eine Erinnerung an glückliche Stunden war.

Mr. Cameron arbeitete schnell und geschickt, tauchte unter das schwarze Tuch, sprang wieder darunter hervor, bis er endlich mit der Schärfeneinstellung des Apparats zufrieden war. Dann schob er zwei Platten in den Apparat, tauchte ein letztes Mal unter das schwarze Tuch und sagte:»Ich lösche jetzt die Lichter. Bitte rühren Sie sich nicht. Bleiben Sie genauso, wie Sie sind. Keine — Bewegung jetzt..«

Nachdem Mr. Cameron eine genau bemessene Menge Magnesium in den Metallbehälter gestreut hatte, den er in einer Hand hielt, drehte er die Gaslampen herunter, bis der Raum fast im Dunkeln lag. Im schwachen Lichtschein, der sich zwischen den Vorhängen hindurchstahl, konnte ich sehen, wie er den Deckel vom Objektiv nahm, die Holzkassette aus der Kamera schob, ein Schwefelholz anriß und das Magnesiumpulver entzündete. Es gab einen hellen Blitz, dann erfüllte dichter, beißender Rauch das Zimmer. Die Townsends hüstelten ein wenig. Mr. Cameron drückte rasch den Deckel wieder auf das Objektiv, schob die Holzkassette wieder über die Kupferplatte und machte Licht. Die vier hinter dem Sofa wischten sich Aschestäubchen mit Ärmeln und Taschentüchern von den Gesichtern, während Mr. Cameron die Kassette herumdrehte und noch einmal Pulver in den Metallbehälter gab.