Victor lehnte am Kaminsims und blickte grüblerisch ins Feuer. Er schien bedrückt von seinen Gedanken, beunruhigt von dem, was er in den Flammen sah. Am liebsten hätte ich ihn angesprochen und gefragt, was ihn bekümmere.
Und angenommen, ich spreche ihn tatsächlich an? fragte ich mich plötzlich. Würde er mir antworten?
Ich bekam keine Gelegenheit, die Probe darauf zu machen. Im selben Moment nämlich hob Victor den Kopf und blickte zu einem Punkt im Zimmer, der sich hinter mir befand. Ich spürte einen kalten Luftzug, hörte das Klappen der Tür, die hinter mir geschlossen wurde. Es war jemand hereingekommen. Ich blieb starr und steif in meinem Sessel vor Angst, daß eine Bewegung von mir die Szene stören, mich dieses Augenblicks mit Victor Townsend berauben könnte. Als sein Vater in Erscheinung trat und dicht neben mir stehenblieb, hielt ich den Atem an. Ernst und schweigend sahen die beiden Männer einander an. Jeder schien genau abzuwägen, was er sagen wollte, und beide Gesichter zeigten Traurigkeit.
Victor sprach schließlich als erster.»Ich bin gekommen, um Abschied zu nehmen, Vater, und dich um deinen Segen zu bitten. «Der ältere Townsend stand gespannt, die Hände an seinen Seiten zu Fäusten geballt, wie um sich heftiger Gemütsbewegung zu erwehren. Ich blickte zu ihm auf, verwundert, daß er so dicht neben mir stand und mich doch nicht wahrnahm. Sein Gesicht war starr, die Lippen blutleer. Ich sah wieder den Sohn an. Sein Blick hing an den Lippen seines
Vaters, seine ganze Haltung drückte hoffnungsvolle Erwartung aus. Was ging hinter diesen dunklen Augen vor? Trug er einen ebenso erbitterten Kampf mit sich aus wie sein Vater? Mir erschienen sie beide wie verbissene Streiter, die in einen Machtkampf verstrickt waren, der nie hätte sein müssen. Wenn nur einer von ihnen seinen Stolz besiegt hätte, wenn nur einer von ihnen -
«Du wagst es, mich um meinen Segen zu bitten, obwohl du gegen meine Wünsche gehandelt hast?«Die Stimme des Vaters war heiser und gepreßt.
Doch Victor blieb hart. Während er seinen Vater ruhig und unverwandt ansah, fühlte ich mich plötzlich von einer Flut heftiger und starker Gefühle überschwemmt. Diese Leidenschaft, die sowohl von Victor als auch von seinem Vater ausging, erfüllte den ganzen Raum und senkte sich wie eine schwere Wolke über mich. Wellen von Liebe und Verehrung, von Enttäuschung und Zurückweisung überfluteten mich. Diese beiden stolzen Männer, die beide an den Qualen ihrer Liebe zum anderen litten, füllten mich mit ihrem schmerzlichen Konflikt. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte ihnen gesagt, daß ihr Eigensinn kindisch war, daß ihre gegenseitige Zuneigung das einzige war, was zählte, daß sie diesen Schmerz nicht ertragen müßten, wenn nur einer von ihnen einen Moment lang seinen Stolz vergessen könnte. Aber ich konnte mich nicht einmischen, denn das, was hier geschah, war schon geschehen. Ich war Zeugin eines Ereignisses, das nahezu hundert Jahre zuvor stattgefunden hatte. Ich konnte es nicht ändern. Ich durfte beobachten, aber ich durfte nicht eingreifen.
«Es tut mir leid, daß du mich nicht verstehst, Vater«, sagte Victor, und seine Stimme verriet, daß er nicht mehr auf Verständnis hoffte.»Ich möchte ans Königliche Krankenhaus, um dort zu unterrichten und zu forschen, wie Mr. Lister das tat, denn ich bin der Überzeugung, daß ich an dieser Stelle gebraucht werde und daß das meine Berufung ist.«
«Gebraucht wirst du hier!«rief der ältere Townsend.»Hier, bei deiner Familie, in deinem Zuhause. Aber du willst nach Schottland und fremde Leben retten, wenn deine eigenen Leute dich brauchen.«
«Es gibt Ärzte genug in Warrington, Vater, und wenn ich mein Diplom bekomme, werde ich direkt — «
«Meinetwegen kannst du direkt zum Teufel gehen! Jemand, der sich keinen Deut um das Wohl seiner eigenen Familie schert, kann nicht mein Sohn sein! John ist geblieben und ist uns ein Segen des Herrn. Er allein gehorchte den Wünschen seines Vaters.«
«Ich muß mein eigenes Leben leben, Vater«, erwiderte Victor mit großer Selbstbeherrschung.
«Ja, und um das zu tun, mußt du deiner Familie den Rücken kehren. Ich war von Anfang an dagegen, daß du so ein Quacksalber wirst. Aber nun, wo du es doch durchgesetzt hast, solltest du wenigstens nach Hause kommen und bei denen bleiben, die dich lieben. Aber ich werde dich nicht bitten. O nein! Ich werde dich nicht bitten, und ich werde mich auch nicht weiter mit dir herumstreiten. Du wirst dich eines Tages dafür verantworten müssen, was du getan hast — Leichen aufschneiden und deine Nase in Dinge stecken — «
«Dann leb wohl, Vater. «Victor bot seinem Vater die Hand. Sein Gesicht war bleich und wirkte im flackernden Feuerschein sehr hart.
Der ältere Townsend schien einen Moment unschlüssig, hin und her gerissen zwischen Liebe und Stolz, dann machte er ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Zimmer.
Victor stand da wie versteinert, den Arm noch ausgestreckt, um dem Vater die Hand zu reichen, das Gesicht sehr bleich. Als er schließlich verschwand, und das lodernde Feuer wieder dem Gasgerät gewichen war, schlug ich überwältigt die Hände vor das Gesicht.
«Ja?«sagte Großmutter plötzlich und fuhr aus dem Schlaf.»Ja, was ist?«
Ich wandte mich von ihr ab und wischte mir die Augen.»Oh, ich muß eingeschlafen sein. Lieber Gott, wie spät es schon ist! Ich kann doch nicht hier rumsitzen und dösen, da krieg ich ja die ganze Nacht kein Auge zu. Ach du lieber Schreck, ich hab mein Strickzeug fallenlassen, und die ganze Wolle hat sich verheddert. «
Ich drängte die Tränen zurück und tröstete mich mit dem Gedanken, daß Victors Leiden an der Zurückweisung des Vaters, den er so geliebt hatte, längst vorbei war. Mit einem etwas mühsamen Lächeln wandte ich mich meiner Großmutter zu.»Wie ist das Buch?«fragte sie.
«Gut. «Meine Stimme war unsicher.»Ich glaube, ich bin auch eingenickt.«
Ich sah auf die Uhr. Nur eine Minute war vergangen über der Konfrontation Victors mit seinem Vater. Ich lauschte dem vertrauten Ticken, und die Uhr schien mir zu flüstern» vergangen, vergangen, vergangen«. Ich erkannte, daß während meiner Begegnungen mit der Vergangenheit die Zeit der Gegenwart keine Gültigkeit hatte. Da ich jetzt wußte, daß das Aussetzen der Uhr zugleich das Signal zum Eintritt in die Vergangenheit war, wurde mir klar, daß dies gewissermaßen die Brücke zwischen den beiden Zeitaltern war. Die Uhr war eine Art Schaltwerk, das den Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit vollzog. Aber die Zeit der Gegenwart schien stillzustehen. Sie bewegte sich träge fort, während die Vergangenheit vor meinen Augen ihren normalen Gang nahm. Oder war ich es, die stillstand und im Stillstehen den Verlauf der Ereignisse von gestern wahrnahm? Es spielte keine Rolle. Es war ein Rätsel, das nicht zu lösen war. Was auch immer in diesem Haus vorging, was auch immer das für ein Plan war, in den ich eingebunden worden war, er mußte seinen Lauf nehmen, ohne Rücksicht auf das Warum, das Wie und das Wozu.
Kapitel 8
William und May trotzten dem Nebel und kamen auf eine Stippvisite bei uns vorbei. Großmutter, die im Lauf des Spätnachmittags etwas traurig gewesen war, weil keiner Großvater besuchen würde, wurde sogleich wieder heiterer. William und May wollten sich vom schlechten Wetter nicht von ihrem gewohnten Abendbesuch im Krankenhaus abhalten lassen.»Möchtest du mitkommen, Andrea?«
Ich nickte nachdrücklich. Ich mußte eine Weile hinaus aus diesem Haus. Ich brauchte frische Luft und Tapetenwechsel und die Gesellschaft anderer Menschen. Zum erstenmal war ich froh um meine Verwandten.
«Ich weiß nicht, Andrea«, sagte Großmutter zweifelnd, während sie mir die Hand auf die Stirn legte.»Ich glaube, du brütest eine Erkältung aus.«
«Ach wo! Mir geht's gut.«
«Sie hat den ganzen Tag Kopfschmerzen gehabt, und gestern auch schon. Ich glaube, das ist die Feuchtigkeit.«
Nun fühlte sich auch May genötigt, mir die Hand auf die Stirn zu legen.»Fieber scheint sie keines zu haben. Möchtest du mitkommen, Andrea?«
«Ja, sehr gern.«
«Also gut«, meinte Großmutter seufzend.»Aber zieh dich richtig an. Im Radio haben sie gesagt, daß ein Sturm aufzieht.«
«Ich geh schon voraus und wärm den Wagen ein bißchen vor«, sagte William, während er wieder in seine dicke Jacke schlüpfte und den Wollschal umlegte.»Komm erst raus, wenn du fertig angezogen bist. Ich mach dir dann gleich die Tür auf. Da bekommst du von der Kälte gar nichts mit.«
Aber ich hatte mich inzwischen so sehr an die Kälte gewöhnt, daß ich all die warmen Verpackungen gar nicht brauchte, die Großmutter mir aufdrängte. Im Gegenteil, das Wohnzimmer war mir schon den ganzen Nachmittag muffig und überheizt erschienen, und mehrmals wäre ich am liebsten aufgesprungen und hätte die Tür aufgerissen. Dennoch packte ich mich unter der mütterlichen Fürsorge Großmutters so warm ein, wie sie es wünschte und als ich schließlich in Jacke, Mantel, Wollmütze und Fäustlingen dastand, hatte ich nur noch den Wunsch, so schnell wie möglich hinauszukommen. Aber an der Haustür wurde ich aufgehalten. In dem Moment, als ich den Fuß über die Schwelle setzen wollte, überfiel mich ein so starkes Schwindelgefühl, daß ich mich am Türpfosten festhalten mußte, um nicht zu stürzen.»Was ist denn, Kind?«hörte ich Mays Stimme von weither. Die nebelwallende Straße schwankte vor meinen Augen, bewegte sich in wilden Wellenbewegungen auf mich zu und wich wieder zurück. In weiter Ferne stand ein winziger William neben einem winzigen Auto. Es war, als sähe ich ihn durch eine konkave Linse. May war an meiner Seite, ich sah, wie ihre Lippen sich bewegten, aber ich hörte nichts. Der Boden unter meinen Füßen bewegte sich wie bei einem Erdbeben. Ich umklammerte die Tür, um Halt zu finden, während der Boden unter mir absackte und mir der Magen bis zum Hals hinaufsprang wie auf einer Achterbahn.
Als ich mit dem Kopf auf den harten Holzboden aufschlug, hörte der Schwindel schlagartig auf, und ich starrte benommen zur Decke hinauf.
«Mein Gott, mein Gott!«hörte ich Großmutter voller Entsetzen rufen.»Sie ist ohnmächtig geworden.«
Drei erschrockene Gesichter neigten sich über mich, dann wurde ich vom Boden aufgehoben. William nahm mich in seine kräftigen Arme und zog mich hoch. Ich hing wie eine Lumpenpuppe an ihm. Großmutter und May gingen händeringend und o Gott, o Gott rufend neben uns her, während William mich durch den Flur ins Wohnzimmer schleppte.
Dort setzte er mich in einen Sessel und schälte mich schnell und etwas grob aus den dicken Kleidern.
Als ich wieder ganz bei Besinnung war, sah ich, daß ich vor dem Gasofen saß, der voll aufgedreht war. Um meine Beine lag eine dicke Decke und Großmutter hielt mir eine Tasse Tee hin.»Es ist schon wieder gut«, sagte ich schwach.»Es war die Hetze. Weil alles so schnell gehen mußte und — «
«Unsinn!«Großmutter schlug mir auf den Arm.»Du hast die Grippe, das seh ich doch. Trink jetzt deinen Tee, komm.«
«Geht es dir wirklich wieder gut, Andrea?«fragte May besorgt.»Wir können den Arzt holen — «
«Nein, nein. Es ist nichts — wirklich nicht. Es war nur die Aufregung. Gott, ist das heiß hier. «Ich wollte die Decken wegziehen, aber Großmutter ließ es nicht zu.»Du hast Fieber«, fuhr sie mich an.
May legte mir ihre Hand auf Stirn und Wangen und entgegnete:»Nein, Mutter, das stimmt nicht. Ganz im Gegenteil, sie ist sehr kalt. Weißt du, was das zu bedeuten hatte, William?«William zuckte die Achseln.»Nach einer Ohnmacht ist das oft so, glaube ich. Also die Grippe hat sie sicher nicht. Es muß was anderes sein.«
«Doch, sie hat die Grippe. Sie hat sich erkältet«, behauptete Großmutter unerschütterlich.»Und sie geht mir heute nicht aus dem Haus.«
Ich kuschelte mich tiefer in den Sessel und starrte trübe in meine leere Teetasse. Großmutter hatte keine Ahnung, wie wahr ihre Worte waren. Ich würde nicht aus dem Haus gehen, weil dieses Haus es mir nicht gestattete. Ich war seine Gefangene. Die Macht, die hier wohnte, brauchte mich noch. Drei Besuche bei meinem Großvater waren mir erlaubt worden, doch heute abend durfte ich nicht gehen. Vielleicht morgen…
Diesen letzten Gedanken hatte ich offenbar laut ausgesprochen, denn jetzt sagte William:»Wir werden sehen, Kind. Es kommt ganz darauf an, ob es dir besser geht. Im Moment muß ich jedenfalls Mama recht geben. Du gehörst ins Bett. May, ich glaube, wir fahren jetzt lieber, sonst ist die Besuchszeit vorbei.«
«Aber wenn es etwas Ernstes ist, Will! Sie haben hier kein Telefon.«
«Dann kommen wir eben nach dem Besuch bei Vater noch einmal vorbei. Wenn Andrea einen Arzt braucht, wird sie es uns ja sagen, nicht wahr, Kind?«Ich nickte schwach.
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