Nachdem sie gegangen waren, zog Großmutter die Decke vom Sofa und legte sie mir um die Schultern. Mir war so heiß, daß ich hätte schreien können, und wenn mich auch

Großmutters Besorgnis um mich rührte, so wäre es mir doch am liebsten gewesen, sie hätte mich endlich allein gelassen, damit ich in die Vergangenheit hätte zurückkehren können. Wenn es für mich nur ein Mittel gegeben hätte, das Erscheinen dieser Menschen, die mich so faszinierten, heraufzubeschwören. Aber diese Möglichkeit gab es nicht.

Der Abend zog sich fast unerträglich in die Länge. Großmutter strickte zufrieden, warf mir ab und zu einen Blick zu, stand mehrmals auf, um meine Stirn zu fühlen. Als endlich William und May zurückkehrten, nutzte ich die Gelegenheit, um mich von den Decken zu befreien.

Großmutter schenkte Tee ein, während sie von ihrem Besuch bei Großvater berichteten.

«Er war richtig lebhaft heute abend. Wir haben uns gut unterhalten mit ihm, auch wenn wir kaum was verstanden haben…«Ich stand auf und sammelte die Wäschestücke ein, die ich am Morgen gewaschen und auf Großmutters Rat hin in der Nähe des Gasfeuers aufgehängt hatte. Sie waren mittlerweile alle trocken, und ich wollte sie nach oben bringen.

«Warte, warte!«rief Großmutter.»Wo willst du denn hin?«

«Meine Sachen sind trocken. Ich will sie nur hinaufbringen — «

«Kommt nicht in Frage. William kann sie dir rauftragen. Du bleibst hier unten, wo's warm ist.«

«Aber Großmutter — «

«Andrea«, sagte May behutsam,»vergiß nicht, daß du vorhin ohnmächtig geworden bist.«

«Aber es geht mir doch wieder gut. «Ich drückte Jeans und T-Shirts schützend an mich.

«Laßt sie doch selbst hinaufgehen, wenn sie sich wieder wohl fühlt«, meinte William.»So schlimm ist das doch nicht.«

«Na ja…«meinte Großmutter widerstrebend. Ehe sie es sich anders überlegen konnte, eilte ich zur Tür. Bevor ich sie öffnete, hörte ich Großmutter zu William sagen:»Also — hat der Arzt etwas gesagt, wann Vater nach Hause kommen kann?«

William beugte sich vor, um ihr zu antworten. Er öffnete den Mund, aber ich hörte keinen Laut. Ich sah zur Uhr. Sie tickte nicht mehr.

Gespannt blieb ich an der Tür stehen und wartete auf das Erscheinen der anderen. Ich wartete darauf, daß Großmutters billiger Schonbezug vom Sofa verschwinden und im Kamin ein Holzfeuer aufflammen würde. Aber nichts veränderte sich. Wo waren sie?

Großmutter, William und May saßen am Tisch bei ihrem Tee, ohne zu sprechen, ohne sich zu bewegen. Wieder sah ich zur Uhr. Sie tickte noch nicht wieder. Aber es geschah nichts.»Wo seid ihr?«flüsterte ich.

Schließlich riß ich die Tür auf und rannte in den Flur hinaus. An der ersten Treppenstufe stolperte ich und ließ meine Wäsche fallen.»Wartet«, flüsterte ich.»Wartet auf mich. «Hastig sammelte ich die Sachen auf und lief die Treppe hinauf. Oben lehnte ich mich erst einmal schwer atmend an die Wand. Obwohl mein Atem in kleinen Wölkchen vor mir aufstieg, spürte ich die Kälte nicht. Als ich wieder etwas zu Atem gekommen war, suchte ich im Dunkeln nach dem Schalter und machte Licht. In der trüben Beleuchtung konnte ich erkennen, daß die Tür des vorderen Schlafzimmers einen Spalt offenstand. Ich starrte sie mit Furcht und Entschlossenheit an.»Ja«, flüsterte ich und ging langsam auf sie zu. An der Türschwelle blieb ich stehen und spähte ins Zimmer. Es war dunkel und leer. Nichts Böses erwartete mich. Keine unsichtbaren Mächte. Keine verborgenen Schrecknisse. Es war bloß ein dunkles Zimmer. Ich knipste das Licht an.

Alles war so, wie ich es am Morgen nach dem Bad zurückgelassen hatte. Das Bett, die Vorhänge, meine Toiletten Sachen auf dem Sessel, meine Kleider im Schrank. Ich hielt inne. Der Schrank.

Mit dem Schrank stimmte etwas nicht.

Langsam ging ich auf ihn zu, ohne den Blick von ihm zu wenden, von der Maserung des dunklen Eichenholzes und den kleinen Messingbeschlägen. Und als ich vor ihm stehenblieb, hatte ich das unheimliche Gefühl, genau das schon einmal getan zu haben. Dann kam das Entsetzen. Ich spürte, wie die Atmosphäre umschlug. Ich brauchte nichts zu sehen, um zu wissen, daß sich etwas veränderte. Es drang etwas ins Zimmer ein, etwas, das eben noch nicht hiergewesen war. Es war das gleiche böse Fluidum wie am Abend zuvor. Wie ein ekelhafter Gestank kroch es aus den Ritzen des Kleiderschranks, stieg an mir hoch und umhüllte mich, tauchte mich in ein Entsetzen, dem ich nicht entrinnen konnte. Jetzt wollte ich fliehen.

Wie festgenagelt stand ich vor dem Schrank und hatte nur den einen Gedanken, mich loszureißen und vor der satanischen Macht davonzulaufen, die dieses Haus umklammerte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich wie gebannt auf den Schrank. Ich lauschte. Jeder Muskel meines Körpers war angespannt. Ich zitterte unkontrollierbar. Aber ich konnte nicht davonlaufen. Aus dem Schrank drang ein Geräusch zu mir.

«O Gott«, wimmerte ich.»Bitte…«Im Schrank regte sich etwas. Wie von selbst hob sich mein Arm.»Nein!«flüsterte ich entsetzt.

Wie von selbst griff meine Hand nach dem Messingknauf und umschloß ihn. Und da wußte ich es. Was immer sich auch in dem Schrank verbarg, ich würde es herauslassen. Wie von selbst begann meine Hand, den Knauf zu drehen.»Andrea!«

Als hätte sie einen Schlag bekommen, fiel meine Hand herunter, und als wären die Bande, die mich an diesen Ort gefesselt hatten, plötzlich durchtrennt worden, taumelte ich nach rückwärts und fiel über das Bett. Ich sah die Schweißtropfen, die von meiner Stirn auf meine Arme herabfielen.

«Andrea!«rief William wieder von unten herauf.»Ist alles in Ordnung?«

«Ja!«rief ich heiser zurück und räusperte mich.»Ja, alles in Ordnung, Onkel William. Ich komm gleich runter.«

«Wir gehen jetzt.«

«In Ordnung. Ich komme.«

Irgendwie fand ich die Kraft, vom Bett aufzustehen. Meine Beine konnten mich kaum tragen. Das, was vorübergehend von meinem Körper Besitz ergriffen hatte, hatte ihn aller Kraft beraubt. Ich sah an meinem T-Shirt herunter. Es klebte feucht auf meiner Haut. Hastig zog ich das nasse Hemd aus und schlüpfte in ein frisches. Die Wäsche, die ich mit heraufgebracht hatte, ließ ich liegen, wo sie war, rannte zur Tür, knipste das Licht aus und lief in den Flur hinaus, die Treppe hinunter in den Korridor, wo William und May standen und gerade ihre dicken Jacken zuknöpften.»Wenn der Nebel morgen weg ist, besuchen wir euch vielleicht. Vorausgesetzt natürlich, daß der schwere Sturm, der aus Norden gemeldet wird, nicht hier aufkreuzt«, sagte May, während sie sich ihren Schal umlegte.»Hör mal, Andrea, wenn du Lust hast, zu uns herüberzukommen, zum Fernsehen oder um zu telefonieren oder was sonst, bist du jederzeit willkommen, das weißt du hoffentlich. Ich versteh sowieso nicht, wie du es in diesem zugigen kalten Haus aushältst.«

«Ach, so schlimm ist es gar nicht…«Ich dachte an das Telefon und an meine Mutter. Plötzlich hatte ich überhaupt kein Verlangen, mit ihr zu sprechen.

Nachdem William und May gegangen waren, sperrte ich die Haustür ab und schob die Polsterrolle vor die Ritze. Dann folgte ich Großmutter ins Wohnzimmer. Die erstickende Hitze nahm mir fast den Atem. Ich sah zum Gasfeuer hinunter. Großmutter hatte es auf die niedrigste Stufe gestellt. Nur ein blasses blaues Flackern war auf den Spiralen zu sehen. Und doch betrug die Außentemperatur, wie William gesagt hatte, zwei Grad unter Null.»Wird langsam kalt hier drinnen«, sagte Großmutter und ging sich die Hände reibend zum Kamin.

«Nein«, widersprach ich hastig.»Es ist gerade angenehm.«

«Was? Es ist ausgesprochen kalt, und ich habe drei Pullover übereinander an. Schau dich doch mal an in deinem dünnen Hemdchen mit den kurzen Ärmeln. Wie hast du das nur so lange oben ausgehalten?«

Oben. Der Schrank. Die grauenvolle Angst…»Großmutter — «

«Ja, Kind?«

«Ich-«

Sie sah mich an. Ihre Augen waren trübe. Buschig hingen die weißen Brauen über ihnen. Ihr Gesicht schien um vieles runzliger geworden zu sein, seit ich sie das letztemal richtig angesehen hatte. Sie schien unglaublich gealtert.»Wie geht es Großvater?«fragte ich schließlich.»Ach, nicht besonders, Kind. Ich weiß nicht genau, was ihm fehlt. Der Arzt sagt, es sind seine Gefäße. Die Arterien und Venen sind alle kaputt. Darum kann er nicht mehr gehen und ist meistens verwirrt. Sie können noch nicht sagen, ob sich das wieder bessern wird. Vielleicht kommt er nie wieder nach Hause.«

«Ach, Großmutter, das tut mir so leid. «Und es tat mir wirklich leid. Die Einsamkeit und die Sorge um ihren Mann belasteten Großmutter sehr, das war ihr deutlich anzusehen.»Ja, weißt du, Kind, dein Großvater und ich sind in den zweiundsechzig Jahren unserer Ehe nie getrennt gewesen. Nicht einmal einen einzigen Tag. Und jetzt dauert die Trennung schon Wochen. Ich komme mir so verloren vor ohne ihn. «Sie zog ein Taschentuch heraus und schneuzte sich.»Es ist spät, Kind, und ich bin müde. Ich denke, wir sollten zu Bett gehen.«

«Aber ja, Großmutter.«

Nachdem sie mir einen Gute-Nacht-Kuß gegeben hatte, schloß ich die Tür hinter ihr und schaltete das Gasfeuer aus. Dann setzte ich mich in meinen Sessel und überließ mich meinen Gedanken. Einen Moment lang war ich nahe daran gewesen, meiner Großmutter alles zu sagen, ihr mein Herz auszuschütten, von meinen seltsamen Erlebnissen, meinen Ängsten und bösen Ahnungen zu erzählen. Aber im nächsten Augenblick schon hatte ich die Traurigkeit in ihren Augen gesehen, die tiefe Müdigkeit in ihrem Gesicht und hatte es nicht über mich gebracht, ihr das Herz noch schwerer zu machen.

Aber es gab auch noch einen anderen Grund, der mich in letzter Sekunde bewogen hatte, Großmutter doch nichts zu sagen: Trotz aller Angst und allen Grauens, die ich soeben oben in meinem Schlafzimmer ausgestanden hatte, wurde mein Wunsch nach weiteren

Begegnungen mit meinen toten Verwandten immer stärker. Die Begierde, ihre Geschichte zu erfahren, wuchs ebenso wie meine Neugier, das Ende zu sehen. Die Angst, den >Zauber< zu brechen, wenn ich Großmutter oder sonst jemandem von meinen Erlebnissen etwas sagte, hatte mich veranlaßt zu schweigen. Ich hatte das Gefühl, in eine geheime Gesellschaft aufgenommen worden zu sein, Mitwisserin von Geheimnissen zu sein, von denen zu erfahren kein Außenseiter ein Recht hatte. Ich hatte Angst, den Lauf der Ereignisse zu stören und John, Harriet und Victor vielleicht nie wiederzusehen.

Aber ich mußte sie wiedersehen.

Jetzt lachte ich bei diesem Gedanken. Es ging nicht mehr nur um das Sehen, es ging um viel mehr. Sie hatten mich in ihre Gefühle und Leidenschaften hineingezogen, mich gezwungen, ihr Glück und ihren Schmerz mitzuerleben, wie den Konflikt zwischen Victor und seinem Vater. Die toten Townsends übertrugen ihre Empfindungen und Gefühle auf mich, so daß ich fühlte, was sie fühlten. Ich begann, mich mit ihnen wahrhaft verwandt zu fühlen, eine Verbindung spann sich an, wie ich sie mit keinem anderen je haben konnte. Etwas ganz besonderes. Etwas jenseits dieser Welt und dieses Lebens. Und es war mir schon teuer geworden. So wie mir die Townsends teuer geworden waren, ganz ohne Rücksicht darauf, was sie vielleicht in den kommenden Tagen tun würden. Und werde ich Victor immer noch mögen, dachte ich traurig, wenn ich erst seine schrecklichen Verbrechen mitangesehen habe?

Ich wollte nicht daran denken. Nicht jetzt, da sein Bild noch so frisch vor meinen Augen war, als stünde er leibhaftig vor mir. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Victor Townsend stand tatsächlich vor mir.

Die Hände auf dem Rücken, stand er breitbeinig am Kamin und wippte leicht hin und her, während er mit der Person sprach, die in dem Sessel neben mir saß.

«Ich mußte es riskieren, John«, sagte er.»Ich mußte noch einmal nach Hause kommen, ehe ich nach Edinburgh gehe. In fünf Monaten bekomme ich mein Diplom, dann reise ich von London direkt nach Schottland. Wer weiß, wann wir uns das nächstemal sehen werden.«

«Es kann dir passieren, daß Vater hereinkommt und dich hinauswirft. «

«Ich weiß. Aber er kommt ja selten vor acht aus dem Pub nach Hause. Da bleibt mir wenigstens ein kleines bißchen Zeit mit euch anderen.«

«Mutter will dich auch nicht sehen.«

«Ja, das ist mir klar. «Victor starrte mit düsterer Miene zu Boden.»Sie möchte mich schon sehen, aber sie hat Angst vor Vater.«

«Wir haben alle Angst vor ihm, Victor, nur du nicht. Glaubst du vielleicht, ich wäre nicht lieber auch nach London gegangen und ein feiner Herr geworden wie du? Du sprichst jetzt sogar wie ein echter Akademiker. Kein Mensch würde merken, daß du aus Lancashire kommst. Ach, Victor, du warst der einzige, der den Mut hatte, sich gegen ihn zu stellen. Und dafür bewundere ich dich. «Ich beobachtete Johns Profil. Ein Schatten von Traurigkeit trübte seine Augen, während er seinen Bruder wehmütig ansah.»Ja, ich bewundere dich. Mein Posten im Werk macht mir keine Freude. Aber ich habe keine andere Wahl. Vater würde mich vor die Tür setzen, wenn ich mich ihm widersetzen würde, und ich wüßte nicht, was ich sonst tun sollte. Du hingegen, du Glückspilz, du hast dieses Stipendium bekommen.«