Victor hob den Kopf und lachte. Seine Augen blitzten, und es machte mich glücklich, sein schönes Lächeln zu sehen.»Aber John, du bist doch glücklich und zufrieden mit deinen acht Pfund in der Woche! Außerdem wirst du Vater beerben und ich nicht. Ich gehöre nicht mehr zur Familie.«

«Aber das kannst du doch anfechten! In England — «Victor schüttelte den Kopf.»Das würde ich niemals tun, und das weißt du auch. Das Haus wird eines Tages dir gehören, John. Ich will es gar nicht. Das einzige, was ich brauche, ist mein Mikroskop und eine Schar engagierter Studenten. Beides werde ich in Schottland finden.«

Die Tür flog auf, und ein kalter Luftzug wehte Harriet herein. Dicht hinter ihr folgte Jennifer. Gespannt setzte ich mich auf.

Die beiden Mädchen eilten herein, schlössen die Tür hinter sich, und dann lief Harriet zu Victor und schlang ihm die Arme um den Hals.»John hat gesagt, daß du kommst!«rief sie außer Atem.»Ach, danke, daß du gekommen bist, Victor. Danke, daß du so mutig warst.«

Er nahm sie lachend in die Arme, ließ sich von ihr küssen und hörte amüsiert zu, während sie ihn mit Lob überschüttete. Seine Augen blitzten erheitert, kleine Lachfältchen bildeten sich an ihren Außenwinkeln, die Furche zwischen den Brauen glättete sich und war fast verschwunden.

Dann sah er Jennifer. Er hob den Kopf und blickte zur Freundin seiner Schwester hinüber, und sein Gesicht erstarrte. Das erheiterte Blitzen in seinen Augen erlosch, ein anderes, weit intensiveres Licht glomm in ihnen auf. Er starrte Jennifer an wie gebannt, ohne auf Harriets Schwatzen und die gelegentlichen Erwiderungen Johns zu achten. Und Jennifer, die gerade dabei war, das Band ihres Huts aufzuknüpfen, hielt mitten in der Bewegung inne, als sie Victor sah. Schweigend blickten sie einander in die Augen.

Nur ich bemerkte es. Harriet und John waren so vertieft in ihr Gespräch über das neue Automobil der O'Hanrahans, das erste in ganz Warrington, daß sie überhaupt nicht darauf achteten, was vorging. Ich als einzige erlebte den wunderbaren Augenblick im Jahr 1890, als Victor und Jennifer sich ineinander verliebten und einem Schicksal in die Hände fielen, aus dem sie sich nicht befreien konnten.

War es Liebe auf den ersten Blick? So jedenfalls empfand ich es, während ich beobachtete, wie die beiden einander unverwandt anblickten. Ich fühlte den plötzlichen Aufruhr der Gefühle in Victors Innerem, und das unerwartete Verlangen, das ihn erfaßte, erfaßte auch mich. Alles, was Victor bei dieser ersten Begegnung mit Jennifer fühlte, teilte sich mir mit. Und Jennifer? Als ich ihr in das fassungslose Gesicht sah, entdeckte ich auch in ihr eine plötzliche intensive Leidenschaft, eine Aufwallung von Gefühlen, die eben noch nicht spürbar gewesen waren. Aber ich nahm auch Verwirrung und Bestürzung wahr, denn diese Leidenschaft war ihr neu und erschreckte sie. Endlich begann Victor zu sprechen.»Meine kleine Schwester hat ihre guten Manieren vergessen«, sagte er gedämpft.»Mir scheint, ich muß mich selbst vorstellen. Victor Townsend. «Harriet wirbelte herum.»Demnächst Dr. Townsend! Oh, Victor, verzeih mir. Vor lauter Aufregung, dich zu sehen, habe ich Jennifer ganz vergessen. Victor, das ist Jennifer Adams. Sie wohnt in der Marina Avenue gleich beim Anger.«

Er trat zu ihr und reichte ihr die Hand. Ich spürte die knisternde Spannung. Sie ging von beiden aus.

John stand jetzt aus seinem Sessel auf, um ihn Jennifer anzubieten. Sehr steif und förmlich stand er vor ihr, ganz der wohlerzogene Kavalier. Aus ihrem Verhalten schloß ich, daß sie einander schon kannten. Harriet nahm Jennifers Umhang und trug ihn zusammen mit ihrem eigenen hinaus. Victor starrte sie immer noch an, doch sein Gesicht war jetzt umwölkt und nachdenklich. Jennifer strich sich mit den Händen glättend über ihren Rock, der schlichter war als Harriets, und ließ sich anmutig in den Sessel am Feuer sinken. Unter ihren gesenkten Lidern spürte ich Verwirrung. Sie rührte mich sehr, da ich wußte, was sie empfand.»Aufjeden Fall«, rief Harriet, als sie wieder ins Zimmer kam,»ist es ein aufregendes Vehikel, nicht wahr, Jenny? Es macht zwar einen Höllenlärm und stößt riesige Dampfwolken aus, aber es fährt ganz von allein.«

Victor riß sich mit einer Anstrengung aus seinen Gedanken, schüttelte den Kopf und sah stirnrunzelnd seine Schwester an.»Was redest du da eigentlich?«

«Von dem Automobil, das sich die O'Hanrahans gekauft haben. Jenny und ich haben es uns heute angesehen. Es fährt ganz von allein, Victor.«

«Der Verbrennungsmotor«, sagte Victor ruhig und sah zu der jungen Frau hinüber, die in dem Sessel neben mir Platz genommen hatte. Ich hatte den Eindruck, er wollte sich vergewissern, daß sie wirklich da war und nicht nur ein Bild seiner Phantasie.»Das mußte ja früher oder später kommen. Die Entwicklung geht heute auf allen Gebieten so rasch vorwärts, daß beinahe täglich etwas Neues kommt.«

«Ja, die O'Hanrahans haben sogar schon ein Telefon! Und elektrisches Licht. Wieso können wir kein elektrisches Licht haben?«John zuckte die Achseln.»Dieses Automobil ist sicher keine Sache von Dauer, da wette ich. Zu teuer, zu laut, viel zu umständlich instandzuhalten, und außerdem verpestet es die Luft. Es ist nichts weiter als ein neues Spielzeug, das Pferd wird es niemals ersetzen. Die O'Hanrahans wissen offenbar nicht wohin mit ihrem Geld. Im übrigen weißt du genau, daß du mit diesen Leuten — «

«Ach John!«

«Harriet«, rief Victor impulsiv.»Beinahe hätte ich vergessen, daß ich dir etwas mitgebracht habe. «Er nahm ein kleines Päckchen vom Kaminsims und reichte es ihr.

«Victor! Vielen Dank, wie lieb von dir. «Vorsichtig packte Harriet das Geschenk aus und hob den Deckel des Kästchens, das unter dem Papier verborgen war. Mit großen Augen sah sie auf.»Was ist das?«

«Das ist eine Uhr, die man am Handgelenk trägt. «John trat näher, um sich die Sache anzusehen.»Was, zum Teufel — das ist doch nichts anderes als eine Taschenuhr.«

«Aber sie wird am Arm getragen. Sie ist extra für Damen entworfen, verstehst du, da sie kein Uhrtäschchen an ihren Kleidern haben. Komm, Harriet, gib mir deine Hand.«

Victor legte seiner Schwester die Uhr um und gab ihr einen leichten Klaps auf die Hand.»Na bitte! Genau wie die eleganten Frauen in London.«

Harriet strahlte wie ein Kind. Sie hielt die Uhr ans Ohr, horchte einen Moment und warf Victor dann mit einem Freudenschrei die Arme um den Hals.

«Also, soviel Aufmerksamkeit bekomme ich nie«, bemerkte John neckend, aber ich glaubte einen Unterton von Groll in seiner Stimme zu hören.

Ich sah zu Jennifer hinüber, die still am Feuer saß, die Hände im Schoß gefaltet. Der Schein der Flammen warf goldene und kupferrote Glanzlichter auf ihr tiefbraunes lockiges Haar. In ihren Augen war eine Schwermut, ein Ausdruck tiefer Sehnsucht und Verwirrung, der mich ergriff. Das zarte Profil mit der fein geschwungenen Nase und dem schwellenden Mund war sehr schön. Es machte mich stolz zu wissen, daß diese Frau meine Urgroßmutter war.

Der Gedanke hatte etwas Bestürzendes, denn sie war in diesem Moment so nahe und so lebendig, daß ich meinte, ich brauchte nur den Arm auszustrecken, um sie berühren zu können. Und was würde geschehen, wenn ich es tat? Diese Menschen aus der Vergangenheit waren meiner Anwesenheit nicht gewahr, und dennoch erschienen sie mir so real.

«Die muß ich Mutter zeigen«, rief Harriet und lief schon zur Tür.»Sie hat bestimmt noch nie von einer Armbanduhr gehört.«

Ein kalter Wind blies ins Zimmer, dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloß. In der Stille war nur das Prasseln des Feuers zu hören. Ich sah Victor an. Der Sturm, der in seiner Seele tobte, spiegelte sich in seinen dunklen Augen, und ich vernahm die Frage, die er sich stellte: Warum mußte das geschehen?

Es berührte mich so tief, daß ich am liebsten aufgesprungen wäre und ihn umarmt hätte, wie Harriet das tun durfte. Doch mir war das nicht erlaubt. Ich mußte mich mit der Rolle der stummen Beobachterin zufriedengeben.

Aber ich nahm teil an seiner Qual. Ich fühlte sie. Ich konnte mich vor den Leidenschaften dieser Menschen nicht schützen. Ich hatte keine Abwehr gegen sie. Von allen Seiten stürmten die Gefühle auf mich ein: Jennifers ängstliche Verwunderung über die seltsame Wirkung, die Victor auf sie ausübte; Johns Eifersucht auf den Bruder, der im Mittelpunkt stand; Victors Liebe zu einer Frau, die er erst wenige Minuten kannte, und seine Verzweiflung darüber.

«Es ist schon dunkel draußen«, sagte John plötzlich.»Vater wird oben Feuer wollen. Bitte entschuldigt mich…«Er sah lächelnd zu Jennifer hinunter, aber sie blickte ihn an, als

nähme sie ihn gar nicht wahr. Er lief an mir vorbei zur Tür hinaus, und ich blieb allein mit den beiden Menschen, die meine Urgroßeltern waren.

Die Stille war voller Scheu und Unbehagen. Jennifer spielte mit ihren Fingern und starrte ins Feuer, und Victor, der vor ihr stand, sah grüblerisch ins Leere. Ich wünchte, sie würden sprechen, ihren Gefühlen Ausdruck geben, offenbaren, was in ihnen vorging, ehe die anderen zurückkehrten.

Wie in Antwort auf mein stummes Flehen hob Jennifer den Kopf und sagte:»Harriet hat mir erzählt, daß Sie in einigen Monaten nach Edinburgh gehen, Mr. Townsend.«

Er sah Jennifer an, und der grüblerische Blick in seinen Augen wich einem Ausdruck ungläubiger Verwunderung. Zugleich schoß ihm flüchtig ein Gedanke durch den Kopf: All die Frauen in London — wie viele? Flüchtige Begegnungen, die nur einen Tag oder eine Woche wichtig waren; Abwechslung und Ablenkung. Aber das hier, das ist etwas Neues…

«Ja, das ist richtig. Sobald ich mein Diplom in der Tasche habe, gehe ich dort ans Königliche Krankenhaus.«

«Und werden Sie lange dort bleiben?«fragte sie scheu und so leise, daß es kaum zu hören war.

«Das ist ganz unbestimmt, Miss Adams. Es kann sein, daß ich überhaupt nicht zurückkomme.«

Ihre Augen weiteten sich.»Oh, wie traurig! — Für Ihre Familie, meine ich.«

«Es zieht mich nicht nach Warrington. Ich möchte Forschungsarbeit leisten, neue Heilmittel entdecken. Auf diesem Gebiet wird gerade jetzt in Schottland viel getan, und mit einem Empfehlungsschreiben von Mr. Lister werde ich die richtigen Männer kennenlernen.«

«Ich finde das sehr bewundernswert. «Sie senkte den Kopf und blickte wieder ins Feuer. Wieder spürte ich Victors tiefes Verlangen, während er sie mit brennendem Blick betrachtete.»Wie lange leben Sie schon in Warrington, Miss Adams?«

Sie sprach, ohne aufzublicken.»Seit einem Jahr. Wir kommen aus Prestatyn in Wales

— «

«Ah ja, ich dachte mir schon — «

«Mein Vater bekam einen guten Posten im Stahlwerk angeboten. Er ist Abteilungsleiter, wissen Sie…«Jennifer hob den Kopf und sah Victor an. Kaum verhohlene Faszination lag auf ihrem Gesicht. Ich spürte, wie die Liebe in ihr anschwoll, und hörte ihre stumme Frage: Wie ist das möglich?

Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und die großen, fragenden Augen waren wie die eines Rehs.

«Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Miss Adams«, sagte Victor.»Es ist schade, daß wir uns erst so spät kennengelernt haben. «Sie sagte nichts.

«Wenn wir uns vor einem Jahr begegnet wären«, fuhr er ruhig fort,»dann…«

«Ja, Mr. Townsend?«sagte sie leise.»Dann wären wir vielleicht Freunde geworden.«

«Aber sind wir das jetzt nicht? Ich kenne Harriet seit einem Jahr. Wir sind viel zusammen. Und sie hat mir viel von Ihnen erzählt. Ich habe das Gefühl, Sie schon zu kennen, Mr. Townsend. «Er lächelte.»Sie müssen einmal nach Edingburgh kommen. «Jennifer senkte wieder die Lider, und ihre Schultern wurden schlaff.»Ach, Schottland ist so weit weg. Ich fürchte, da werde ich nie — «

«Jennifer! Wenn ich Sie so nennen darf. Vielleicht kann ich eines Tages zu Besuch nach Warrington kommen. Werden Sie dann hier sein?«

Sein drängender Ton erschreckte sie ein wenig.»Mein Vater hat nicht die Absicht noch einmal umzuziehen. Ich bin sicher, daß wir in Warrington bleiben werden. Aber werden Sie denn zurückkommen? Können Sie zurückkommen?«

Mit einer heftigen Bewegung drehte sich Victor von ihr weg und sagte, beide Hände auf den Kaminsims gestützt, mit erstickter Stimme:»Ich kann niemals zurückkommen. Solange dies das Haus meines Vaters ist, kann ich nicht zurückkommen. Ich bin nicht mehr sein Sohn. Wenn Sie in der Tat Harriets Freundin sind, und sie mit Ihnen spricht, dann müssen Sie von dem Zwist zwischen mir und meinem Vater wissen…«

«Ja, sie — «

«Dann müssen Sie wissen, daß ich selbst jetzt eigentlich nicht hier sein dürfte, denn es würde ihn von neuem erzürnen, und er würde mich hinauswerfen, sollte er mich hier vorfinden. Selbst jetzt…«Die Stimme versagte ihm.»Er wird jeden Moment heimkehren, und ich muß gehen. Es tut mir leid, daß ich Sie so abrupt und unhöflich verlassen muß. Es ist wahrhaftig nicht mein Wunsch. Aber ich habe keine andere Wahl.«