Zorn und Hoffnungslosigkeit spiegelten sich in seinen Augen, als er sich umdrehte. Warum gerade jetzt? schrie es in ihm. Warum mußte ich dieser Frau gerade jetzt begegnen? Jetzt, da ich für immer fort muß. Die Qual ist unerträglich.
«Victor«, sagte ich plötzlich, und mein Herz schlug im Takt mit dem seinen.
«Wir können niemals Freunde werden, Jennifer«, fuhr er fort,»weil wir einander nie wiedersehen werden. Ich kann niemals in dieses Haus zurückkehren.«
Ich sprang auf und streckte den Arm nach ihm aus.»Victor! Hör mir zu!«
Aber meine Hand griff ins Leere, und ich war wieder in Großmutters schäbigem alten Wohnzimmer.
Kapitel 9
Ich stand am Fenster und blickte in einen grauen regnerischen Morgen hinaus, als sie ins Zimmer kam. Ich war seit Tagesanbruch auf. Ich hatte nur wenige Stunden geschlafen, und selbst da hatten mich merkwürdige, beunruhigende Träume heimgesucht. Sie erschrak wahrscheinlich, als sie mich da im dunklen, kalten Zimmer stehen sah.
«Andrea!«rief sie.»Ich habe nicht erwartet, daß du schon auf bist. «Sie knipste das Licht an.»Wieso ist es hier so kalt?«Ich hörte, wie sie durch das Zimmer humpelte. Laut schlug ihr Stock auf den Boden. Dann rief sie entsetzt:»Das Gas ist ja aus! Kind, hast du nicht gemerkt, daß das Gas ausgegangen ist?«
«Doch, Großmutter«, antwortete ich ruhig.»Ich habe es selbst ausgedreht.«
«Was? Aber was ist denn nur in dich gefahren? Es ist ja eiskalt hier drinnen. Warum hast du das Gas abgestellt?«Ich antwortete nicht, sondern blieb schweigend am Fenster stehen und sah hinauf auf die moosbedeckten Mauern und die dürren Rosenbüsche. Meine Großmutter humpelte zum Büffet, zog eine Schublade auf, nahm etwas heraus, kehrte zum Kamin zurück und zündete das Gas wieder an. Man konnte es leise zischen hören, aber es war nicht das Knistern und Prasseln des Holzfeuers, das einmal in diesem Kamin gebrannt hatte.
«Fühlst du dich nicht wohl, Kind? Stehst da in deinem dünnen Hemdchen wie versteinert. Komm, machen wir uns eine Tasse Tee.«
Schwerfällig bewegte sie sich durch das Zimmer, in dem zu viele Möbel standen, und humpelte in die Küche. Ich blieb am Fenster stehen. Der graue Morgen spiegelte meine Stimmung.»Der Nebel ist weg!«rief Großmutter aus der Küche.»Siehst du schon einen Sonnenstrahl?«
Ich schüttelte den Kopf.
«Ja?«Sie erschien an der Tür.»Kommt die Sonne raus, Kind?«
«Nein, Großmutter. Der Himmel ist voller Wolken.«
«Natürlich. Hätte ich mir ja denken können. Bestimmt ist der Sturm schon im Anzug. Wir haben immer eine Menge Regen um diese Jahreszeit, weißt du…«Sie klapperte mit Töpfen und Tellern, während sie weiter schwatzte.»Aber dieses Jahr hatten wir einen herrlichen Sommer. Es war richtig heiß. Wir hatten eine Hitzewelle. Zwei Wochen lang jeden
Tag um die zweiundzwanzig Grad. Aber jetzt bezahlen wir dafür. Bestimmt bekommen wir zu Weihnachten schon Schnee. Meistens kommt er erst später. Aber dieses Jahr, ich fühl's in meinen alten Knochen…«Ich hörte ihr nicht mehr zu. Eine zynische Stimme in meinem Kopf flüsterte, wenn wir das Wetter nicht hätten, kämen neunzig Prozent aller Gespräche nie in Gang.
Nach einer Weile gab ich meinen Platz am Fenster auf und ging ziellos im Zimmer umher. Vielleicht hatte ich Weltschmerz, ich konnte es nicht sagen, da ich mich nie zuvor so gefühlt hatte wie an diesem Tag. Es war ein eigenartiger Zustand, eine Mischung aus Traurigkeit, Ängstlichkeit und Rastlosigkeit. Und daneben empfand ich eine schreckliche Leere.
Vor dem Kaminsims blieb ich stehen und starrte die Uhr an. Das war es. Es war ein Mangel, unter dem ich litt. Es war, als wären alle Emotionen und Gefühle aus mir herausgesogen worden und hätten nichts als graue Trostlosigkeit hinterlassen. Ach, wäre ich nur deprimiert gewesen! Das wäre wenigstens ein Gefühl gewesen. Ich aber war nur leer. Wohin waren meine Gefühle verschwunden?» Andrea!«schrie meine Großmutter schrill und packte mich am Arm. Ihre Finger gruben sich in mein Fleisch, und im nächsten Moment flog ich nach rückwärts und schlug krachend gegen das Büffet. Verwirrt starrte ich meine Großmutter an.»Andrea, du hättest dich beinahe in Brand gesteckt«, rief sie keuchend.
Ich sah verblüfft an meinen Jeans hinunter. Die Hosenbeine waren angesengt. Großmutter humpelte zu mir, bückte sich mühsam und zog ein Hosenbein hoch. Die Haut meines Beins war brandrot.
«Du hast dich verbrannt«, stieß sie atemlos hervor.»Wenn ich nicht zufällig gekommen wäre, wäre deine Hose in Flammen aufgegangen. Andrea, was ist denn nur los mit dir?«Sie legte mir die zitternde Hand auf die Wange.»Hast du wieder Kopfschmerzen?«
«Großmutter…«Ich wandte mich ab. Jetzt spürte ich den brennenden Schmerz an meinen Beinen, und es erschreckte mich.»Es ist meine Schuld. Ich habe das Gas zu hoch aufgedreht, und du hast es nicht gewußt. Die ganze Zeit stand es auf klein, und ich hab dir nicht gesagt, daß ich es aufgedreht hatte. Ach Gott…«Ich sah ihr ins Gesicht und beim Anblick ihrer vom Alter verwüsteten Züge hätte ich am liebsten geweint.
Warum konnten wir nicht so bleiben, wie wir in der Jugend waren, so wie John und Victor und Harriet und Jennifer, die immer noch jung und schön waren? Warum mußten wir diese Unwürdigkeit des Alterns erleiden?
«Armes Kind«, tröstete meine Großmutter und wischte mir die Tränen ab.»Es geht dir gar nicht gut. Komm, reiben wir die Beine mit Butter ein..«
Sie wollte mich zum Heizofen ziehen, aber ich ging nicht mit ihr.
«Keine Angst, Kind. Ich hab ihn schon runtergedreht.«
«Nein — mir ist warm genug. Ich setz mich hier aufs Sofa. «Ich setzte mich in die äußerste Ecke, so weit wie möglich vom Gas entfernt, und sah geistesabwesend zu, wie meine Großmutter meine verbrannten Beine mit ihrem alten Hausmittel behandelte. Mir war nach Weinen zumute. Nach jenem törichten Moment, als ich versucht hatte, Victor zu berühren, mit ihm zu sprechen, hatte ich die ganze Nacht auf ihre Rückkehr gewartet. Aber sie waren nicht gekommen.
«Bist du sicher, daß es dir nicht zuviel wird?«fragte Elsie und musterte mein Gesicht mit Besorgnis.»Mama hat schon recht, du siehst gar nicht gut aus. Du bist sehr blaß, Andrea.«
«Ach, es geht schon. «Meine Beine schmerzten mörderisch. Die Hitze im Zimmer setzte mir zu. Der Schlafmangel der vergangenen Nacht begann sich bemerkbar zu machen. Was hätte ich Elsie da anderes sagen sollen, als» ach, es geht schon«
«Du kannst morgen ins Krankenhaus fahren. Heute nicht«, entschied Großmutter.
Ich ließ mir das einen Moment durch den Kopf gehen. Das heißt, ich dachte nicht eigentlich darüber nach, ich versuchte vielmehr zu erspüren, was das Haus von mir wollte.
Doch da es mir nichts mitteilte, beschloß ich, den Versuch zu machen. Wenn es mich am Besuch im Krankenhaus hindern wollte, würde es das tun.»Ich möchte aber gern heute hinfahren, Großmutter. Großvater wird denken, ich wäre wieder abgereist, ohne mich von ihm zu verabschieden.«
«Laß sie doch, Mama«, sagte Elsie.»Eine kurze Autofahrt und dann eine Stunde im Krankenhaus. Das kann ihr nicht schaden. Aber hetz dich heute nicht so ab, bevor wir gehen, Andrea. «Brav ließ ich mich wieder einpacken wie zu einer Reise an den Nordpol, dann gingen wir los. An der Haustür zögerte ich flüchtig. Dann setzte ich den Fuß über die Schwelle und wußte, daß ich heute meinen Großvater sehen würde.
Ich war nicht zum Reden aufgelegt, aber Elsie redete dafür um so mehr, während sie mir auf der Fahrt sämtliche Sehenswürdigkeiten Warringtons zeigte: Das Stahlwerk und das Rathaus, das neue Mark's and Spencer's und den alten Woolworth, wo» deine Mutter und ich während des Krieges gearbeitet haben«. Ich nickte höflich lächelnd, obwohl mir ihr unablässiges Geschwätz auf die Nerven ging. Für meine lebenden Verwandten konnte ich nicht viel mehr aufbringen, als bemühte Toleranz; ich wollte mit den toten Zusammensein.
Mein Großvater lag wieder regungslos im Bett und war nicht ansprechbar. Das hielt Elsie und Edouard nicht davon ab, die gewohnten einseitigen Gespräche mit ihm zu führen. Ich begnügte mich damit, an seinem Bett zu sitzen und die magere alte Hand zu halten. Es brachte mir sonderbarerweise einen gewissen Frieden.
Zu Hause empfing uns Großmutter mit einem liebevoll zubereiteten Mittagessen, aber ich hatte kaum Appetit. Während ich der Form halber ein paar Bissen zu mir nahm, informierte Elsie ihre Mutter über die letzten Neuigkeiten von Warrington: wer heiraten wollte, wer schwanger war, wer in Scheidung lag. Warrington war wie jede andere Kleinstadt Geheimnisse gab es nicht. Aber ich, dachte ich mit einem heimlichen Lächeln, ich habe ein Geheimnis.
Während ich meine redselige Tante beobachtete, erwog ich flüchtig, ihr von meinen Erlebnissen in diesem Haus zu erzählen. Aber ich schlug mir den Gedanken gleich wieder aus dem Kopf, da ich erkannte, daß das zu nichts führen würde. Elsie würde meine Erzählungen abtun und auf ihre robuste, pragmatische Art darauf bestehen, daß ich mir das alles nur eingebildet hatte. Außerdem hatte ich immer noch Angst, daß es die fragile Verbindung zur Vergangenheit zerstören würde, wenn ich einem anderen Menschen von meinen Erfahrungen berichtete.
«Ich hab übrigens gute Nachrichten«, sagte Elsie plötzlich.»Ich hab ganz vergessen, es dir zu sagen, Mama. Ann hat heute morgen aus Amsterdam angerufen. Sie kommt am Sonntag auch nach Morecambe Bay zu Albert.«
«Ach, wie schön!«Großmutter strahlte mich an.»Für dich wird es bestimmt nett, deine jüngeren Verwandten kennenzulernen, Andrea. «
«Ja, ich glaube, es wird dir guttun, zur Abwechslung mal mit Leuten in deinem Alter zusammenzusein«, pflichtete Elsie ihr bei. Ich senkte hastig die Lider. Wie alt war Victor gestern abend gewesen? Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig? Und John ein wenig jünger.
«Es wird dir gefallen bei Albert. Er hat ein sehr hübsches Häuschen, und das Kleine…«
Während sie erzählte, dachte ich, es wäre sicher nett hinzufahren, aber was, wenn das Haus mich nicht ließ? Elsie und William brachen bald nach dem Essen wieder auf. Großmutter brachte sie hinaus. Ich blieb am Tisch sitzen. Beide Schienbeine taten mir so höllisch weh, als hätte ich mir den schlimmsten Sonnenbrand geholt. Ich hörte die drei draußen miteinander sprechen, dann wurde die Tür zugeschlagen, Großmutter sperrte ab und kam wieder ins Zimmer.»Du denkst wohl an deinen Großvater, hm?«fragte sie, als sie mich noch immer am Tisch sitzen und zum Fenster hinausstarren sah.
Ich drehte ein wenig den Kopf.»Ja«, sagte ich, aber in Wirklichkeit hatte ich an >die anderen< gedacht.
Der endlose Nachmittag ging in einen endlosen Abend über. Meine Beine brannten jetzt so unerträglich, daß sie keinerlei Berührung vertragen konnten. Ich hatte die Hosenbeine meiner Jeans bis zu den Knien hinaufgerollt und mich soweit wie möglich vom Feuer weggesetzt. Großmutter strickte zufrieden vor sich hin.
Als ich Harriet in meinem Sessel sitzen sah, weit vorgebeugt und eifrig mit irgend etwas beschäftigt, das auf ihrem Schoß lag, warf ich einen Blick zu meiner Großmutter und stellte fest, daß sie eingeschlafen war. Friedlich schlummerte sie in ihrem Sessel. Vor ihr brannte ein helles Feuer, an den Wänden mit der bunten Tapete brannten die Gaslampen, auf zierlichen Tischchen stand Nippes, und sie war ihrer Umgebung überhaupt nicht gewahr. Aber wenn sie nun plötzlich erwachte, würde das alles dann verschwinden?
Ich neigte mich vor, um sehen zu können, was Harriet tat. Sie hatte ein Buch auf dem Schoß liegen, mehrere Bögen Papier und einen Briefumschlag. In der Hand hielt sie eine Feder. Offenbar war sie dabei, einen Brief zu schreiben.
Ich beugte mich noch weiter vor, um genauer sehen zu können, aber aufzustehen wagte ich nicht. Ja, sie schrieb einen Brief. An Victor vielleicht? dachte ich, aber dann fiel mir der Brief ein, den sie an dem Abend, als Mr. Cameron die Familienaufnahme gemacht hatte, heimlich in ihrer Rocktasche hatte verschwinden lassen. Hatte Harriet vielleicht einen heimlichen Freund, mit dem sie korrespondierte?
Ihr Verhalten gab mir die Antwort. Immer wieder sah sie auf die Uhr, viel zu oft blickte sie argwöhnisch über die Schulter, und sie schrieb mit einer Hast, die verriet, daß sie etwas Verbotenes tat und fürchtete, dabei ertappt zu werden. Ein heimlicher Liebhaber vielleicht, dachte ich…
Köstliche Düfte wehten mir plötzlich in die Nase. Würziger Bratengeruch einer Ente, die am Spieß bruzzelte; das milchige Aroma von Reisbrei, der auf dem Ofen köchelte; Gerüche nach Fleischsoße, buttrigem Gemüse und frischem Brot. Ich blickte zur Küchentür hinüber. Großmutter und ich hatten nichts auf dem Herd stehen, wir waren längst fertig mit dem Essen. Es mußte also das Abendessen der Familie Townsend sein, das das Haus mit diesen appetitlichen Düften erfüllte. Es mußte Mrs. Townsend sein, die da nebenan in der Küche stand und das Abendessen bereitete. Und ich konnte die Gerüche wahrnehmen!
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