Auch das ein Geheimnis. Wie war es möglich? Aber ebenso gut konnte ich fragen, wie war es möglich, daß ich sie sehen und hören konnte. Alle meine Sinne bis auf einen waren miteinbezogen in diese Begegnungen mit der Vergangenheit, und ich fragte mich, ob irgendwann der Moment kommen würde, da ich auch berühren und fühlen konnte…

Aber jetzt wollte ich es nicht versuchen. Ich wollte Harriet nicht durch eine unbedachte Handlung vertreiben. Nein, ich würde ganz still auf meinem Platz sitzen bleiben, während sie ihren Brief schrieb.

Ein neuer Gedanke kam mir. Mit Victor hatte ich in der vergangenen Nacht gesprochen. Ich hatte ihn zweimal angesprochen, und beim ersten Mal — beim ersten Mal war er nicht verschwunden. Er hatte einfach mit Jennifer weitergesprochen. Erst beim zweiten Mal, als ich aufgesprungen war und ihn berühren wollte, erst da hatte sich die Szene aufgelöst.

Sollte es dann vielleicht möglich sein, mit ihnen Verbindung aufzunehmen? War es vielleicht einfach so, daß er mich nicht gehört hatte, weil er so stark auf Jennifer konzentriert gewesen war, als er sprach? Ich konnte es noch einmal versuchen. Ich würde mich nicht von der Stelle rühren. Ich würde nur sprechen. Ich würde ganz ruhig, beiläufig, unaufdringlich etwas zu Harriet sagen.

Sie schrieb sehr eifrig. In der Stille des Zimmers waren nur das Knistern des Feuers und das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims zu hören. Der Uhr von gestern. Vielleicht, vielleicht würde sie mich hören, wenn ich sie ansprach. Ich wünschte mir, daß sie mich hören würde.

Ich war ein wenig enttäuscht, daß Victor nicht hier war, obwohl ich seine Anwesenheit gar nicht erwarten konnte, da er ja gesagt hatte, er werde nach Schottland gehen und niemals in dieses Haus zurückkehren. Hieß das, daß ich ihn nie wiedersehen würde? Ich bezweifelte es. Schon bald würde das Schicksal ihn wieder in dieses Haus zurückführen. Ich wußte, daß er zurückkommen würde, ich wußte nur nicht, wann.

Sollte ich sie jetzt ansprechen? Sollte ich es wagen? Ich leckte mir die Lippen. Mein Mund war trocken. So sanft wie möglich sagte ich:»Harriet. «Sie sah nicht auf. Ich versuchte es ein wenig lauter.»Harriet. «Noch immer keine Reaktion.»Harriet, kannst du mich hören?«

Als sie endlich den Kopf hob, stockte mir der Atem, aber dann erkannte ich, daß es nur eine Bewegung der Nachdenklichkeit war. Sie überlegte sich bloß die nächsten Worte für ihren Brief.

Meine Bemühungen waren vergeblich gewesen. Harriet würde mich niemals hören können. Verrückt, sich so etwas einzubilden.

Dennoch versuchte ich es ein letztes Mal.»Harriet, bitte hör doch!«

Rein zufällig blickte ich zu meiner Großmutter hinüber. Sie starrte mich mit aufgerissenen Augen an.

Ich stieß einen Schrei aus und griff mir an den Hals.»Großmutter! Hast du mich erschreckt!«

«Mit wem hast du geredet?«fragte sie und sah mich dabei ganz merkwürdig an.

Mein Blick schweifte zum anderen Sessel. Er war leer. Die Gasheizung stand wieder im Kamin.»Mit niemand, Großmutter. Ich dachte, du schläfst.«

«Ich habe dich mit jemandem reden hören. Ich hab's gesehen. Du hast Harriet gesagt.«

«Nein, Großmutter, ich hab nur…«Ich wußte nicht weiter und breitete hilflos die Hände aus.»Wahrscheinlich hab ich einfach laut gedacht.«

Großmutter drehte den Kopf und betrachtete lange den leeren Sessel vor dem Kamin. Ihr Gesicht war eine Maske der Unergründlichkeit, still und ausdruckslos. Lange blickte sie den Sessel an, dann sagte sie langsam und betont:»Hast du hier im Haus irgendwas gesehen, Andrea?«

Ihre Worte erschreckten mich. Unsere Blicke trafen sich und hielten einander fest, und ich fragte mich, was weiß sie? Schließlich wandte ich mich ab und sagte:»Ich habe nur laut gedacht, Großmutter. Meine beste Freundin in Los Angeles heißt Harriet. Immer wenn ich Probleme habe, spreche ich mit ihr. «Ich lachte nervös.»Lieber Gott, Großmutter, ist es dir noch nie passiert, daß du Selbstgespräche geführt hast?«Die Härte in ihrem Gesicht wich Besorgnis.»Armes Kind, dir geht's gar nicht gut hier, nicht? Die Umstellung von Amerika nach hier ist wahrscheinlich viel zu schnell gegangen. Ich hab mal im Manchester Guardian einen Bericht über etwas gelesen, das die Wissenschaftler Biorhythmus nennen. Das ist es, was dir zu schaffen macht. Du bist ganz aus dem Rhythmus. Und es ist dir bestimmt auf den Magen geschlagen, hm?«

«Ich — «

«Aber keine Angst, dafür hab ich genau das Richtige. Du wirst sehen, wie es wirkt.«

Sie stemmte sich ächzend aus dem Sessel und humpelte auf ihren Stock gestützt zum Büffet — diese unerschöpfliche Schatzgrube —, griff hinein und brachte eine unbeschriftete Flasche mit einer weißen Flüssigkeit zum Vorschein.

«Bei mir hilft das jedes Mal«, erklärte sie, während sie in die Küche hinüberging. Als sie zurückkam, hielt sie einen großen Löffel in der Hand, in den sie einen guten Schuß der dicklichen weißen Flüssigkeit goß.

«Hier, Kind. «Sie stieß mir den Löffel förmlich unter die Nase.»Was ist das denn?«

«Medizin. Der Arzt hat sie mir verschrieben. Ich hatte fürchterliche Verstopfung. Aber das Zeug hat gewirkt wie der Teufel. Und seitdem hab ich überhaupt keine Schwierigkeiten mehr.«

«Aber, Großmutter, ich hab ja gar keine — «

«Komm schon, Kind, nimm die Medizin. «Lächelnd stieß sie mir wieder den Löffel unter die Nase. Der Geruch war widerlich. Ich schloß die Augen, öffnete den Mund wie ein folgsames Kind und schluckte die ganze Ladung in einem. Beinahe hätte ich alles wieder erbrochen.

«Oh, Großmutter — «Ich drückte die Hand auf den Mund.»Das schmeckt ja scheußlich.«

«Aber es wirkt, paß nur auf.«

Ich schnitt eine Grimasse. Der Nachgeschmack war abscheulich, kalkig und bitter mit einer Spur von irgend etwas Undefinierbarem.

«Ich finde, du gehörst mit deinen Brandwunden an den Beinen und deiner Verstopfung eher ins Krankenhaus als dein Großvater«, bemerkte Großmutter, während sie die Medizinflasche zuschraubte und wieder ins Büffet stellte.»So«, sagte sie, unverkennbar zufrieden mit dem Erreichten,»jetzt gehen wir am besten zu Bett, sonst nicken wir wieder hier in unseren Sesseln ein. Möchtest du heute oben schlafen, Kind, für den Fall, daß du nachts schnell raus mußt? Ich kann dir zwei Wärmflaschen ins Bett legen.«

Aber ich wollte nicht nach oben. Die Szene mit dem alten Kleiderschrank war mir noch in allzu lebhafter Erinnerung.»Ich schlafe lieber hier, Großmutter. Bis zum Bad hinauf schaffe ich es schon, wenn ich wirklich raus muß.«

«Na schön, Kind, wie du willst. Dann gute Nacht. «Sie küßte mich auf beide Wangen und drückte mich überraschend kräftig an sich. Dann ging sie und schloß die Tür hinter sich. Als ich sie die Treppe hinaufhumpeln hörte, stand ich auf und stellte das Gas ab.

Ich war überrascht, als ich erwachte. Überrascht und ein wenig beunruhigt. Ich konnte mich nicht erinnern, mich entkleidet und mein Nachthemd angezogen zu haben, und ich konnte mich nicht erinnern, unter die Decken auf dem Sofa geschlüpft zu sein. Als ich plötzlich aus dem Schlaf fuhr und mit weit offenen Augen in die Dunkelheit starrte, wußte ich im ersten Moment nicht, wo ich war. Ich warf die Decken ab, die schmerzhaft auf meine Beine drückten, und setzte mich auf. Wie aus weiter Ferne hörte ich die Klänge von >Für Elise<, und da wußte ich, was mich aus dem Schlaf gerissen hatte.

Es war stockfinster im Zimmer. Ich stand auf und tastete mich von Möbelstück zu Möbelstück zum Fenster vor, um die Vorhänge aufzuziehen. Aber die Nacht draußen war so schwarz und undurchdringlich wie die Nacht drinnen. Kein Mond, kein Stern war am wolkenverhangenen Himmel zu sehen. Vorsichtig tappte ich durch das Zimmer zurück zur Tür. Ich wollte wissen, wer da Klavier spielte. Ich fand den Lichtschalter und knipste ihn an. Ich fuhr schreckhaft zusammen, als ich Harriet und Jennifer am

Kamin stehen sah. Aber gleich wurde ich ruhig und wurde mir mit Verwunderung bewußt, daß diese ungebetenen Besuche aus der Vergangenheit mir keine Angst mehr machten. Nicht allzuviel Zeit schien in ihrer Epoche vergangen zu sein. Die beiden hatten sich kaum verändert. Ich schätzte sie auf ungefähr siebzehn Jahre, zwei offenkundig modebewußte junge Frauen. Sie trugen beide zu ihren schmalen langen Röcken hochgeschlossene weiße Blusen und kurze Jäckchen, deren Ärmel an den Schultern gekraust waren. Beide blickten sie gespannt zur Tür, an der ich immer noch stand.

Das Klavierspiel, fiel mir plötzlich auf, hatte aufgehört. Die beiden jungen Mädchen wirkten unruhig, über irgend etwas besorgt. Harriet sah immer wieder auf ihre Armbanduhr, während sie sich wiederholt aufgeregt die farblosen Lippen leckte. Sie war sehr zierlich, doch ihr Gesicht hatte mit dem Erwachsenwerden nicht an Reiz gewonnen. Die Augenbrauen waren ein wenig zu buschig, die untere Gesichtshälfte eine Spur zu breit, die Nase unverhältnismäßig klein. Und auch sie hatte die Townsend-Furche, die ihrem Gesicht weniger einen Zug der Eigenwilligkeit als der Schärfe verlieh. Neben Jennifer, deren Schönheit sich wie die einer Rose von Tag zu Tag mehr zu entfalten schien, wirkte Harriet Townsend wie eine graue Maus. Fast konnte sie einem leidtun. Ich konnte den Blick nicht von Jennifer wenden. Wie an jenem ersten Abend, als Großmutter mir ihr Foto gezeigt hatte, war ich fasziniert von diesem jungen Mädchen und betrachtete sie unverwandt mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid. Ich konnte sie nicht als geisterhafte Erscheinung aus der Vergangenheit begreifen, denn meine Sinne sagten mir, daß ich hier einem lebendigen Menschen gegenüberstand, einer Frau von ungemein intensiver Ausstrahlung. Ihre braunen Augen zeigten Erregung; ruhelos wie ein Schmetterling flog ihr Blick durch das Zimmer. Und ihre Hände waren keine Sekunde still.

Endlich, nach qualvoller Wartezeit, wandte sich Harriet ihrer Freundin zu und flüsterte:»Ich höre sie kommen.«

Die furchtsame Erregung der beiden jungen Frauen teilte sich mir mit. Mit klopfendem Herzen trat ich von der Tür weg und drückte mich an die Wand, als die beiden Männer eintraten. Draußen schien es zu regnen. John war naß und klopfte sich die Regentropfen von den Hosenbeinen, nachdem er eingetreten war. Er lief zum Feuer, hielt die Hände darüber und machte mit halblauter Stimme eine Bemerkung, die ich nicht verstand. Meine Aufmerksamkeit galt aber auch weniger John als seinem Begleiter, Victor, der so nahe bei mir stand, daß ich die Feuchtigkeit seiner Kleider riechen und die Nässe seines Haars sehen konnte. Ich sah auf den ersten Blick, daß er völlig verändert war. Er schien um Jahre gealtert. Mit seinen fünf- oder sechsundzwanzig Jahren sah er aus wie ein Mann, der zuviel vom Leben gesehen hat, um noch für jugendliche Unbekümmertheit Raum zu haben. Fast alle Weichheit war aus seinen Zügen gewichen. Das glattrasierte Gesicht war kantig und angespannt, als berge es in sich ein grausames Geheimnis. Die Augen lagen tiefer in den Höhlen als früher, so als wollte er lieber nach innen sehen als nach außen, und sie schienen mir wie umschattet von der Erinnerung an das Elend und das Gift eines Londoner Krankenhauses. Das lockige schwarze Haar war länger, reichte ihm fast bis auf die Schultern, notdürftig gebürstet nur, als interessiere ihn äußere Wirkung nicht mehr. Er wirkte sehr streng und distanziert, wie er da stand, so reglos, daß er kaum zu atmen schien. Und ich fragte mich, was diese tiefgreifende Veränderung bewirkt hatte.

Er und Jennifer sahen einander an, und ich gewahrt in ihrem Blick die Bestürzung über seine Verwandlung.

Was hatte Victor in den Londoner Krankenhäusern gesehen? Wie oft hatte ihn der eisige Hauch des Todes gestreift, hatte er schrecklichen Verlust erlebt, die bittere Enttäuschung ertragen müssen, daß er, dessen Aufgabe es war, Leben zu retten, am Ende nur ohnmächtig geschehen lassen mußte? Victors Gesicht war gezeichnet. Sein Wissen und seine Reife, so ungewöhnlich für einen so jungen Menschen, zeigten sich im ernsten Schwung seiner Lippen, die das

Lächeln verlernt zu haben schienen. Sein Gesicht hatte etwas Schwermütiges, unter dem sich Bitterkeit verbarg. Victor Townsend hatte einen Patienten zuviel verloren.

Harriet, die auf ihren Bruder hatte zugehen wollen, war stehengeblieben, als sie den Blick bemerkte, der zwischen ihm und Jennifer getauscht wurde. Ihre Arme waren halb ausgestreckt, ihr Mund geöffnet. Sie stand wie zur Salzsäule erstarrt. Als hätte sie eben einen Blick auf das Haupt der Gorgone geworfen. Während John sich am Feuer die kalten Hände rieb und sich die Nässe von den Stiefeln stampfte, ohne der Szene hinter ihm gewahr zu sein, hielt Victor noch immer Jennifers Blick fest. Im Feuerschein wirkte sein Gesicht wie gemeißelt, wie eine Studie in Chiaroscuro.