In diesen Sekunden, während ich ihn so intensiv betrachtete und die Mauer zu durchdringen suchte, die er um sich hochgezogen hatte, spürte ich, wie etwas in mir sich zu regen begann…»Mr. Townsend«, sagte Jennifer endlich leise.»Willkommen zu Hause. «Sie blieb am Kamin stehen, als hätte sie Angst, sich zu bewegen.

«Danke«, antwortete er. Seine Stimme war tiefer, als ich sie in Erinnerung hatte.

Auch er rührte sich nicht von der Stelle, als fürchtete er, durch eine Bewegung das Traumhafte dieses Augenblicks zu zerstören. Er verzehrte Jennifer mit seinen Blicken, einem

Menschen gleich, der völlig ausgehungert ist oder lange keine Wärme gekannt hat oder sich danach sehnt, ein Zuhause zu finden, ohne den Weg dorthin zu wissen.

Jetzt erst wurde John auf die Stille im Zimmer aufmerksam und drehte sich herum.»Was denn?«rief er.»Keine Fanfaren? Warum so ernst? Das ist doch ein freudiger Anlaß. Der verlorene Sohn ist heimgekehrt.«

Ich hörte Bitterkeit unter der gezwungenen Fröhlichkeit und hätte gern gewußt, ob auch die anderen sie wahrnahmen.»Ach, Victor!«rief Harriet jetzt, lief zu ihm hin und warf ihm die Arme um den Hals.»Du bist wieder da! Du bist nach Hause gekommen. Ich fürchtete schon, es wäre nur ein Traum. «Er schüttelte den Kopf und sah sie an, als wäre er aus tiefem Schlaf erwacht.»Ja, Harriet, ich bin wieder da.«

«Und bleibst du? Bitte, sag, daß du bleibst. «Harriet drückte ihren Kopf an seine Brust, und Victor sah über sie hinweg zu Jennifer, als er sagte:»Ja, ich bleibe.«

«Ach, wie schön!«rief Harriet.»Als Vater es mir sagte, habe ich ihm nicht geglaubt. «Sie trat einen Schritt zurück und wischte sich die Tränen von den Wangen.»Er zeigte mir deinen Brief, in dem du schriebst, du hättest den Posten in Edinburgh aufgegeben, um hierher zurückzukommen, und trotzdem glaubte ich es nicht. Ich habe so darum gebetet, daß du wieder heimkommen würdest, und nun sind meine Gebete erhört worden.«

Sie drehte sich herum.»John, wo ist der Sherry, den du versprochen hast?«

«Ach ja!«Er schnalzte mit den Fingern.»Im Salon.«

«Und Gläser. Ich hole die Gläser. Heute abend feiern wir. «Schon eilte Harriet, von Lavendeldüften umhüllt, zur Tür hinaus, und John folgte ihr. Eine kleine Weile waren Victor und Jennifer allein.

Immer noch sahen sie einander stumm an, als genüge jedem fürs erste der Anblick des anderen, um die Sehnsucht zu stillen. Dann sagte Jennifer zaghaft:»Ich war so überrascht, Mr. Townsend, als Harriet mir die Neuigkeit erzählte. Es kam so plötzlich und unerwartet, daß ich nicht wußte, was ich denken sollte. «Victor lächelte ein wenig unbehaglich.»Und ich wußte nicht, was ich tun sollte. Denn nachdem ich Ihnen das erstemal begegnet war, kamen mir an meinem Entschluß, nach Schottland zu gehen, die ersten Zweifel.«

Sie griff sich ans Herz.»Wieso? Was habe ich — «

«Seit dem Abend unserer ersten Begegnung vor fünf Monaten spüre ich eine Unruhe in mir, die sich nicht zurückdrängen läßt, und ich weiß jetzt, daß ich in Schottland unglücklich geworden wäre. Jennifer, wenn Sie wüßten, wie groß meine Angst war, daß Sie nicht mehr hier sein könnten, wenn ich zurückkomme. Dann wäre alles umsonst gewesen.«

Jennifer wurde sehr bleich, Qual und Erschrecken spiegelten sich in ihrem Gesicht. Doch ehe sie etwas sagen konnte, erschienen lohn und Harriet wieder im Zimmer. Sie hatten ein Tablett mit Gläsern und eine Flasche Sherry mitgebracht, und nachdem John eingeschenkt und die Gläser herumgereicht hatte, brachte er einen Toast aus.

Auf unseren Bruder, Dr. Victor Townsend, auf sein Glück und einen Erfolg hier bei uns.«

Alle vier leerten ihre Gläser und John schenkte neu ein. Die Augen leicht zusammengekniffen gegen den Feuerschein und den Blick. i u f ihr Glas gerichtet, fragte Jennifer:»Wo werden Sie Ihre Praxis eröffnen, Mr. Townsend?«

Victor trat von der Tür weg und ging durch das Zimmer, um sich /u den drei anderen zu gesellen.»Warum nennen Sie mich immer i loch beim Nachnamen, Jennifer? Wir sind doch Freunde. Da können wir uns ruhig bei den Vornamen nennen.«

Wie recht du hast, Victor«, stimmte John zu und hob wiederum sein Glas zum Toast.»Schließlich gehört Jennifer ja jetzt zur Familie, da sie deine Schwägerin ist.«

Zum erstenmal seit seinem Eintreten sah Victor seinen Bruder an.»Pardon?«

«Aber du mußt doch meinen Brief bekommen haben! Soll das heißen, daß du es nicht weißt?«John legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter.»Und ich habe mich schon gewundert, warum du mir am Bahnhof nicht gratuliert hast. Jennifer und ich haben vor zwei Monaten geheiratet.«

Es war, als steckte ich in Victors Haut. Die Nachricht traf mich mit ungeheurer Wucht, das Zimmer schien zu schwanken, die Stimmen der anderen hörte ich wie aus weiter Ferne. Ich sah das Blitzen der Gläser im roten Licht des Feuers und glaubte wie er, unter dem grausamen Schlag zusammenbrechen zu müssen. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, daß ein Mensch so tiefen Schmerz und so bittere Enttäuschung empfinden konnte. Ich erinnerte mich an die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in den Sälen der Krankenhäuser, an Blut und Krankheit, an sinnloses Leiden, an die unterernährten Kinder und die notleidenden Mütter, an die, welche sich in die Krankenhäuser schleppten und auf ihren Stufen starben, weil sie nicht wußten, wohin, und weil die Ärzte drinnen sie nicht heilen konnten. Ich dachte an die einsamen Abende in dem schäbigen kleinen Zimmer, in dem ich bis spät in die Nacht hinein aufgesessen und an Jennifer gedacht hatte. Wie ist es möglich, fragte ich mich, eine Frau mit solcher Leidenschaft zu lieben, ohne sie überhaupt zu kennen. Ich dachte an die inneren Kämpfe, das qualvolle Ringen um die Entscheidung zwischen der wissenschaftlichen Karriere mit ihrer Verlockung beruflichen Erfolgs und dem brennenden Verlangen, Jennifer Adams wiederzusehen und sie zu lieben…

Ein eisiger Hauch wehte durch meine Seele, in der nun nichts war als Finsternis und Schmerz, Bitterkeit und Niedergeschlagenheit.»Ach, Victor«, hörten wir Harriets hohe, erschreckte Stimme,»du hast den Brief nicht bekommen? Wir haben ihn vor zwei Monaten abgesandt. Hast du wirklich keine Ahnung gehabt?«Wir sahen Harriet an und versuchten, uns zu erinnern, wie man sich in einer solchen Situation verhält, was sich schickt, und Victor schaffte es zu sagen:»Nein, ich habe keinen Brief bekommen… Ich hatte keine Ahnung.«

Er brachte es fertig, den Blick zu heben und Jennifer anzusehen. Er brachte es fertig, ruhig und gefaßt zu sagen:»Verzeiht mir also bitte, daß meine Glückwünsche so spät kommen. «Ein trostloses Bild stieg vor uns auf und ließ sich nicht vertreiben: das Bild eines Mannes, der sich lächerlich gemacht hat, indem er der Frau, die soeben seinen Bruder geheiratet hat, seine Liebe erklärte. Und im Hintergrund, fern und grau, die Mauern des Königlichen Krankenhauses von Edinburgh, dessen Tore nun für immer verschlossen bleiben würden…

«Ich habe den Brief nie erhalten«, wiederholte er mit mühsam beherrschter Stimme.»Die Postverteilung hat am College nie besonders gut geklappt. Aber verzeiht, ich habe nicht mit euch auf euer Glück getrunken.«

Victor hob sein Glas, neigte den Kopf in den Nacken und leerte das Glas mit einem Zug. Dann sah er wieder Jennifer an. Noch härter wirkte jetzt sein Gesicht, als hätte er eine neue Mauer hochgezogen, um seine Gefühle in Schach halten zu können. Er tat mir in der Seele leid. Victor stand in der Mitte des Zimmers, größer als die drei anderen, und doch schien er an Statur verloren zu haben. Seine Schultern waren gekrümmt, seine Arme hingen schlaff zu seinen beiden Seiten herunter. Nur er und ich wußten, was in diesem Augenblick in seiner Seele vorging; nur er und ich spürten die Bitterkeit und den Groll. Seinen Geschwistern zeigte er die Maske, die diese sehen wollten, und verbarg sich hinter ihr.»Nochmals — meinen Glückwunsch«, sagte er.»Das scheint mir ein sehr schneller Entschluß gewesen zu sein. Denn vor fünf Monaten, als ich das letzte Mal hier war, wart ihr doch noch nicht einmal verlobt, nicht wahr?«Sein Ton war leicht und ungezwungen.»Richtig, Victor, damals waren wir noch nicht verlobt. Aber wir haben es kurz danach nachgeholt. «John hielt Victor, der zur Sherryflasche gegriffen hatte, sein Glas hin.»Mach es doch gleich ganz voll, ja? — Danke. Du siehst also, Victor, du bist nicht der einzige Überraschungskünstler in der Familie.«

Johns Lächeln, als er das sagte, gefiel mir nicht. Seine Stimme hatte einen metallischen Unterton. Es war klar, daß er auf Victor eifersüchtig war und glaubte, einen Sieg über ihn davongetragen zu haben.

«Victor«, sagte Jennifer, mit kräftigerer Stimme jetzt,»wir glaubten, Sie würden nie zurückkehren. Wir hatten keine Ahnung. «Seine Augen verrieten nichts von seinen Gefühlen, als er sie ansah.»Ich wußte es ja bis vor vierzehn Tagen selbst nicht. Ich habe mich ganz impulsiv entschieden.«

«Das sieht dir gar nicht ähnlich, Victor«, warf John ein.

«Ach, wenn wir es nur gewußt hätten«, sagte Jennifer und versuchte, ihm mit Blicken mitzuteilen, was sie nicht in Worte zu fassen wagte.

«Was wäre dann gewesen?«Victor leerte sein Glas.»Hättet ihr dann die Trauung bis zu meiner Ankunft aufgeschoben? Wie aufmerksam von euch. Und wie rücksichtslos von mir, daß ich euch nicht viel früher von meinen Plänen Mitteilung gemacht habe. Aber das konnte ich eben nicht.«

«Aber Victor, laß doch! Hauptsache, du bist zurück!«Harriet faßte seine Hand und drückte sie. Das Strahlen ihrer Augen verriet mir, wie sehr sie ihren großen Bruder vergötterte. Doch von seinen Gefühlen schien sie nichts zu ahnen.»Vater hat sich so gefreut, als dein Brief kam. Du hättest ihn sehen sollen. Er hat richtig gelächelt, Victor. Und er ist jetzt so stolz auf dich. Dein hervorragendes Examen — «

«Danke, Schwesterchen«, sagte er trotz aller Bitterkeit mit Wärme in der Stimme.»Es tut gut zu wissen, daß ich willkommen bin.«

«Und Mutter hat die ganze Nacht geweint, nachdem sie deinen Brief gelesen hatte. Sie konnte sich gar nicht fassen. Sie ist fortgegangen, um eine Gans zu besorgen, Victor. Heute abend gibt es dir zu Ehren ein richtiges Festessen.«

Während Harriet in einem fort plapperte und John sich mit einem frischen Glas Sherry ans Feuer setzte, tauschten Victor und Jennifer einen letzten Blick.

Kapitel 10

Der Abend wird mir ewig als ein Alptraum im Gedächtnis bleiben. Victor war in der Erwartung heimgekehrt, Jennifer ungebunden vorzufinden, und hatte die Träume mitgebracht, die er um seine Liebe zu ihr gesponnen hatte. Nachdem er von ihrer Heirat mit John erfahren hatte, war es ihm nicht möglich, auch nur eine Nacht in dem Haus zu verbringen, in das er sie als seine Frau zu holen gehofft hatte. Er erklärte darum seinen Geschwistern, er hätte ein Zimmer im Gasthaus Horse's Head gemietet. John, Harriet und Jennifer, die von der brennenden Scham über seine Torheit, von seiner Enttäuschung und seiner Bitterkeit nichts ahnten, glaubten ihm, als er sagte, er müsse gehen und dafür sorgen, daß sein Gepäck vom Bahnhof zum Gasthaus gebracht werde. Sie baten ihn alle drei, damit bis nach dem Abendessen zu warten, doch Victor ließ sich nicht erweichen. Er wolle das letzte Tageslicht nutzen, erklärte er, und die Tatsache, daß es im Moment gerade nicht so stark regne.

Ich allein wußte, daß Victor, der energischen Schritts in den Flur hinausging und sich seinen Umhang über die Schultern warf, in den strömenden Regen hinaus mußte, um sich eine Unterkunft zu besorgen, daß er keine Bleibe hatte, daß kein warmes Zimmer mit einem freundlichen Feuer am Ende eines kurzen Wegs auf ihn wartete. Ich allein wußte, warum er gerade jetzt in den peitschenden Regen hinausstürmen und sich den tobenden Elementen preisgeben mußte. Er war zu zornig und zu aufgewühlt, um noch eine Minute länger in diesem kleinen Zimmer zu sitzen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

John erbot sich, ihm einen Wagen zu rufen, aber Victor lehnte ab. Harriet ermahnte ihn, rechtzeitig zum Abendessen zurückzukommen. Jennifer tat gar nichts, stand nur stumm, wie benommen am Kamin, während Victor seinen Hut aufsetzte und zur Haustür ging. Die Hand schon auf dem Knauf, warf er einen letzten Blick zurück, bei dem mir eiskalt wurde. Er war wie eine finstere Vorahnung dessen, was kommen würde.

Im Lauf von vier Jahren hatte Victor Townsend Pessimismus und Mißtrauen gelernt. Seine Erfahrungen hatten ihn zu einem Mann geformt, dem es längst nicht mehr einfiel, den

Silberstreif am Horizont zu suchen, und an diesem Abend hatte er den letzten Schlag empfangen. Um einer Frau willen, die er kaum kannte, hatte er in blinder Leidenschaft alles aufgegeben, was ihm wichtig gewesen war. Und nun stand er mit leeren Händen da. Nichts war ihm geblieben als bitterer Selbstvorwurf.