Lachend hakte ich mich bei ihr ein.»Wenn mein Kopf nicht festgewachsen wäre…«, sagte ich, und wir gingen hinaus. Ich wollte noch einen letzten Blick auf meinen Großvater werfen, aber die zufallende Tür versperrte mir die Sicht.

«Was macht dein Bauch heute?«fragte Großmutter, als wir später beim Abendessen saßen.

Es gab dicke Schinkenbrötchen und warme Milch, und wir sahen beide in den Garten hinaus, wo die ersten Regentropfen fielen. Ich fieberte schon meiner nächsten Begegnung mit den Townsends entgegen und hatte Mühe, mich auf ein Gespräch mit Großmutter zu konzentrieren. Mein Verlangen, in die Vergangenheit zu schauen und am Leben der Townsends teilzuhaben, wurde immer stärker, während die reale Welt zunehmend an Wichtigkeit verlor. Ich wollte John und Harriet, Victor und Jennifer sehen. Selbst wenn ich niemals zu ihnen gehören konnte, selbst wenn ich immer an der Peripherie ihrer Welt bleiben mußte — das war es, was ich wollte, nicht das reale Leben. Meine lebenden Verwandten waren mir nur ein Hemmnis. Solange sie da waren, erschienen die Toten nicht. Erst wenn Großmutter zu Bett ging oder in ihrem Sessel einnickte, würde ich die Townsends wiedersehen, und ich wünschte, ich könnte mich irgendwie von Großmutters lästiger Anwesenheit befreien.

«Was macht dein Bauch?«fragte Großmutter wieder.»Hm?«Ich trank den letzten Schluck Milch und wandte den Blick vom Fenster.»Oh, alles in Ordnung, Großmutter.«

«Möchtest du noch einen Löffel von der Medizin?«

«Nein! Oh — nein, danke. Sie hat schon gewirkt. «Medizin — Medizin — dieses klebrige weiße Zeug. Wann hatte ich es genommen? War das erst gestern abend gewesen? Waren erst vierundzwanzig Stunden vergangen, seit ich mich aus einer leeren Hülle in ein lebendiges Wesen verwandelt hatte? Eine Frau, die fühlte und liebte. Ja, ich liebte Victor Townsend. Und ich begehrte ihn.

Dieser Gedanke, der mich ganz plötzlich ansprang, erstaunte mich. Aber ja, es war wahr. Ich liebte diesen Mann nicht nur, ich begehrte ihn auch. Ich brauchte nur an ihn zu denken, seine Nähe, sein Gesicht, seinen Körper, und ich hatte das Gefühl, dahinzuschmelzen. Aber ich würde ihn niemals berühren können. Obwohl er mir in Fleisch und Blut erschien, konnte ich ihn so, wie ich ihn kennen wollte, nur in Träumen und Phantasien kennen.

Ich ertappte mich bei der Vorstellung, wie es wäre, von ihm geküßt zu werden…

Einen Moment stockte mir der Atem. Ich setzte die Teetasse, die ich eben zum Mund führen wollte, wieder ab und starrte meine Großmutter an, als wäre sie es, die diese Vorstellung geäußert hätte.

Ich liebte meinen eigenen Urgroßvater! Verrückt! Er war seit mindestens achtzig Jahren tot. Er existierte nicht. Der Mann, den ich sah, wenn ich Victor Townsend anzusehen glaubte, war ein Trugbild, hervorgerufen durch einen unerklärlichen Zusammenprall der Zeiten. Im Grund liebte ich eine Fotografie oder einen Mann, den meine Phantasie mir vorgaukelte. Und an Phantasien fehlte es mir nicht. Den ganzen Tag hatte ich an Victor gedacht. Vielerlei Gedanken hatte ich mir über ihn gemacht, aber am brennendsten beschäftigte mich immer wieder die Frage, wie es sein mußte, von einem so feurigen Mann geliebt zu werden.

Ich führte die Tasse zum Mund und trank den süßen Tee. Warum nur gab Großmutter immer soviel Zucker in den Tee? Er verdarb das ganze Aroma.

Ich konnte der Wahrheit nicht ausweichen. Ich liebte meinen eigenen Urgroßvater. Und es war eine Liebe, die nie Erfüllung finden würde. Ich konnte nicht hoffen, daß er mich je sehen oder berühren würde. Der Victor Townswend, den ich sah, und der, welcher mich in meiner Phantasie in den Armen hielt, hatten nur eines gemeinsam: Sie waren beide tot.

«Sind deine Beine jetzt ein bißchen besser? Soll ich sie dir noch mal einreihen? Mit Creme.«

Ich starrte meine Großmutter an. Sie hatte keine Ahnung, was mich so intensiv beschäftigte, warum ich den ganzen Tag so schweigsam gewesen war. Am liebsten hätte ich ihr in diesem Moment alles erzählt; was ich meinem Großvater gesagt hatte, daß Victor Townsend ein guter Mensch gewesen war, daß ich ihn gesehen hatte, daß er in irgendeiner Form noch immer unter diesem Dach existierte. Aber ich konnte es nicht. Großmutter hätte mich nicht verstanden. Und vielleicht hätte ich Victor auf immer verloren, wenn ich ihr von ihm gesprochen hätte. Daran wollte ich am liebsten gar nicht denken. An das Ende. Das letzte Kapitel der Geschichte. Ich wünschte mir, die Begegnungen mit Victor würden ewig weitergehen, geradeso wie er und Jennifer nun ewig lebten und fort und fort jene Abende des Jahres 1890 erlebten. Niemals wollte ich dieses Haus verlassen, niemals nach Los Angeles zurückkehren, weil ich dann den Schatz verlieren würde, den ich hier gefunden hatte.

Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich lebendig.»Sie tun noch ziemlich weh, Großmutter.«

«Dann komm, Kind, ich creme sie dir ein.«

Wir gingen zu unseren Sesseln vor dem Kamin, und ich wünschte, ich könnte das Gasfeuer herunterdrehen. Aus irgendeinem Grund wurde mein Körper immer empfindlicher gegen Wärme und schien der Kälte zu bedürfen, die mich anfangs so abgeschreckt hatte. Als Großmutter am Morgen ins Zimmer gekommen war und mich angekleidet auf dem Sofa hatte liegen sehen, hatte sie ärgerlich gerufen:»Das Gas ist ja schon wieder aus! Es ist eiskalt hier. Andrea, frierst du denn nicht?«

Ich hatte tatsächlich nicht gefroren, obwohl ich nur mit Jeans und T-Shirt bekleidet gewesen und die Temperatur im Haus nicht über zehn Grad gewesen war. Später, als sie den Gasofen voll aufgedreht hatte, war ich vor Hitze fast umgekommen. Während ich jetzt vor den niedrigen Flammen saß und mit hochgeschobenen Hosenbeinen darauf wartete, von Großmutter eingesalbt zu werden, fühlte ich mich wie erstickt von der Wärme und wünschte nur, ich könnte den verflixten Heizofen ausmachen. Während Großmutter vorsichtig und behutsam die Creme auf meine roten Beine auftrug, sah ich zum Fenster hinaus. Der Himmel hatte sich verdunkelt. Ein Gewitter war aufgezogen. Regen prasselte an die Fenster, Blitze erhellten flüchtig die Finsternis mit geisterhaftem Licht, Donnerschläge krachten wie Böllerschüsse.

Ich genoß die Stimmung und starrte fasziniert zum Fenster hinaus. Als meine Großmutter eine Weile später erklärte, sie wolle hinaufgehen und sich hinlegen, weil ihr die Arthritis bei diesem feuchten Wetter so sehr zu schaffen mache, konnte ich kaum meine Erleichterung und freudige Erregung verbergen. Bald würde ich Victor wiedersehen.

Kapitel 11

Ich saß auf dem Sofa und lauschte dem gleichmäßigen Rauschen des Regens, als mir plötzlich bewußt wurde, daß die Uhr auf dem Kaminsims nicht mehr tickte. Es war gerade Mitternacht. Und schon begann das Zimmer um mich herum, sich zu verändern. Es ging sachte und allmählich vor sich, wie die Überblendung von einer Filmszene in eine andere, und es wurde kühler im Raum. Das bunte Blumenmuster der beiden Sessel begann sich zu verwischen, dann zeigte sich der warme Schimmer grünen Samts, und ich hatte die Sessel vor mir, die im Jahr 1890 genau an diesem Platz gestanden hatten — fast neu, die Bezüge kaum abgenutzt, die Polsterung noch fest und stabil.

In einem der Sessel saß Harriet. Sie schien wieder einen ihrer geheimen Briefe zu schreiben. Die Feder flog schnell über das Papier, das sie auf ihrem Schoß hielt. Wie beim letzten Mal, als ich sie gesehen hatte, blickte sie immer wieder zur Uhr, hob ab und zu lauschend den Kopf, als hätte sie draußen etwas gehört, und schrieb dann hastig weiter.

Ich hätte gern gewußt, wer der Empfänger dieser Briefe war, warum Harriet sie in solcher Hast schrieb, warum sie Angst hatte, beim Schreiben ertappt zu werden. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte ihr über die Schulter geblickt, aber das wagte ich nicht. Ich fürchtete, eine Bewegung von mir könnte diesen zerbrechlichen Moment auslöschen. Darum blieb ich reglos auf dem Sofa sitzen und begnügte mich damit, Harriet zu betrachten. Es war still im Zimmer, nur das Kratzen der Feder auf dem Papier war zu hören und von draußen, jenseits der geschlossenen Vorhänge, das Rauschen des Regens. Im offenen Kamin verglühten die letzten Reste des abendlichen Feuers. Ein Blick auf die viktorianische Uhr auf dem Kaminsims zeigte mir, daß es auch in Harriets Zeit Mitternacht war. Es war anzunehmen, daß der Rest der Familie bereits zu Bett gegangen war. Harriets Eltern schliefen wahrscheinlich im hinteren Schlafzimmer, John und seine junge Frau hatten vermutlich das Vorderzimmer bezogen. Das hieß, daß Harriet sich mit einem Provisorium entweder in diesem Zimmer oder im Salon begnügen mußte, bis das junge Paar in sein eigenes Heim umzog. Es würde, dachte ich, gewiß nicht mehr lang dauern, bis John und Jennifer ihren eigenen Hausstand gründeten. Als mir einfiel, daß zu dieser Vermutung eigentlich kein Anlaß bestand, da John und Jennifer ja noch hier lebten, wurde mir klar, daß ich irgendwie Harriets Gedanken empfangen mußte. Vielleicht schrieb sie darüber gerade in ihrem Brief, beschwerte sich vielleicht über diesen Zustand — so jedenfalls war der Eindruck, den ich erhielt. Ich konnte zwar nicht gerade ihre Gedanken lesen, doch ihre Stimmung teilte sich mir deutlich mit. Genauso war es mir ja schon mit Victor und seinem Vater und später auch mit Jennifer ergangen.

Ich beobachtete Harriet gespannt, und während ihre Feder noch wie gejagt über das Papier flog, begann sie langsam vor meinen Augen zu verblassen, bis sie und die grünen Samtsessel verschwunden waren und wieder die alten ausgesessenen Sessel mit den geblümten Schonbezügen vor mir standen. Ich war enttäuscht über die Kürze der Szene und noch enttäuschter, Victor nicht gesehen zu haben. Aber er lebte ja nun nicht mehr in diesem Haus und besuchte es vermutlich nur selten. Aber wo war er? Hatte er sich irgendwo eine Wohnung genommen oder ein Zimmer, oder lebte er immer noch im Gasthaus Horse's Head? Nichts an Harriets kurzem Auftritt hatte mir einen Hinweis darauf gegeben, wieviel Zeit seit Victors Heimkehr verstrichen war. Ich hatte keine Ahnung, was sich inzwischen ereignet hatte, ob er sich überhaupt noch in Warrington aufhielt. Noch eine andere Frage beschäftigte mich. Wozu war Harriet mir soeben gezeigt worden? Welchen Sinn hatte es, wenn überhaupt einen, mich Zeugin dieser flüchtigen Szene werden zu lassen? Ich kam nicht dazu, gründlicher über diese Frage nachzudenken; im nächsten Augenblick hörte ich einen schrecklichen Schrei. Ich sprang auf. Der Schrei hatte mich so überrascht, daß ich nicht wußte, aus welcher Richtung er gekommen war. Dann polterte es laut, als wäre ein Möbelstück umgestürzt. Ich sah zur Zimmerdecke hinauf. Die Geräusche kamen von oben. Ich hörte Füßescharren und Stampfen, als würde da oben ein Kampf ausgetragen. Es krachte und polterte, und wieder schallte ein Schrei durch das Haus.

Der Schrei einer Frau. Ohne weitere Überlegung stürzte ich aus dem Wohnzimmer in den Flur. Ich blickte in die Schwärze des Treppenschachts hinauf und horchte angespannt.

Wieder drangen von oben die Geräusche eines Handgemenges zu mir herunter. Ich hörte das gedämpfte Klatschen eines Schlags, danach wieder ein Krachen. Und wieder schrie die Frau auf, mit einer Stimme, die schrill war vor Angst.

Ich verlor keine Zeit. Obwohl ich nicht die Hand vor den Augen sehen konnte, rannte ich stolpernd die Treppe hinauf. Zweimal fiel ich, die letzten paar Stufen kroch ich auf allen vieren hinauf. Oben angekommen, richtete ich mich auf und lehnte mich keuchend an die Wand.

Die Finsternis und die Stille waren bedrohlich. Ich tastete an der Wand nach dem Lichtschalter, fand ihn und drückte ihn herunter. Aber es geschah nichts. Es blieb stockfinster. Wie eine Besessene fummelte ich am Schalter herum und suchte gleichzeitig mit fassungslosem Blick an der dunklen Decke nach der Lampe. Ich sah nichts, und das Licht ging nicht an. Ich war von undurchdringlicher Schwärze umgeben, die mir angst machte, so daß ich mich schutzsuchend an die Wand drückte. Während ich so stand, zu geängstigt, um einen Schritt vorwärts zu wagen, hörte ich wieder die Geräusche eines Kampfes, lauter jetzt. Irgendwo am Ende des Flurs, vielleicht im vorderen Schlafzimmer, rangen ein Mann und eine Frau miteinander — dumpfe Schläge, Poltern, eine wütende Männerstimme, und immer wieder die Schreie und das Wimmern der Frau.

Die Finsternis war so dicht, daß ich das Gefühl hatte, am Eingang einer unermeßlich großen Höhle zu stehen. Obwohl mir vor Angst eiskalt war, trieb es mich jetzt vorwärts. Ich mußte sehen, was sich dort hinten abspielte. Ein fremder Wille ergriff Besitz von mir und lenkte meine Schritte. Wie eine Schlafwandlerin tappte ich durch den finsteren Flur, den schrecklichen Geräuschen entgegen. Dicht vor der Tür zum Vorderzimmer blieb ich stehen und hob den Arm. Meine Hand berührte das harte, kalte Holz der Tür. Die Stimmen aus dem Zimmer waren jetzt deutlich vernehmbar.»Nein, bitte nicht«, wimmerte Harriet.»Bitte, es tut mir leid… tu's nicht…«