Ich drückte die Augen zu und preßte beide Hände auf die Ohren, aber sie konnten mich vor der erregten Stimme des Mannes nicht schützen.»Du heiratest keinen Papisten!«donnerte er.»Du wirst es nicht wagen, gegen meinen Willen zu handeln. «Angstvoll und verwirrt sah ich mich in der Dunkelheit um und versuchte zu begreifen, was vorging. Harriets Stimme konnte ich klar erkennen, doch die Männerstimme konnte ich nicht identifizieren. Sie konnte Harriets Vater gehören. Oder John. Oder — Victor.
«Aber ich liebe ihn«, stieß Harriet weinend hervor. Wieder klatschte ein Schlag, wieder schrie Harriet auf. Die Spannung war kaum zu ertragen, und dennoch konnte ich mich nicht vom Fleck rühren. Es war, als wäre ich dazu verdammt, ihren Streit mitanzuhören, ohne eingreifen zu können.»Du wirst diesen Sean O'Hanrahan nicht wiedersehen, und damit Schluß. Wir haben dir den Umgang mit diesen Leuten verboten. Wehe, ich erwische dich noch einmal dabei, daß du diesem Burschen Briefe schreibst! Bei Gott, du wirst wünschen, du wärst tot!«
Ich hörte ein Geräusch, als würde etwas über den Boden geschleift. Ich hörte schwere Schritte und das Keuchen heftiger Anstrengung. Harriet wimmerte und weinte zum Gotterbarmen. Aber ich hörte keine Schläge mehr, kein Poltern, keine Schreie. Dann wurde es einen Moment ganz still. Danach klappte eine Tür zu, ein Schlüssel drehte sich knirschend im Schloß. Plötzlich öffnete sich die Tür zum Vorderzimmer unter meiner Hand, und kalter Wind blies mir ins Gesicht. Das Zimmer war wie damals, als ich Harriet schluchzend auf dem Bett hatte liegen sehen, von einem gespenstischen Licht erfüllt. Diesmal jedoch strahlte das Licht nicht auf das Bett, sondern auf den Kleiderschrank, einem Leitlicht in dunkler Nacht gleich. Ich blickte mit weit aufgerissenen Augen in das Licht, von einem Grauen erfaßt, das ich nun schon kannte. Ich wollte nicht in das Zimmer hineingehen. Ich wollte nur kehrtmachen und davonlaufen, die Treppe hinunterstürzen und schreiend in die
Nacht fliehen. Die lauernden Schatten im Zimmer, der grabeskühle Luftzug — das alles hatte etwas Unirdisches. Auf der anderen Seite der Tür wartete das Grauen, und ich wurde hineingezogen. Wie in einer Trance und dennoch hellwach ging ich Schritt für Schritt zum Kleiderschrank, und als ich vor ihm stehenblieb, sah ich, wie neu er war, wie glänzend poliert das Holz, wie klar erkennbar seine Maserung. Es war der Kl ei der schrank einer längst vergangenen Zeit, und in ihm hingen nicht, das wußte ich, meine alten Blue Jeans und T-Shirts, sondern das grausige Werk eines Tyrannen, der lang unter der Erde lag.
Ich hatte keine Macht über meine Hand, als diese sich zur Schranktür bewegte. Mein ganzer Körper war in Schweiß gebadet, der mir eiskalt über die Haut rann. Mein Atem war flach und hechelnd; ich spürte das Flattern meines Herzens. Solches Grauen hatte ich nie erlebt. In diesem Kleiderschrank wartete etwas auf mich. Aus irgendeinem Grund senkte ich den Blick zu meinen Füßen und gewahrte auf dem leuchtenden Teppich des Jahres 1891 einige hellrote Tropfen frischen Bluts. In einem dünnen Rinnsal führten sie zum Schrank, und der letzte Tropfen haftete an seinem Sockel, wie im letzten Moment gefallen, bevor die Tür zugeschlagen worden war.
Hatte man Harriet in diesen Schrank eingesperrt? Oder war es nicht Harriet, die in diesem Schrank saß, sondern jemand anderer? Oder — etwas anderes?
Der unheimliche Sog des Schranks, den ich schon in meiner ersten Nacht in diesem Zimmer gespürt hatte, ließ nicht nach. Ich zitterte am ganzen Körper, ich hatte völlig die Herrschaft über mich selbst verloren. Ich mußte den Arm heben und die Schranktür öffnen. Ich mußte sehen, was sich darin verbarg. Und während meine Hand sich gegen meinen Willen hob — als stünde ich unter dem Zwang einer fremden Macht —, während Übelkeit in mir aufstieg und mich fast erstickte, dachte ich gleichzeitig, ich werde gezwungen, dieses Ding zu befreien. Obwohl meine Hand unkontrollierbar zitterte, gelang es mir, den Schlüssel zu umfassen, der in dem kleinen Messingschloß steckte, und ich sah, wie weiß meine Finger waren, die ihn fest umspannten. Dann drehte meine Hand, so sehr ich mich dagegen zu wehren versuchte, langsam den Schlüssel nach rechts, bis ich ein metallisches Knacken hörte. Langsam schwang die Schranktür auf.
Mir war so schwach und übel, daß ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Eine kalte, feuchte Hand berührte mein Gesicht und spürte dort den kalten Schweiß. Meine Hand, die jemand anderem zu gehören, die völlig körperlos zu sein schien, strich mir über Stirn und Nacken. Der Schrank mit der sich Zentimeter um Zentimeter öffnenden Tür begann vor meinem Blicken zu schwanken und drohte zu kippen; der Boden unter meinen Füßen hob und senkte sich in Wellenbewegungen, und das geisterhafte Licht begann jetzt zu verblassen.
Noch während die fransigen Ränder der Dunkelheit näherrückten, um mich einzuhüllen, gewahrte ich hinter der Schranktür etwas Weißes, dann fiel die Finsternis wie ein schwarzer Sack über meine Augen.
Als ich zu mir kam, lag ich im Vorderzimmer auf dem Boden. Am Kopf hatte ich eine schmerzende Beule. Benommen öffnete ich die Augen und sah, daß die Lampe im Flur brannte. Sie verströmte genug Licht, um das Zimmer aus dem Dunkel zu heben. Seitlich von mir stand groß und massig der alte Kleiderschrank. Eine Tür war offen. Ich konnte meine Jeans und T-Shirts erkennen, die auf den Bügeln hingen. Der Teppich unter mir war alt und fadenscheinig und roch muffig.
Ich wußte nicht, wie lange ich hier gelegen hatte, aber als ich mich aufrichtete, merkte ich, daß meine Glieder völlig steif waren. Mit schmerzendem Kopf und schmerzendem Rücken schleppte ich mich aus dem Zimmer in den Flur. An der Treppe blieb ich stehen und lauschte. Aus Großmutters Zimmer kam kein Laut. Ich war froh, daß ich sie nicht geweckt hatte. Ich ließ das obere Licht brennen und kroch langsam die Treppe hinunter. Mit großer Erleichterung rettete ich mich in die helle Vertrautheit des Wohnzimmers.
Ich wußte, wo im Büffet Großmutter ihre Kopfschmerztabletten aufbewahrte, und holte mir drei heraus. In der Küche ließ ich mir ein Glas Wasser einlaufen, nahm die
Tabletten und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Ich sperrte die Küchentür wieder ab, schob die Polsterrolle vor die Ritze und setzte mich auf die Couch. Der Uhr zufolge hatte mein nächtliches Abenteuer drei Stunden gedauert. Das hieß, daß ich mindestens zwei davon bewußtlos gewesen war.
Und was war eigentlich geschehen? Ich versuchte, mich des Dialogs zu erinnern, wenn man es als solchen bezeichnen konnte, den ich im Vorderzimmer gehört hatte. Einer der Männer der Townsend-Familie hatte Harriet auf brutale Weise terrorisiert. Und warum? Weil sie einen Mann liebte, der der Familie nicht paßte?
Ich neigte mich vornüber und legte meinen Kopf in meine Hände. Wie grausam, einen Menschen zu lieben, dessen Liebe einem für immer verwehrt bleiben mußte! Sie tat mir entsetzlich leid. Sachte wiegte ich mich hin und her, während draußen der Regen gegen die Scheiben trommelte, und beklagte Harriets Schicksal. So ein unschuldiges Ding, dachte ich, so kindlich und naiv. Was würde aus ihr werden? Was wartete noch an Schmerz und Unglück auf sie? Erst Victor und jetzt Harriet. War es möglich, daß in der Tat Schreckliches sich in diesem Haus zugetragen hatte, daß Großmutter recht hatte? War dies vielleicht der Beginn des Schreckens, ein Vorgeschmack gewissermaßen auf das, was noch kommen würde?
Ich streckte mich vorsichtig auf dem Sofa aus, den Kopf auf die Seite gelagert und starrte in die Dunkelheit. Es war genau wie in der vergangenen Nacht: Gedankenströme stürzten auf mich ein, und Schlaf blieb mir verwehrt. Das Haus in der George Street hatte mich in seiner Gewalt und würde mich erst loslassen, wenn es mit mir fertig war. Ihm hilflos ausgeliefert, lag ich auf dem Sofa in qualvoller Erwartung der nächsten Erscheinung aus der Vergangenheit.
Irgendwann mußte ich dennoch eingeschlafen sein. Am Morgen weckte mich meine Großmutter, die ins Zimmer kam, die Vorhänge aufzog und sich laut über den strömenden Regen aufregte. Wie am vergangenen Morgen war ich im Nachthemd, und meine Sachen lagen ordentlich gefaltet auf einem Stuhl.»Du scheinst sehr gut geschlafen zu haben, Kind«, bemerkte Großmutter mit müder Stimme.»Ich hab jedenfalls die ganze Nacht keinen Mucks von dir gehört, obwohl ich vor Schmerzen kaum ein Auge zugetan hab. Bei diesem verflixten Regen setzt mir die Arthritis immer teuflisch zu.«
Ich setzte mich langsam auf. Die Beule an meinem Hinterkopf pochte schmerzhaft.
«Sind deine Beine ein bißchen besser?«Großmutter ging im Zimmer umher, als wollte sie es für den Tag wecken. Sie zog die Vorhänge auf, öffnete die Küchentür, legte die Sets auf den kleinen Eßtisch und sah schließlich nach dem Heizofen.»Er ist ja schon wieder aus!«rief sie entrüstet.»Was ist denn nur los mit dem verdammten Ding? Ich muß den Gasmann holen, der soll sich den Ofen mal ansehen. Das ist noch nie passiert, daß er immer wieder ausgeht.«
Ohne etwas zu sagen, nahm ich meine Sachen und ging zur Tür. Als ich sie aufzog, um hinauszugehen, hörte ich meine Großmutter sagen:»Der Besuch im Krankenhaus fällt heute aus. Der Regen spült einen ja von der Straße.«
Zu benommen, um etwas zu entgegnen, trat ich in den Flur und stieg die Treppe hinauf. Im Badezimmer, wo es so kalt war, daß meine Lippen, wie ich im Spiegel sah, sich blau verfärbten, wusch ich mich von oben bis unten mit eisigem Wasser und frottierte mich langsam trocken. Die Kälte machte mir überhaupt nichts mehr aus. Ich hatte mich an sie gewöhnt.
Als ich im Bad fertig war, blieb ich draußen vor der Tür stehen und blickte durch den dämmrigen Flur zur Tür des vorderen Schlafzimmers. Erinnerungen an das Grauen der Nacht überfielen mich, und ich schlang fröstelnd beide Arme fest um meinen Oberkörper.
Auf bleiernen Füßen tappte ich durch den Korridor nach hinten. Von unten, wie aus unerreichbarer Ferne, hörte ich Großmutter vergnügt vor sich hin trällern. Sie lebte in einer anderen Zeit. Vor der Tür des Schlafzimmers angekommen, blieb ich stehen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und mein Mund war trocken. Den Blick auf die Tür gerichtet, lauschte ich angespannt. Auf der anderen Seite war alles still. Schließlich drehte ich entschlossen den Türknauf und stieß die Tür auf.
Das Zimmer zeigte sich mir in beruhigender Alltäglichkeit. Trotz des starken Regens fiel durch das Fenster hinter den halbgeöffneten Vorhängen genug graues Morgenlicht herein, um es in nüchterner Klarheit auszuleuchten. Da lag mein Koffer, da standen das Bett und der kleine Nachttisch, unter meinen Füßen lag der fadenscheinige Teppich, und da war der schäbige alte Kleiderschrank. Zu ihm ging ich hin und blieb vor der offenen Tür stehen.
Meine Blue Jeans hingen da und meine T-Shirts. Auf dem Boden lagen ein paar Flusen, Zeugnis dafür, daß der Schrank jahrelang leergestanden hatte. Und das war alles. Kein Hinweis darauf, was eines späten Abends im Jahr 1891 in diesen Schrank eingesperrt worden war und wie lange es dort eingeschlossen geblieben war. Ich hatte es plötzlich eilig, aus dem Zimmer hinauszukommen, die Gesellschaft meiner Großmutter zu suchen. Ich warf meine Sachen kurzerhand aufs Bett, lief hinaus und schlug krachend die Tür hinter mir zu.
Als ich unten ankam, sah ich, daß die Tür zum alten Salon offenstand. Wie angewurzelt blieb ich stehen und starrte auf die offene Tür. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Und in welchem Jahr befinden wir uns jetzt? fragte ich mich in angstvoller Verwirrung.
Unschlüssigkeit lahmte mich. Ich sehnte mich nach der vertrauten, schäbigen Gemütlichkeit des Wohnzimmers, aber ich wußte, wenn im Salon die Vergangenheit wieder zum Leben erwacht war, mußte ich mich ihr stellen. Ich hörte ein Geräusch und erschrak fast zu Tode. Dann aber holte ich tief Atem und ging zögernd ein paar Schritte in den dunklen Salon hinein. Irgend jemand — oder etwas — bewegte sich hier drinnen. Wieder blieb ich stehen, versuchte, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen, und sah, vage und undeutlich, eine Gestalt. Alle meine Sinne aufs äußerste angespannt, versuchte ich, die Atmosphäre um mich herum aufzunehmen, um erkennen zu können, in welcher Zeit ich mich befand.
Ein weißes Gesicht tauchte plötzlich vor mir auf. Ich schrie unterdrückt auf und wich einen Schritt zurück.
«Viel zu kalt hier drinnen für dich, Kind«, sagte meine Großmutter, schob mich vor sich her aus dem Zimmer und machte die Tür zu.»Geh lieber ins Wohnzimmer, wo es warm ist. Komm.«
«Was hast du da drinnen getan, Großmutter?«Gekrümmt humpelte sie vor mir her.»Ach, ich hab nur ein bißchen aufgeräumt. Komm, der Tee ist fertig.«
Während Großmutter in der Küche verschwand, setzte ich mich auf meinen gewohnten Platz am kleinen Eßtisch, den sie schon für uns gedeckt hatte. Da standen eine große Kanne mit dampfendem Tee, eine Schale Butter, mehrere Gläser Marmelade, die Zuckerdose und ein Krug warme Milch. Schon beim Anblick all dieser Dinge wurde mir übel. Hastig drehte ich den Kopf zum Fenster.
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