«Frühestens in einer Stunde.«

«Gut, gut. «In Gedanken versunken rieb er sich die Hände.»John? Was hat das alles zu bedeuten? Wer war dieser Mann?«

«Hm? Wie? Oh — «John wedelte wegwerfend mit der Hand.»Ach, niemand. Ein Mann eben.«

«Aber er war schon einmal hier. Als du nicht zu Hause warst. Wer ist er? Er gefällt mir nicht.«

«Das geht dich gar nichts an«, fuhr John sie plötzlich an, so daß sie erschrocken zurückfuhr. Augenblicklich zerknirscht, zwang sich John zu einem Lächeln und sagte beschwichtigend:»Sagen wir einfach, er ist ein Geschäftsfreund.«

Harriet nickte nur und wandte sich von ihrem Bruder ab. Die Hände ineinander gekrampft, tiefe Unruhe auf dem Gesicht, ging sie um den moosgrünen Sessel herum. Aber nicht der Fremde an der Tür, sondern etwas anderes quälte Johns Schwester. Mit großer Sorgfalt, das sah ich von meinem Platz aus, wählte sie ihre nächsten Worte.

«John, ich habe Victor heute getroffen.«

John blickte nicht auf. Er starrte ins Feuer und war mit seinen Gedanken ganz woanders.

«Ich habe ihn auf dem Anger getroffen. Er sagte, er hätte sehr viel zu tun. Er hat eine Menge Patienten. Deshalb kommt er nie her. Ich habe ihn zum Abendessen eingeladen. Ich habe ihm gesagt, wie sehr Vater sich freuen würde, wenn er käme. Aber ich glaube, er wird nicht kommen. Willst du ihn nicht einmal auffordern?«John hob den Kopf.»Wie? Was sagst du? — Ach so, Victor. Ich war in seiner Praxis. Gar nicht übel. Sie schicken viele aus dem Krankenhaus zu ihm. Er steht sich gut mit den Ärzten dort. Ich hab ihn schon eingeladen, Harriet, aber er scheint keinen großen Wert darauf zu legen, uns zu besuchen. Wegen Vater ist es nicht, das weiß ich. Sie haben sich ausgesöhnt.«

«Was ist es dann?«

John zuckte die Achseln.»Keine Ahnung.«

«John, ich finde, Victor sollte nach Hause kommen. Für immer, meine ich.«

«Ja…«Er kehrte ihr den Rücken und versank wieder in Nachdenklichkeit.

«Ich finde es nicht richtig«, fuhr Harriet fort,»daß er in einem Zimmer im Horse's Head wohnt. Er braucht ein richtiges Zuhause. Du und Jenny wohnt jetzt schon ein Jahr hier. Findest du nicht, es ist Zeit, daß ihr auszieht? Wenn ihr ein eigenes Haus habt, kann ich das obere Zimmer haben, und Victor kann nach Hause kommen.«

Mit raschelndem Rock schritt sie im Zimmer auf und ab.»John, ich möchte etwas mit dir besprechen — «

«Ich weiß schon, worum es geht«, sagte er gereizt und drehte sich ärgerlich um.»Du möchtest wissen, was aus meinem Geld geworden ist. Na schön, wenn du es unbedingt wissen mußt, der Mann, der eben hier war, ist ein Buchmacher. Mein Buchmacher, und er war hier, weil ich ein paar Schulden bei ihm habe. Bist du nun zufrieden?«

«Ach, John…«

«Ja, ja, ach John! Ich hätte bestens dagestanden, wenn ich nicht das Pech gehabt hätte, auf ein paar richtige Nieten zu setzen. Ich hätte schon letzte Woche ein Haus kaufen können. Und sag Vater ja nichts, der würde mir höchstens die Hölle heiß machen.«

«Ach, John, das ist mir doch gleich. Bleib hier wohnen, wenn du willst. Bleib meinetwegen für immer hier. Es ist mir gleich, daß du spielst.«

«Ich setz hin und wieder mal auf ein paar Pferde — das kann man doch nicht Spielen nennen.«

«Ich wollte über etwas anderes mit dir sprechen, John. «Sie lief zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm.»Ich brauche deine Hilfe-«

Aber John schüttelte den Kopf.»Es geht natürlich wieder um diesen Kartoffelfresser Sean O'Hanrahan, stimmt's?«sagte er mit finsterer Miene.»Ich will nichts davon hören. Wenn man mit solchen Leuten verkehrt, kommt man nur in Teufels Küche. Ich hab dir gesagt, du sollst dich von ihm fernhalten, und das ist mein letztes Wort.«

«Aber ich liebe ihn!«

«Du bist ja von allen guten Geistern verlassen! Das Thema ist längst erledigt, Harriet, und ich möchte diesen Namen nicht mehr in diesem Haus hören. Wenn ich dich noch einmal dabei ertappen sollte, daß du mit diesem Kerl sprichst, werde ich — «

«Du bist nicht besser als Vater!«rief sie.»Ihr seid alle gegen mich. Mit Victor kann ich auch nicht sprechen. Er ist ganz anders als früher. Er ist richtig launisch geworden, und wenn ich mit ihm reden will, merke ich genau, daß er an was ganz andres denkt. Es ist ein Jahr her, John, ein ganzes Jahr, daß Victor das letzte Mal in diesem Haus war. Und dir scheint das völlig gleichgültig zu sein. Und ich bin dir auch gleichgültig. «John wandte sich nur schweigend von ihr ab.»Und du!«fuhr sie fort, in einem Ton, der an ein verwirrtes Kind erinnerte.»Seit du verheiratet bist, kenne ich dich nicht mehr. Wenn du nicht mit Jenny zusammen bist, dann bist du auf der Rennbahn. Du hast überhaupt keine Zeit mehr für mich — genau wie Victor und Vater und Mutter. Siehst du denn nicht, daß ich deine Hilfe brauche, John?«

Merkwürdigerweise löste sich die Szene an dieser Stelle auf, noch während Harriet mit Kinderstimme um Hilfe flehte. Aber ich war froh, daß es ein Ende hatte. Mir war so schwach geworden, meine Beine so zittrig, daß ich gefürchtet hatte, ich würde zusammenbrechen, noch ehe John und Harriet miteinander fertig waren. Nur mit Mühe schaffte ich es zu dem Stuhl am Eßtisch, ließ mich darauf niederfallen und hielt mir mit beiden Händen den Kopf. Einige Minuten später regte sich meine Großmutter in ihrem Sessel und öffnete die Augen.»Ach, du lieber Gott«, murmelte sie.»Bin ich schon wieder eingenickt! Ach, tun mir meine Gelenke weh. Das ist der Regen. Ich schaffs nie die Treppe hinauf.«Ächzend beugte sie sich im Sessel vor, ergriff ihren Stock und stand schwerfällig auf. Während sie langsam zu mir herüberhumpelte, sah ich wieder, wie alt sie war; wie schrecklich alt.»Ich kann heute abend nicht kochen, Kind. Ich hab solche Schmerzen in den Gelenken. Kannst du dir selbst was machen?«

«Aber natürlich. Möchtest du denn gar nichts essen, Großmutter?«

«Ich hab keinen Appetit. Der Regen macht mich ganz fertig. Ich geh jetzt nach oben und lese noch ein bißchen, ehe ich schlafe. An solchen Abenden, wenn das Wetter so schlimm ist, leg ich mich immer oben hin, da gibt die Arthritis am ehesten Ruhe. Es macht dir doch nichts aus, wenn ich jetzt raufgehe, Kind?«

«Großmutter — «

«Ja, Schatz?«Sie war schon auf dem Weg zur Tür. Ich hatte mich ihr anvertrauen wollen, aber nun war der Impuls schon vorbei. So gern ich meiner Großmutter alles erzählt hätte, was ich in diesem Haus gesehen hatte, die Furcht, es für immer zu verlieren, hielt mich davon ab.

«Ach, nichts«, sagte ich deshalb.»Hoffentlich schläfst du gut, Großmutter. Und gute Besserung.«

«Danke, Kind. Gute Nacht. Brot und Marmelade stehen in der Küche. Und Tee kochen kannst du ja.«

Sie ging zur Tür hinaus, und wenig später hörte ich ihre schweren Schritte auf der Treppe. Als sich die Tür kaum eine Minute später wieder öffnete, glaubte ich, meine Großmutter wäre umgekehrt. Aber dann sah ich, daß es Jennifer war, die ins Zimmer trat. Und als ich Victor erblickte, der ihr folgte, hätte ich beinahe aufgeschrien.

«Es ist lieb von dir, daß du gekommen bist, Victor«, sagte sie, während sie durch das Zimmer zum Kamin ging.»Ich wäre schon viel früher gekommen, wenn du mich darum gebeten hättest.«

«Wir haben alle gehofft, daß du uns besuchen würdest. Warrington ist so klein, aber du hättest ebensogut in einem anderen Land leben können, so selten haben wir dich zu Gesicht bekommen. «Victor Townsend blieb an der Tür stehen, als hätte er Angst, näherzukommen. Er hatte sich in diesem einen Jahr ein wenig verändert: Sein Haar war länger, und sein eleganter Anzug verriet Wohlhabenheit. Doch das Gesicht war dasselbe geblieben: still und unergründlich.

Jennifer drehte sich um. Das Licht der Flammen umriß ihren anmutigen, schlanken Körper.»Wir haben dich vermißt.«

«Wirklich?«

Sie senkte einen Moment die Lider und hob den Blick dann wieder.»Ja, ich jedenfalls. Ich habe lange gehofft, du würdest uns besuchen, aber du bist nie gekommen.«

«Ich hatte viel zu tun. Es mangelt mir nicht an Patienten, und sie sind bereit, gut zu zahlen.«

«Du bist für deine niedrigen Honorare bekannt, Victor, und jeder in der Stadt weiß, daß du die Armen auch kostenlos behandelst. Du bist sehr beliebt in Warrington, und mit deinen neuen Methoden und Ideen hast du den schwerfälligen alten Ärzten hier Anregung zum Nachdenken gegeben. Wir sind alle sehr stolz auf dich.«

«Ja, die Praxis geht gut, und die Arbeit hält sich im Rahmen, würde ich sagen. Knochenbrüche, Mandelentzündungen und alte Damen mit den Vapeurs.«

Jennifer lächelte.»So wie du das sagst, klingt es schrecklich langweilig. «

Victor erwiderte ihr Lächeln; aber es war ein Lächeln, das nicht von innen kam.»Das Leben eines Arztes hat mit Romantik wenig zu tun. Es ist zwar nicht unbedingt langweilig, aber so aufregend, wie die Leute es sich im allgemeinen vorstellen, ist es nicht.«

«Und — sonst, Victor? Geht es dir gut?«

Er sah sie einen Moment schweigend an.»Ja, es geht mir gut«, antwortete er dann.»Und dir, Jenny?«

«O ja, es geht mir gut. «Es klang sehr kontrolliert. Jetzt endlich kam Victor durch das Zimmer und blieb erst dicht vor Jennifer stehen. Mit seinen dunklen Augen sah er sie aufmerksam an.»Wirklich, Jenny?«

«Aber natürlich…«

«Du brauchst mir nichts vorzumachen«, sagte er leise.»Ich bin sein Brüder. Ich kenne ihn sein Leben lang. John und ich haben keine Geheimnisse. Er spielt immer noch, nicht wahr?«Jennifer senkte den Kopf, ohne zu antworten. Victor schob ihr leicht die Hand unter das Kinn und hob ihren Kopf, bis sie ihm wieder in die Augen sah.»Er spielt immer noch, nicht wahr?«

«Ja.«

Victor senkte den Arm und ging zur anderen Seite des Kamins hinüber. Den Ellbogen auf den Sims gestützt, sagte er:»Und es ist schlimmer geworden, stimmt's? — Oh, ich weiß. Ich kann dir die peinliche Antwort ersparen. Harriet war mehrmals bei mir und hat es mir erzählt. Und jetzt kommen die Gläubiger schon ins Haus, wie ich höre.«

«Kannst du ihm nicht helfen, Victor?«

Wieder blickte Victor sie einen Moment schweigend an, und er mußte das gleiche sehen wie ich — die großen, weichen Rehaugen, die bebenden Lippen, die feingeschwungenen Augenbrauen, die klare Schönheit Jennifers. Ich spürte es, er liebte sie immer noch.

«Hast du mich deshalb hergebeten?«

«Nein!«Bestürzt trat sie einen Schritt näher zu ihm.»Nein, Victor, das darfst du nicht glauben. Ich hätte die Sache niemals angesprochen. Ich habe dich eingeladen, weil ich dich sehen wollte und weil ich fürchtete, du würdest nie wieder zurückkommen. Es ist soviel Zeit vergangen…«Sie vollendete ihren Gedanken nicht.»Du allein konntest mich in dieses Haus zurückholen, Jenny. Harriet hat es viele Male versucht. John hat mich eingeladen, selbst mein Vater hat seinem Herzen einen Stoß gegeben und mich gebeten, nach Hause zu kommen. Aber ich habe immer nur auf ein Wort von dir gewartet, denn deinetwegen bin ich dem Haus ferngeblieben.«

Die Schwermut, die mir auf ihrer Fotografie aufgefallen war, verdunkelte jetzt flüchtig Jennifers Gesicht, ein Ausdruck offener Verletzlichkeit, der, das fühlte ich, Victor so stark ergriff wie mich. Ich spürte, daß er in diesem Moment gegen den Impuls kämpfte, Jennifer einfach in die Arme zu nehmen.»Ich helfe John, wenn du es wünschst.«

«Ach, Victor — «

«Aber nur um deinetwillen. John ist zu stolz, um mich um Hilfe zu bitten. Und ich bin auch gar nicht sicher, ob ich ihm helfen würde, wenn er zu mir käme. Aber du, Jenny, du solltest längst in deinem eigenen Heim leben und daran denken, eine Familie zu gründen. Nur um deinetwillen werde ich meinem Bruder helfen.«

Jennifer schüttelte den Kopf.»Du darfst es nicht für mich tun, Victor. Du mußt es tun, weil du es willst. Weil er dein Bruder ist — «

Er lachte kurz auf.»Ja, das ist er. Und damit bist du meine Schwester, richtig? Oder genauer gesagt, meine Schwägerin. Aber das ist praktisch das gleiche«, schloß er bitter.»Nein, das ist nicht das gleiche.«

Zu meiner Überraschung stürzte Victor plötzlich auf Jennifer zu und faßte sie bei den Armen. Er hielt sie so fest, als wollte er sie schütteln. Schwarzer Sturm verdunkelte sein Gesicht, und seine Augen blitzten vor Zorn, so daß Jennifer erschrocken vor ihm zurückwich.

«Was ist es dann?«sagte er heiser, seiner Stimme kaum mächtig.»Was sind wir, wenn nicht Schwester und Bruder?«

«Victor! Ich — «

«O Gott!«rief er und ließ sie so plötzlich los, wie er sie gepackt hatte.»Was ist nur über mich gekommen? Die Frau meines eigenen Bruders! Bin ich denn wahnsinnig geworden?«

«Du kannst es nicht ändern«, sagte sie hastig. Ihre Wangen waren blutrot.»So wenig wie ich.«