«Niemals!«Harriet wich einen Schritt zurück.»Er würde mich umbringen.«
«Aber nein — «
«Doch, er würde!«schrie Harriet.»Victor würde mich umbringen. Du kennst ihn nicht so gut wie ich. Er ist genau wie Vater.«
«Was willst du denn dann tun?«
«Sean und ich haben vor, nach London zu gehen und uns dort trauen zu lassen.«
«Ach, Harriet. «Jetzt weinte auch Jennifer.
Harriet stand noch einen Moment unschlüssig, starrte Jennifer mit einem Blick an, bei dem uns beiden eiskalt wurde, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte aus dem Zimmer. Ich blickte ihr nach, sah die Tür hinter ihr zufallen und war überrascht, Jennifer noch im Zimmer zu sehen, als ich mich wieder umdrehte. Ich hatte geglaubt, hier würde die Szene enden. Aber es schien, daß noch mehr kommen sollte. Ich blieb in meinem Sessel sitzen und wartete.
Wie unglaublich, daß die junge Frau, die vor mir stand, seit so vielen Jahren tot sein sollte. Konnte ich nicht das Rascheln ihrer Röcke hören? Sah ich nicht den Glanz der Tränen in ihren Augen? Roch ich nicht den zarten Rosenduft, der sie umgab? Fühlte ich nicht ihre Anwesenheit in diesem Zimmer? Während ich sie betrachtete und dabei diese Überlegungen anstellte, kam mir plötzlich ein verrückter Gedanke in den Kopf und elektrisierte mich förmlich. Mir fiel ein, wie ich bei der letzten Begegnung mit Victor und Jennifer von den Gefühlen der beiden überwältigt Victors Namen gerufen und er sich umgedreht hatte.
War es möglich, daß er mich gehört hatte? Ich hatte den kleinen Zwischenfall bisher völlig vergessen, aber jetzt erinnerte ich mich genau. Ich war nicht fähig gewesen, mich länger zurückzuhalten, und hatte laut Victors Namen gerufen. Und er hatte sich erschrocken umgedreht. Konnte das bedeuten…?
Unverwandt sah ich Jennifer an. Sie blieb viel länger als sonst. Oder vielleicht war auch ich es, die länger blieb. Ganz gleich, mein Rendezvous mit der Vergangenheit dauerte länger an, als ich erwartet hatte, und ich fragte mich, ob das einen besonderen Grund hatte.
Warum konnte ich Jennifer immer noch sehen? Hatte das einen bestimmten Sinn? Sie stand hier ganz allein in diesem Zimmer, so wirklich und leibhaftig wie meine Großmutter hier zu stehen pflegte, und sie trocknete sich die Augen mit einem Taschentuch, das sie aus dem Ärmel ihres Kleides hervorgezogen hatte. Sie und ich waren allein hier im Zimmer und doch durch Jahre getrennt. Sie lebte im Jahre 1892. Ich lebte in der Gegenwart. Wieso waren wir immer noch zusammen?
Eine Ahnung kam mir, die ich zunächst als absurd verwarf. Doch sie drängte sich mir von neuem auf und ließ mich nicht mehr los.
Ich konnte Jennifers Parfüm riechen, das Knistern ihrer Röcke hören, ich konnte sie sehen und ihre Nähe spüren, und ich fragte mich, ob das, was ich gehofft und gefürchtet hatte, nun vielleicht endlich geschehen würde; daß nun der Weg zur Verständigung über die Sprache sich öffnen würde und ich so ganz in das Geschehen einbezogen werden würde. Da alles so real war, sollte es da nicht möglich werden, miteinander zu sprechen? Hatte sich nicht Victor umgedreht, als ich seinen Namen gerufen hatte? Aber sie konnte mich ja nicht einmal sehen. Sie stand nur Zentimeter von mir entfernt und nahm mich nicht wahr. Was würde geschehen, wenn ich sie ansprach? Würde dann eine echte Verbindung, eine beiderseitige Verbindung hergestellt werden? Ich beschloß, es zu riskieren. Das einzige, was geschehen konnte, war, daß sie verschwand. Und da Harriet schon fort war und nichts weiter sich ereignete, würde sie bald sowieso verschwinden. Ich wollte es versuchen. Ich wollte sie ansprechen. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, schluckte alle Befürchtungen hinunter, räusperte mich und sagte laut und klar:»Jennifer!«
Kapitel 13
Meine Großmutter mußte lautlos ins Zimmer gekommen sein. Erst als sie die Vorhänge aufzog, erwachte ich.»Schau dir nur diesen gräßlichen Regen an!«sagte sie mit ärgerlichem Kopf schütteln.
Ich wälzte mich auf die Seite und blinzelte in die von Regenschleiern verhangene Welt vor dem Fenster. Dann drehte ich mich wieder auf den Rücken und blickte zur Zimmerdecke hinauf. Mein Kopf dröhnte.
«Du hast aber lange geschlafen«, stellte meine Großmutter fest, während sie im Zimmer umherhumpelte.»Das ist ein gutes Zeichen. Da hast du wenigstens mal richtig Ruhe bekommen. «Beinahe hätte ich gelächelt. Großmutter hatte keine Ahnung, daß ich erst bei Sonnenaufgang eingeschlafen war, nachdem ich praktisch die ganze Nacht aufgesessen hatte.
«Der Tee ist gleich fertig. Möchtest du heute mal Sirup auf deinen Toast, Kind? Der gibt dir vielleicht ein bißchen Energie. «Obwohl Großmutter sich bemühte, resolut und kraftvoll zu sprechen, fiel mir auf, wie müde ihre Stimme klang.»Dein Großvater hat immer gern Sirup auf sein Brot gegessen. Hm, und zum Essen mach ich uns den Fisch, den Elsie gestern mitgebracht hat. Nach Morecambe Bay können wir bei diesem Wetter auf keinen Fall fahren. «Ich sah wieder in die graue Düsternis hinaus und fragte mich, wie lange wir in diesem Haus gefangen sein würden.»Großmutter«, sagte ich und setzte mich auf.»Gestern hat kein Mensch Großvater besucht. Wie soll das denn heute werden?«
«Also, wir fahren bestimmt nicht ins Krankenhaus. Vielleicht fährt dein Onkel William allein hin. Ich kann jedenfalls bei diesem Wetter keinen Fuß vor die Tür setzen. So, und jetzt geh ins Bad und mach dich fertig, damit wir frühstücken können. «Ich rannte die Treppe hinauf, wusch mich in aller Eile und ging ins Vorderzimmer, um mir frische Sachen zu holen. Eine Viertelstunde später saß ich schon wieder unten am Tisch.»Man spürt den verdammten Wind durch sämtliche Fensterritzen, nicht wahr?«sagte Großmutter, während sie ihren Toast mit Butter bestrich.
Ich betrachtete ihr Gesicht im kalten Morgenlicht, sah die blauen Lippen, die fahle Haut, die geschwollenen Augen.»Du hast nicht gut geschlafen, nicht wahr, Großmutter?«
«Nein, Kind, weiß Gott nicht. Ich sag dir ja, bei solchem Wetter tun mir sämtliche Gelenke weh. Und dann finde ich einfach keine Ruhe. Heute abend nehme ich mir aber gleich drei Wärmflaschen mit nach oben.«
«Warum schläfst du nicht hier unten, wo es warm ist?«
«Kommt nicht in Frage. Du hast die Wärme nötiger als ich. Im übrigen schlafe ich am liebsten in meinem eigenen Bett. Wenn ich mir eine zweite Jacke anziehe und noch eine Wärmflasche mitnehme, wird es schon gehen.«
«Dein Schlafzimmer muß wirklich eiskalt sein, Großmutter.«
«Elsie sagt immer, im ganzen Haus war's kalt wie in einer Gruft. Also spielt es gar keine Rolle, wo ich schlafe. Aber ich bin's gewöhnt und fühl mich wohl hier, und keine zehn Pferde bringen mich in so eine Sozialwohnung…«
Sie schwatzte weiter, und ich dachte, wenn du wüßtest, wie zutreffend der Vergleich mit einer Gruft ist.
Niemand kam uns besuchen. Regen und Sturm tobten mit solcher Heftigkeit, daß es unmöglich war, auch nur die Haustür zu öffnen. Vom oberen Schlafzimmer aus blickte ich zur Straße hinunter und sah, wie gefährlich bei diesem Unwetter schon eine kurze Autofahrt sein mußte. Mir war klar, daß niemand vorbeikommen würde, solange es anhielt.
Großmutter und ich setzten uns also ins Wohnzimmer an den Kamin, sie mit ihrem Strickzeug, ich mit einem Buch. Aber ich nahm nichts von dem auf, was ich las, meine Gedanken waren mit ganz anderen Dingen beschäftigt.
Am späten Nachmittag hatte Großmutter so starke Schmerzen in Hüften und Knien, daß sie nicht fähig war, sich in die Küche zu stellen und das versprochene Abendessen zu kochen. Ich machte uns statt dessen eine Dosensuppe heiß, und dazu aßen wir Butterbrot. Mir reichte das vollkommen, da ich noch immer keinen rechten Appetit hatte, aber ich sah, wie enttäuscht Großmutter war, daß sie nicht imstande war, mir etwas Besonderes zu kochen. Nach unserem bescheidenen Abendessen saßen wir noch ein Stündchen beieinander, ohne viel zu sprechen, dann sagte Großmutter:»Ich glaube, ich gehe jetzt zu Bett, Andrea. Wenn ich noch länger hier sitze, komm ich überhaupt nicht mehr hoch. Bringst du mir die Flaschen, wenn das Wasser warm ist, Kind?«
«Aber was willst du denn den ganzen Nachmittag tun, Großmutter?«
«Ach, ich mach mir das Radio an und les ein bißchen. Das entspannt mich immer so. Tut mir leid, daß ich dich ganz allein lasse, Kind, aber ich bin in dem Zustand sowieso keine gute Gesellschaft. Ich bin nur froh, daß es dein Großvater schön warm hat und gute Pflege bekommt. Das ist mir ein großer Trost. «Ausnahmsweise mußte ich Großmutter die Treppe hinaufhelfen. Ich schob von hinten, während sie wie ein Hund auf allen vieren Stufe um Stufe hinaufkroch. Wir kamen nur langsam voran, aber als wir oben waren, sah ich, wie beschwerlich es für sie gewesen wäre, das allein zu schaffen. Sie war aschfahl und konnte kaum atmen.
«Ich bin dreiundachtzig Jahre alt, Kind«, sagte sie, nach Luft schnappend.»Ich habe bessere Tage gesehen. «Beim Auskleiden ließ sie sich nicht von mir helfen, sondern bestand darauf, daß ich ins warme Wohnzimmer hinunterging und wartete, bis das Wasser kochte. Nachdem ich die drei Wärmflaschen gefüllt hatte, trug ich sie in ihr Zimmer hinauf und half ihr ins Bett. Sie schob sich mehrere dicke Kissen in den Rücken, zog zwei Strickjacken an, legte sich einen gehäkelten Schal um die Schultern und drapierte die Wärmflaschen um ihre Beine. Dann zog sie das Radio, das auf dem Nachttisch stand, näher zu sich heran.
«So, jetzt hab ich's gemütlich, Kind. Geh du ruhig wieder runter. «
«Wenn du etwas brauchst, Großmutter, dann klopf einfach mit dem Stock auf den Boden. Ich komm dann sofort. Du wirst später sicher Hunger bekommen, und die Wärmflaschen müssen auch frisch gefüllt werden.«
«Ja, Kind. Du bist wirklich ein Segen. Ich bin so froh, daß du hier bist. «Sie legte mir einen Arm um den Hals und zog mich kurz an sich. Als sie sich wieder in die Kissen sinken ließ, sah ich, daß sie Tränen in den Augen hatte.»Was bin ich doch für eine Heulsuse!«rief sie.»Aber du bist deiner Mutter so ähnlich. So, und jetzt ab mit dir, runter; wo's warm ist.«
Ich eilte ins Wohnzimmer hinunter, aber nicht der Wärme wegen, denn die Kälte machte mir schon lang nichts mehr aus, sondern in der Hoffnung, bald wieder in die Vergangenheit entführt zu werden.
Und tatsächlich, als ich die Tür öffnete, sah ich vor mir das Wohnzimmer der Familie Townsend mit seiner bunten Tapete und den grünen Sesseln. In einem der Sessel, vom warm glühenden Feuerschein eingehüllt, saß Jennifer. Sie war allein. Sehr langsam und behutsam trat ich ein und schloß leise die Tür hinter mir, um das feine Gespinst des friedlichen Bildes nicht zu zerstören. Ich trat ein paar Schritte von der Tür weg und blieb an die Wand gelehnt stehen.
Jennifer war mit einer Handarbeit beschäftigt. Ich sah den Stickrahmen in ihrer Hand, die feine rote Seide des Garns, das Blitzen der Nadel, die auf und ab stichelte. Jennifer trug ihr Haar hochgekämmt und mit dünnen Bändern durchflochten. Ihr lavendelfarbenes Kleid war hochgeschlossen und reichte fast bis zu ihren Fußspitzen. Sie wirkte sehr gelassen und sehr weiblich, wie sie am Kamin saß, das zarte Gesicht leicht gerötet von der Glut, und sich konzentriert ihrer Arbeit widmete.
Ich dachte wieder an die Begegnung der vergangenen Nacht und meine wilde Hoffnung, mit ihr Kontakt aufnehmen zu können, indem ich sie ansprach. Aber das war eine Illusion gewesen. Sobald ich ihren Namen gerufen hatte, war sie verschwunden. Aber nun war sie wieder hier, und obwohl ich auf der anderen Seite des Zimmers stand, spürte ich, daß sie an Victor dachte. Aus dem Flur drang das Geräusch fester männlicher Schritte herein, und ich hielt den Atem an. Wir würden ihn wiedersehen! Die Tür wurde aufgestoßen, ein kalter Luftzug blies ins Zimmer, und dann sah ich zu meiner Enttäuschung John Townsend hereinkommen. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb er einen Moment lang stehen. Er schwankte ein wenig und blickte Jennifer, die von ihrer Arbeit aufsah, schweigend an.»Du bist ja völlig durchnäßt«, sagte sie und wollte aufstehen.»Kümmre dich nicht um mich«, brummte John ungeduldig und fuhr sich mit einer Hand über die blutunterlaufenen Augen. Ich konnte den Alkoholdunst in seinem Atem riechen, als er sprach.»Kümmre dich lieber um dich selbst.«
«Was soll das heißen?«.
«Du!«brüllte er sie plötzlich an und streckte den Arm aus, als wollte er sie mit wackligem Zeigefinger durchbohren.»Du hast mich verraten! Mich, deinen Mann.«
«John!«Jennifer sprang auf. Die Handarbeit fiel unbeachtet zu Boden.
«Du warst bei Victor, habe ich recht? Du hast ihm gesagt, daß ich Schulden habe und die Buchmacher hinter mir her sind. Und du hast ihm gesagt, daß ich das Spielen nicht lassen kann.«
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