«Woran denkst du?«fragte Jennifer leise.
«An einen Mann namens Edward Jenner. Weißt du, wer er war?«Victor wandte sich ihr wieder zu. Die Düsternis seines Gesichts hatte sich aufgehellt, seine Züge wirkten lebhaft.»Edward Jenner war ein Mann, der sich eines Tages fragte, wieso Melkerinnen eigentlich nie die Pocken bekamen. Ihm fiel außerdem auf, daß Melkerinnen fast immer irgendwann einmal an den Kuhpocken erkrankten. Er überlegte, ob da vielleicht ein Zusammenhang bestünde und was geschehen würde, wenn man Gesunde mit dem Erreger der Kuhpocken impfte; ob man sie nicht damit vielleicht vor den tödlichen Schwarzen Blattern bewahren könnte. Alle Welt lachte ihn aus, Jenny, aber dank Edward Jenners Pockenimpfstoff können wir alle ohne Furcht vor dieser schrecklichen Krankheit leben, die früher einmal ganze Städte ausgelöscht hat. Was aber ist mit den anderen tödlichen Krankheiten? Mit der
Lungenentzündung, der Cholera, dem Typhus, der Kinderlähmung?«
Er beugte sich vor und nahm ihre Hände.»Sieh mal, was tue ich denn hier? Verschreibe Rezepte für Hustensaft und Migränepulver. Täglich stoße ich an die Grenzen meines Wissens. Soviel gibt es in der Medizin noch zu tun. Verstehst du, was ich sagen will?«
«Ja«, antwortete sie mit kleiner Stimme.»Du hättest nach Schottland gehen sollen.«
Er ließ ihre Hände los.»Das wollte ich damit nicht sagen. Das Labor, das in
Edinburgh auf mich wartete, läßt sich genausogut hier in Warrington aufbauen.«
«Was willst du damit sagen?«
«Daß ich im Kreis herumlaufe. Ich habe mich von meiner Bitterkeit und meiner Enttäuschung lahmen lassen. Weshalb sollte ich forschen und kämpfen, wenn das eine, das einzige, das ich mir wirklich auf dieser Welt ersehne, mir auf immer verwehrt sein wird?«
Jennifer legte ihm leicht die Hand auf den Arm.»Soll ich auch an deinem Irrweg die Schuld tragen?«
Victor sah sie an, als hätte sie ihm einen Schlag versetzt. Schreck und Entsetzen huschten über sein Gesicht. Tief betroffen von der Bedeutung ihrer Worte riß er Jennifer in seine Arme. Sie wehrte sich nicht, protestierte nicht. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und schloß die Augen, um diesen verbotenen Moment auszukosten. Ich sah, daß sie mit den Tränen kämpfte.»Was habe ich da gesagt?«murmelte Victor, den Mund in ihr Haar gedrückt.»Wie kann ich nur so egoistisch sein und dich mit solchen Verrücktheiten kränken. Nichts ist mir wichtiger als dein Glück und dein Wohlbefinden, Jenny, ach Jenny…«Victor zog sie fester an sich, als könnte das die Qual lindern.»Wie kann ich so gedankenlos sein, so etwas zu sagen, wenn ich weiß, daß dein Leben so unglücklich sein muß wie meines! Aber du leidest stumm, während ich mich lauthals dem Selbstmitleid ergebe. Ach, ich verdiene dich nicht… «
So standen sie eine Weile, eng umschlungen im flackernden Licht des Feuers, bis Jenny sich schließlich widerstrebend von ihm löste und zu ihm aufsah.
«Deine Berührung zu spüren«, flüsterte sie.»Deine Arme um mich zu fühlen… das ist…«Victor neigte den Kopf, als wolle er sie küssen, aber dann hielt er inne.
«Du mußt jetzt gehen, Liebster«, sagte sie.»Sie werden bald hier sein. Solche Zärtlichkeiten sind uns verboten, Victor, denn John ist immer noch mein Mann, und ich habe ihm Treue geschworen.«
Jennifer löste sich ganz aus seiner Umarmung, trat einen Schritt zurück und sah ihn ernst an.»Wir dürfen uns nicht mehr allein sehen, Victor, denn ich weiß, daß ich nicht die Kraft habe, auf Dauer zu widerstehen. Und dann würden wir zu allem Unglück auch noch Schuld auf uns häufen.«
Victor stand mit hängenden Armen und starrem Gesicht, während Jennifer mit feucht glänzenden Augen unverwandt zu ihm aufblickte. Und so verschwanden sie vor meinen Blicken und ließen mich allein zurück.
Ich brauchte einen Moment, um mir bewußt zu werden, daß aus dem eleganten Salon lang vergangener Zeiten wieder der muffig riechende, verstaubte Abstellraum meiner Großmutter geworden war. Ich sah die Leintücher auf den Möbeln, den aufgerollten Teppich, das staubbedeckte Rollpult, die nachgedunkelten Wände. Ich hatte für die Rückreise aus dem Jahr 1892 nur Sekunden gebraucht, aber ich fühlte mich so matt und erschöpft, als wäre ich den ganzen langen Weg zu Fuß gegangen.
Ich schloß die Salontür hinter mir und wankte in den kalten Flur hinaus, froh über die Dunkelheit, die mich wie ein tröstender Schleier umhüllte.
Wie glücklich konnte Jennifer sich preisen, von so einem Mann geliebt worden zu sein. Ich hatte das nie erlebt. Oder — doch? War es das vielleicht, was Doug mir hatte geben wollen und was ich in meiner Verbohrtheit zurückgewiesen hatte?
Dröhnendes Klopfen von oben riß mich aus meinen Gedanken. Das konnte nur Großmutter sein. Rasch eilte ich die Treppe hinauf. Nachdem ich das Flurlicht angeknipst hatte, ging ich zu ihrem Zimmer, öffnete leise die Tür und blickte hinein. Großmutter lag fest schlafend in den Kissen. Wieder klopfte es laut. Hastig zog ich mich aus Großmutters Zimmer zurück und schloß die Tür. Natürlich! Das war nicht die Gegenwart, die mich rief, sondern die Vergangenheit. Das Geräusch kam aus dem vorderen Schlafzimmer.
Die Tür stand weit offen. Drinnen war alles neu und hell, und im offenen Kamin brannte ein Feuer. Ich stellte mit Interesse fest, daß hier, genau wie im Salon, elektrisches
Licht die Gaslampen verdrängt hatte.
Ich ging hinein und sah mich um. Am Kamin stand ein Ohrensessel, mit burgunderrotem Samt bezogen und weißen Spitzendeckchen auf den Armlehnen. Dort saß Jennifer, die Füße auf einem dunkelroten Fußbänkchen, den Blick zur Tür gerichtet. Während ich sie noch betrachtete und wieder überlegte, ob ich versuchen sollte, sie anzusprechen, spürte ich einen kalten Luftzug im Rücken und hörte, wie jemand ins Zimmer trat. Es war Harriet.»Jenny!«sagte sie nur.
Jennifer drehte sich ein klein wenig in ihrem Sessel herum und lächelte.»Hallo, Harriet. Komm doch herein. «Harriet, die beinahe direkt neben mir stand, zögerte. Ihr Gesicht war grau wie Asche, ihre Lippen waren völlig blutleer.»Jenny«, sagte sie wieder.
Jennifer, die jetzt ebenfalls bemerkte, daß mit ihrer Schwägerin etwas nicht in Ordnung war, stand auf und ging ein paar Schritte auf sie zu.»Was ist denn, Harriet?«
«Ich — «Sie machte einen Schritt, stockte und schwankte, als drohe sie ohnmächtig zu werden.
«Harriet!«Jennifer lief zu ihr und legte ihr fest den Arm um die Schultern, um sie zum Sessel zu führen. Harriet hing wie ein lebloses Bündel an Jennifer, ließ sich willenlos in den Sessel drücken und Umhang und Hut abnehmen. Ihre Augen waren seltsam leer, sie sah aus wie jemand, der einen schweren Schock erlitten hatte. Ungleich jünger wirkte sie jetzt als Jennifer, klein und zusammengesunken in dem schweren Sessel, das Gesicht kreidebleich, die Augen wie erloschen. Sie bewegte die Lippen, aber es drang kein Laut aus ihrem Mund.
Jennifer holte sich den anderen Sessel und zog ihn so dicht an Harriet heran, daß die Knie der beiden Frauen sich berührten, als sie sich setzte. Sie nahm Harriets Hände zwischen die ihren und rieb sie behutsam.»Du bist ganz durchgefroren. Und wie blaß du bist! Wo warst du denn bei diesem Wetter, Harriet?«Harriets Versteinerung löste sich ein wenig.»Wo sind die anderen, Jenny?«fragte sie mit tonloser Stimme.»Wo sind Mutter und Vater?«
«Vater ist noch im Werk, und Mutter ist bei einem Krankenbesuch bei Mrs. Pemberton. Und John — ich weiß nicht genau, wo John im Augenblick ist. Sag mir doch, was mit dir ist. «Harriet drehte den Kopf zum Feuer und starrte in die Flammen. Wieder bewegten sich ihre weißen Lippen, und wieder versagte ihr die Stimme.
Jennifer musterte sie tief besorgt. Während ich die Szene beobachtete, gewann sie etwas Traumhaftes, Unwirkliches, das teilweise auf der Stille beruhte und den tanzenden Schatten an den Wänden, vor allem aber auf Harriets befremdlichem Verhalten.
«Ich war bei ihm«, flüsterte sie schließlich.»Was hast du getan, Harriet?«
«Ich bin zu ihm gegangen. Genau wie du gesagt hast. «Harriet drehte den Kopf und richtete den seltsam leeren Blick auf Jennifer. Dann sagte sie ein wenig lauter:»Ich bin zu Scan gegangen und habe ihm gesagt, was mit mir los ist.«
«Und was hat er gesagt?«
«Er sagte, es wäre meine eigene Schuld. «Harriets Gesicht war so
ausdruckslos wie ihre Stimme.»Er hätte damit nichts zu tun. Und er sagte, daß er fortgeht.«
«Er geht fort?«Jennifer ließ sich in ihrem Sessel zurückfallen.»Scan O'Hanrahan geht fort? Wohin denn?«
«Ich weiß es nicht. Aber sogar während ich bei ihm war, hat er gepackt. Er sagte etwas davon, daß er nach Belfast zurück will.«
«Aber — aber du hast ihm doch gesagt, was mit dir — «
«Daß ich ein Kind bekomme? O ja, das habe ich ihm gesagt. Und er ist wütend geworden. Als hätte ich es ganz allein getan. Ich habe ihn daran erinnert, daß er immer vom Heiraten gesprochen hat, wenn wir draußen bei der alten Abtei waren, und daß er immer sagte, er wolle mich so bald wie möglich heiraten. Aber das war damals, Jenny, und jetzt will er mich ganz offensichtlich nicht mehr heiraten.«
«Ach, Harriet!«Jennifer begann wieder, Harriets Hände zu reiben, als könnte sie die
Freundin so zum Leben erwecken. Nicht einmal die glühenden Farben des Feuerscheins konnten Harriets Gesicht einen Anschein von Lebendigkeit verleihen.»Harriet«, sagte Jennifer wieder voller Mitgefühl. Obwohl wie Jennifer fast zwanzig Jahre alt, war Harriet immer noch sehr kindlich. Doch das Leben war im Begriff, ihr eine grausame Lektion zu erteilen, und die ernüchternde Wirkung begann schon, sich auf ihrem Gesicht zu zeigen.
«Und dann bin ich zu ihm gegangen«, sagte sie, den Blick wieder ins Feuer gerichtet.»Zu Scan, meinst du?«
«Zu ihm, genau wie du mir geraten hast. Ich wußte nicht, wohin. Vater könnte ich es niemals sagen, er würde mich schrecklich bestrafen. Du hast ja keine Ahnung, wie er mich behandelt hat, als er entdeckte, daß Scan und ich uns Briefe schrieben. Diesmal würde er mich bestimmt nicht bloß in den Kleiderschrank sperren. Diesmal würde er etwas viel, viel Schlimmeres tun.«
«Er hat dich in den Kleiderschrank-«
«Ja, das hat er immer getan, weißt du«, fuhr sie fort, ohne eine
Gefühlsregung zu zeigen.»Immer, wenn er mich strafen wollte, hat er mich in den Schrank gesperrt. Am Ende habe ich nie mehr aus Respekt oder aus Liebe gehorcht, sondern nur noch weil ich so eine grauenhafte Angst davor hatte, wieder in den Schrank gesperrt zu werden. Ich konnte es nicht aushaken, Jenny. Es war furchtbar. Ich hockte in dem dunklen Schrank, in den nirgends auch nur der kleinste Lichtschimmer hereinfiel, und hörte, wie er den Schlüssel umdrehte. Und dann wartete ich verzweifelt darauf, daß er endlich wiederkommen und mich herauslassen würde. Immer hatte ich Angst, er würde mich vergessen, und ich würde da drinnen sterben. Anfangs habe ich geschrien, dann hab ich nur noch gewimmert und gebettelt und wie eine Wahnsinnige an der Tür gekratzt. Es war ein Gefühl, als würde ich lebendig begraben. Aber er kam immer zurück und holte mich heraus. Einmal — da schrie und heulte ich so laut, daß er zurückkam und mich herausholte. Er schlug mich fast bewußtlos, und dann sperrte er mich wieder ein und ließ mich die ganze Nacht drinnen. Ich dachte, ich würde den Verstand verlieren. Und das gleiche würde er jetzt mit mir tun, Jenny, oder noch was viel Schlimmeres. Vater ist sehr korrekt und sehr streng. Wenn er von dieser Sache erführe, würde er sagen, ich hätte es ihm zur Schande getan. Du kennst ihn doch selbst, Jenny. Du weißt, wie er ist. Du weißt, wie sehr Mutter ihn fürchtet und wie John sich vor ihm duckt. John wollte nie in Warrington bleiben und Verwaltungsangestellter werden. Aber er mußte es, weil Vater es befahl. Victor war der einzige, der sich gegen ihn auflehnte…«Harriet schien vergessen zu haben, was sie hatte sagen wollen. Als sie schwieg, fragte Jennifer sanft drängend:»Und zu wem bist du nun gegangen, Harriet?«
«Zu meinem Bruder. Ich dachte, er könnte mir vielleicht helfen. Und — er hat's ja auch getan… «
Wie ein Automat streckte Harriet ihren rechten Arm aus, rollte den Ärmel hoch und zeigte Jennifer ihren weißen Unterarm. In der Ellbogenbeuge war ein großer roter Fleck, von dem blaurote Streifen wegführten.
«Harriet, was ist das?«
«Das ist von einer Spritze. Wie nennt man es gleich — von einer Injektion.«
«Wo hast du die bekommen?«Jenny beugte sich über Harriets Arm.»Das sieht aus, als wäre es entzündet.«
«Ist es auch. Aber es vergeht wieder, hat er gesagt.«
«Harriet, ich begreife nicht. Was ist geschehen? Wer hat das getan?«
Sie faßte Harriet bei den Schultern und schüttelte sie ein wenig. Harriet sah sie an, aber ihr Blick war so leer wie zuvor.»Ich bin keine Schönheit, nicht wahr?«sagte sie leise.»Ich bin eine graue Maus, nach der kein Mann sich umdreht. Ich werde niemals heiraten. Jetzt nicht mehr. Ich habe Sean O'Hanrahan geliebt. Ich wollte nur ihn. Aber jetzt werde ich eine alte Jungfer werden und bis zu meinem Tod eine bleiben.«
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