«Harriet, was war das mit der Spritze?«
Harriet holte tief Atem. Ihr Gesicht wurde noch einen Schein blasser. Jennifer dachte flüchtig, Harriet sähe aus wie jemand, der eben mit dem Tod in Berührung gekommen war.»Er hat gesagt, sie wäre, um mich einzuschläfern. Er wollte mich betäuben. Aber irgendwie hat es nicht gewirkt — vielleicht weil ich zuviel Angst hatte. Oder vielleicht hat er mir nicht genug von dem Mittel gegeben. Dann mußte ich mich auf den Tisch legen. Ich wollte aufstehen, aber ich war angeschnallt. Ich sagte ihm, ich wolle einschlafen. Ich hab gebettelt und gebeten. Aber er war zornig und ärgerlich. Wahrscheinlich hat er es darum getan. Er sagte, ich hätte die Familie in Schande gestürzt.«
«Harriet, wovon — «
«Er hatte ein Instrument. Ich habe gesehen, wie es im Licht funkelte. Er hielt es in der Hand und befahl mir, ganz still zu liegen. Mein eigener Bruder…«
«O Gott«, stöhnte Jennifer.
«Er sagte, das wäre die einzige Möglichkeit. Er sagte, damit erspare er mir Leid und Kummer in der Zukunft. Ich würde gar nichts spüren, sagte er, und — oh, Jenny!«Harriet fiel plötzlich nach vorn und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Ihr Weinen klang wie das Wimmern eines Kätzchens. Zitternd versuchte sie, durch ihre Hände hindurch zu sprechen.»Ich war die ganze Zeit bei Bewußtsein. Ich habe alles gespürt. Dieser Schmerz! O Gott, Jenny, der Schmerz war grauenhaft. Du hast keine Ahnung! Es war wie eine Folter. Ich spürte genau, wie dieses scharfe, grobe Instrument das Leben aus mir herauskratzte. Erst als ich den Schmerz nicht mehr ertragen konnte, wurde ich endlich bewußtlos.«
«Ach, Harriet, Harriet«, murmelte Jennifer und neigte sich vor, um Harriet über das Haar zu streichen.»Du armes, armes Kind. Du tust mir so entsetzlich leid.«
Sie weinten beide. Jennifer streichelte Harriet und versuchte mit sanfter, liebevoller Stimme, sie zu trösten. Doch schon nach ein paar Sekunden hob Harriet den Kopf und sah Jennifer mit dem verständnislosen Blick eines verletzten Tieres an.»Was soll ich jetzt tun?«flüsterte sie. Jennifer konnte ihr keine Antwort geben.
Harriet streifte Jennifers Hände ab und stand auf. Am ganzen Körper zitternd, blieb sie schwankend vor dem Feuer stehen. Die Blässe ihres Gesichts war erschreckend, und als ich sah, daß sie gehen wollte, stürzte ich vorwärts, weil ich fürchtete, sie würde stürzen. Aber Jennifer war schon auf den Beinen und stützte sie auf dem Weg zum Bett.
«Ich möchte sterben«, sagte Harriet.»Mein eigener Bruder. Wie konnte er mir das antun. Ach, lieber Gott, laß mich doch sterben…«
Nach den ersten stockenden Schritten zum Bettt blieb Harriet stehen und blickte zu Boden. Mit zitternder Hand hob sie langsam ihren langen Rock. Auf dem Teppich leuchtete eine rote Blutlache, die sich rasch vergrößerte.
Kapitel 14
Mir war an diesem Abend keine Atempause gegönnt. Obwohl ich mich vor Erschöpfung kaum auf den Beinen halten konnte, als ich mich schwankend durch den Flur zur Treppe tastete, sollte ich schon sehr bald wieder in den Strudel der Ereignisse des Jahres 1892 hineingezogen werden.
Das schreckliche Verbrechen, das an Harriet begangen worden war, hatte mich in gleichem Maß entsetzt wie Jennifer. Aber obwohl alles darauf hinwies, daß Victor der Täter war, konnte ich nicht glauben, daß er einer solchen Scheußlichkeit fähig sein sollte. Doch auch John konnte ich nicht verdächtigen. Er mochte schwach und labil sein, skrupellos und schlecht war er nicht. Mir blieb keine Zeit, mich von meinem Entsetzen zu erholen oder länger an dieser Unglücksgeschichte herumzurätseln; ich hatte noch nicht einmal die Treppe erreicht, als ich aus dem Vorderzimmer erneut Geräusche hörte. Die Ereignisse überstürzten sich jetzt.
Ich kehrte zur Tür des Vorderzimmers zurück, lehnte mich an den Pfosten und beobachtete John, der ruhelos im Zimmer hin und her lief. Jennifer, die wieder in dem roten
Samtsessel saß, verfolgte sein Hin und Her mit unglücklichem Blick. Sie hatte ein anderes Kleid an, daran erkannte ich, daß es ein neuer Tag sein mußte.»Muß es denn wirklich sein?«fragte sie mit gequälter Stimme, während John unablässig hin und her lief wie ein wildes Tier im Käfig. Sein Gesicht war finster und hart. Er sah in diesem Moment seinem Bruder Victor ähnlicher denn je.
«Ich habe keine Wahl«, erklärte er.»Es gibt keinen anderen Ausweg. «
«Könntest du dich ihnen nicht einfach stellen? Ließe sich denn nicht irgendeine Einigung erreichen? Mußt du wirklich fliehen wie ein Dieb?«
Er wirbelte wütend herum.»Was soll ich denn tun? Was schlägst du vor? Soll ich vielleicht flennend zu diesen Kerlen laufen und um Gnade betteln? Ach, Jenny, das ist eine geldgierige und erbarmungslose Bande. Denen ist mein Leben völlig gleichgültig. Sie wollen nur ihr Geld.«
«Dann laß Victor — «
«Nein!«donnerte er so aufgebracht, daß es uns beide erschreckte.»Ich nehme keine Almosen von meinem Bruder. Und gerade jetzt möchte ich überhaupt nichts mit ihm zu tun haben.«
«John, du glaubst doch nicht im Ernst — «
«Laß diesen Schurken aus dem Spiel. Nach dem, was er Harriet angetan hat, will ich nie wieder etwas mit ihm zu tun haben. Und was mich angeht, so werde ich verschwinden, weil das für mich die einzige Möglichkeit ist, meine Haut zu retten.«
«Dann gehe ich mit dir.«
«Nein, das wirst du nicht tun, Jenny«, entgegnete er in sanfterem Ton.»Du mußt hierbleiben und auf mich warten. Ich werde in einigen Tagen fort sein, aber ich kann nicht sagen, wohin ich gehen werde. Und ich kann dir auch nicht sagen, wann ich zurückkehren werde. Ich muß mich eine Weile versteckt halten, bis die Wellen sich glätten und ich ein paar Pfund zusammenkratzen kann. Dann komme ich zurück. Du wirst doch auf mich warten, Jenny, Liebste?«Sie sah ratlos zu ihm auf.
John fiel plötzlich vor ihr auf die Knie und umfaßte ihre Hände.»Ich liebe dich, Jenny, auch wenn du mich nicht liebst. Nein, sag nichts, laß mich weitersprechen. Ich habe über manches nachgedacht, und ich weiß jetzt, daß ich an vielem die Schuld trage, weil ich dich so sehr vernachlässigt habe. Und meine Schwester auch. Wenn sie zu mir gekommen wäre, anstatt zu Victor zu gehen…«John schüttelte den Kopf.»Ich will jetzt nicht daran denken. Es ist geschehen und nicht mehr zu ändern. Aber wir, Jenny, wir haben noch eine Chance. Ich werde verreisen, und ich weiß nicht, wie lange ich fortbleiben werde. Aber du wirst sehen, wenn ich zurückkomme, wird alles anders werden zwischen uns. Ich werde als ein andrer zurückkommen, ganz bestimmt. Ich werde diese gemeinen Kredithaie bezahlen und für immer die Finger vom Glücksspiel lassen. Du wirst es sehen, Jenny, meine Liebste.«
«Ach, John«, murmelte sie traurig.»Ich wollte, du müßtest nicht fort.«
«Aber ich muß, es ist nicht zu ändern. Aber mir wird nichts geschehen, weil niemand von meinen Plänen weiß. Ich werde einfach verschwinden. Denk daran, Jenny, es ist ein Geheimnis. Sie dürfen nichts davon erfahren, denn wenn sie etwas ahnen, ist mein Leben in Gefahr. Du verstehst doch, nicht wahr? Im Augenblick bin ich ihnen eine Nasenlänge voraus. Aber wenn diese Leute erfahren sollten, daß ich vorhabe zu verschwinden… ach, ich möchte gar nicht daran denken. Also, es bleibt unter uns, hm?«Ihre Schultern erschlafften. Jennifer schien in sich zusammenzusinken.»Ja, John, es bleibt unter uns.«
Als ich endlich wieder zu mir kam, saß ich unten im Wohnzimmer am Fenster. Durch den Regen zeigte sich das erste schwache Licht des Morgens, doch meine Augen nahmen es kaum auf. Das verstärkte Prasseln des Regens an den Fensterscheiben war es, das mich aus meiner Gedankenverlorenheit riß, und es wunderte mich nicht festzustellen, daß ich schon eine ganze Weile so gesessen haben mußte. Düster erinnerte ich mich, nach unten gegangen und völlig erschöpft auf diesen Stuhl gesunken zu sein. Ich blickte mich um. Nichts Warmes oder Behagliches war jetzt in diesem Zimmer. Es war kalt und grau wie der regnerische Morgen draußen, und ich fühlte mich eins mit ihm. In meiner Seele war kein Licht, nur kalte, graue Asche. Diese Nacht war zu schlimm gewesen. Nicht nur hatte ich das ganze Unglück mitansehen und hören müssen, ich hatte es auch noch fühlen müssen. Alle Gefühle meiner toten Vorfahren, gleich, welcher Natur, schienen sich ohne Abschwächung auf mich zu übertragen. Ich war nicht mehr als ein hilfloses Opfer, Leidenschaften preisgegeben, die längst erloschen waren und doch im Rahmen dieser unerklärlichen Zeitsprünge weiterbrannten. Wie kam es, fragte ich mich, daß ich mich vor der Annäherung der Lebenden sehr wohl abschirmen konnte, daß die Toten jedoch ohne Mühe in mein Innerstes vordringen konnten? Was alles sollte ich noch leiden, ehe ich frei davon wurde? Wenn ich überhaupt je frei davon werden sollte. Und wollte ich denn überhaupt frei sein?
Todmüde stand ich auf und schleppte mich zum Kamin hinüber. Großmutter würde bald herunterkommen und sich wieder aufregen, wenn sie sah, daß der Gasofen nicht ging. Ich stellte ihn an, schaltete ihn auf die niedrigste Stufe und tappte zum Sofa hinüber.
Wollte ich denn überhaupt dieses Haus jemals verlassen und wieder in mein früheres Leben zurückkehren, fragte ich mich. Würde ich es fertigbringen, Jennifers aufopfernder Liebe, der Erregung von Victors Nähe den Rücken zu kehren? Selbst Johns ausweglose Verzweiflung und Harriets Angst und Kummer hatten mich lebendig gemacht, so daß ich mich, zeitweise wenigstens, ganz gefühlt hatte. Bestand darin ihre zauberische Kraft, in ihrer Fähigkeit, mich zum Leben zu erwecken, Gefühle in mir zutage zu fördern, die ich niemals zuvor gekannt hatte? Ich fieberte jetzt den kurzen Episoden aus der Vergangenheit entgegen wie ein Drogensüchtiger seiner Spritze. Solange ich in der Zeit meiner Vorfahren lebte, war ich, was auch immer für Qualen ausgesetzt, wahrhaft lebendig. In den Perioden dazwischen, die mir endlos erschienen, war ich hingegen wie abgestorben. Die Stunden krochen dahin. Ich sah immer wieder auf die Uhr und konnte es nicht glauben, daß mir fünf Minuten so lang wie eine Stunde schienen. Großmutter kam nicht herunter. Als sie um acht Uhr noch immer nicht erschienen war und ich von oben keinerlei Geräusche hörte, beschloß ich, hinaufzugehen und nach ihr zu sehen.
Ich bewegte mich träge und schwerfällig. Ich sah, daß meine Fingernägel blau unterlaufen waren. Es mußte eiskalt sein in diesem
Haus, doch ich fühlte es nicht. Am oberen Ende der Treppe blieb ich stehen und lauschte. Aus dem Zimmer meiner Großmutter war kein Laut zu hören.
Jetzt wurde ich unruhig. Von Besorgnis aus meinem Zustand völliger Gleichgültigkeit gerissen, erinnerte ich mich endlich daran, wer ich war und wo, und mir fiel ein, daß Großmutter am vergangenen Tag schlecht ausgesehen hatte. Ich klopfte bei ihr. Nichts rührte sich.»Großmutter?«Keine Antwort.
Ich öffnete die Tür und schaute ins Zimmer. Es war ganz dunkel. Ich blieb einen Moment lauschend stehen und hörte immer noch nichts. Mit wachsender Besorgnis lief ich durch das Zimmer, schlug mich dabei an diversen Möbelstücken an und erreichte schließlich das Fenster. Mit einem Ruck zog ich die Vorhänge auf.
Das Bett war leer.»Was ist denn, Kind?«Ich fuhr zurück.»Großmutter!«
«Ich war im Bad, Andrea, hast du mich nicht gehört?«Ihr plötzliches Erscheinen hatte mich erschreckt.»Nein«, sagte ich.»Ich habe dich nicht gehört. Ich habe dich auch nicht aufstehen hören.«
«Ja, ich war aber auch ganz leise. Ich dachte, du schläfst vielleicht noch, und wollte dich nicht wecken. Wie fühlst du dich denn? Ich sehe, du bist schon angezogen.«
«Ja… Ich — mir geht's gut. Gott, hast du mich eben erschreckt.«
«Du bist schrecklich nervös, Kind. Das gefällt mir gar nicht. Komm, gehen wir runter und machen uns einen heißen Tee. «Als ich wieder unten am Fenster saß und in den Regen hinausstarrte, gestand ich mir ein, wie recht meine Großmutter hatte. Ich war wirklich nervös.
Mehr als das — meine Nerven waren aufs Höchste angespannt. Aber was hätte ich anderes erwarten können. Ich aß nicht, ich schlief kaum und war Nacht für Nacht der Spielball heftiger Gefühle.
«Wirklich, Kind, ich möchte wissen, was dir fehlt. Du machst mir Sorgen. Und dazu dieser schreckliche Regen, wie sollen wir da einen Arzt ins Haus holen?«
«Ich brauche keinen Arzt, Großmutter. Nur ein bißchen — eine Tasse Tee wird mir guttun. «Ich zwang mich, das süße Gebräu zu schlucken. Aber von meinem Toast brachte keinen Bissen herunter.
«Ist es wieder die Verdauung?«
«Nein!«Lieber Gott, niemals würde ich dieses gräßliche weiße Zeug hinunterbringen.»Meine — Verdauung ist in Ordnung, Großmutter. Es ist nur — es ist nur…«
"Haus der Eriinnerungen" отзывы
Отзывы читателей о книге "Haus der Eriinnerungen". Читайте комментарии и мнения людей о произведении.
Понравилась книга? Поделитесь впечатлениями - оставьте Ваш отзыв и расскажите о книге "Haus der Eriinnerungen" друзьям в соцсетях.