«Weißt du was, ich geh dir ein Glas Kirschlikör, und dann pack ich dich richtig ein, und du setzt dich ans Feuer. Du brauchst Wärme. Du frierst dich ja zu Tode. Schau dich doch nur an. «Sie neigte sich zu mir und berührte meinen Arm.»Um Gottes willen!«rief sie entsetzt.»Du bist ja so kalt wie eine Leiche!«Ich sah auf meine Arme hinunter.

«Es ist ein Wunder, daß du dir noch keine Lungenentzündung geholt hast. Wie kannst du diese Kälte nur aushaken? Im Radio haben sie gesagt, daß die Temperaturen noch weiter fallen. Hier drinnen hat's keine zehn Grad. Ich hab drei Strickjacken an und friere immer noch. Und du — halbnackt. Ich frag mich wirklich, wie du das aushältst.«

Es ist dieses Haus, dachte ich. Es will mich langsam umbringen. Wir setzten uns ans Feuer, und obwohl ich unter der Hitze litt, blieb ich Großmutter zuliebe brav sitzen. Sie sollte sich keine Sorgen um mich machen. Und so saßen wir fast den ganzen Tag.

Am frühen Abend fühlte sich Großmutter so weit durchgewärmt, daß sie keine allzu starken Schmerzen mehr hatte, wenn sie sich bewegte. Sie ging in die Küche und machte uns ein kleines Abendessen. Wie ich es hinunterbrachte, weiß ich selbst nicht. Ich kaute und schluckte ganz automatisch, ohne etwas zu schmecken, und behielt es sogar bei mir.

Danach wurde ich schläfrig. Ich hatte schon lange nicht mehr soviel gegessen. Trotz meiner gereizten Nerven und der unablässigen Gedanken, die in meinem Kopf wirbelten, erlag ich schließlich der Hitze.

Als ich erwachte, sah ich als erstes auf die Uhr. Es war neun. Dann sah ich nach Großmutter. Sie schlummerte friedlich in ihrem Sessel. Draußen tobte immer noch der Sturm. Im Zimmer brannte nur eine Stehlampe in der Ecke. Ein diffuses Licht erfüllte den Raum, und es zeigte mir John, der am Kamin stand. Er war nervös, trommelte mit den Fingern auf den Kaminsims, sah immer wieder auf die Uhr. Seine ganze Haltung drückte ungeduldige Erregung aus, und sein Gesicht war angespannt. Als Jennifer fast lautlos ins Zimmer schlüpfte und leise die Tür hinter sich schloß, atmete er erleichtert auf. Sie hatte eine gepackte Reisetasche mitgebracht.

«Danke, Liebes«, sagte John, als er sie ihr abnahm.»Hat dich jemand gehört?«

«Nein. Sie schlafen alle. Vater und Mutter haben sich vor ungefähr einer Stunde zurückgezogen, und Harriet schläft in unserem Bett. Ich lege mich heute nacht aufs Sofa im Salon.«

«Jenny — «

«Ich habe dir meine Granatohrringe eingepackt«, fuhr sie steif fort.»Sie haben fünf Pfund gekostet, da müßtest du eigentlich noch ein oder zwei Guineen für sie bekommen. Du wirst das Geld brauchen.«

«Jennifer. «Zaghaft und unsicher legte er die Arme um sie.»Es schmerzt mich tief, daß ich so plötzlich fort muß. Ich hatte gehofft, ich hätte noch ein paar Tage Zeit und wir könnten auf würdigere Weise voneinander Abschied nehmen. Aber nun hat mein ehrenwerter Bruder mir die Hunde auf den Hals gehetzt, und ich muß gleich fort, wenn ich mit dem Leben davonkommen will.«

Jennifers Gesicht war unbewegt, als ich ihre Wange küßte.»Du wirst mir schrecklich fehlen, Jenny, mehr als ich dir sagen kann. Ich werde oft an dich denken. «Sie sah ihn an wie versteinert.»Hast du keine Tränen für mich?«

«Ich werde auf dich warten, John.«

«Ja, das weiß ich. Jetzt brauche ich nicht mehr zu fürchten, daß du mit Victor, diesem Schurken, auf und davongehen wirst. Jetzt, da er den Namen der Familie in den Schmutz gezogen hat, erkennst du ihn wohl endlich als den, der er wirklich ist. «Jennifer stand kerzengerade da und sah ihren Mann mit steinerner Miene an. Ich spürte die starre Kälte ihres Herzens. Sie durchdrang mich, wie Harriets Jammer mich durchdrungen hatte, und Fetzen trüber Gedanken erzählten mir vom Schmerz und Entsetzen über Victors vernichtenden Sturz. Der Name Megan O'Hanrahan wehte bitter und schmerzhaft durch unsere Gedanken. Sie war es, die das Gerücht von Harriets Abtreibung ausgestreut und den Ruf Victors, der sie angeblich vorgenommen hatte, ruiniert hatte. Ich erinnerte mich mit Jennifer ihrer flehentlichen Bitten an ihn, die Behauptung zurückzuweisen, und ich erinnerte mich mit Jennifer seines beharrlichen Schweigens. Nicht ein einziges Wort hatte Victor zu seiner Verteidigung vorgebracht, während sich das Gerücht von der Abtreibung wie die Schwarze Pest in Warrington verbreitet hatte. In sehr kurzer Zeit war vom Ansehen Victor Townsends nichts mehr übrig gewesen.

Bilder von Mrs. Townsend stiegen auf, die vor Scham und Demütigung schwer krank geworden war und nun von ihrem Leiden an ihr Bett gefesselt war; Bilder von Mr. Townsend, der jeden Morgen stolz und hocherhobenen Hauptes den Weg zur Arbeit antrat und jeden Abend niedergedrückt wie ein geprügelter Hund heimkehrte.

Er hatte gehört, was hinter seinem Rücken getuschelt wurde, absichtlich so laut, daß er es nicht überhören konnte. Da, seht ihn euch an. Seine Tochter ist nicht mehr als eine gemeine Hure. Sein

ältester Sohn ist ein Engelmacher. Sein jüngster ist ein Trinker und Spieler.

«Du glaubst mir nicht, stimmt's?«

«Nein, ich glaube dir nicht.«

«Aber es ist wahr. Victor ging schnurstracks zu den Buchmachern und sagte ihnen, daß ich vorhabe, aus der Stadt zu verschwinden. Da sind sie natürlich prompt zu mir gekommen, haben mich bedroht und ihr Geld verlangt. Ich mußte sie mit einer Lüge abspeisen. Ich versprach ihnen, sie würden es gleich morgen bekommen. O ja, du kannst es mir glauben, das habe ich Victor zu verdanken. Er wollte mich für seinen eigenen Ruin büßen lassen. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, daß ich davonkommen sollte. Er allein kann es gewesen sein, denn niemand sonst wußte von meinen Plänen. Nur dir und ihm habe ich davon erzählt, und ich glaube doch nicht, daß meine eigene Frau mir die Meute auf den Hals hetzen würde — oder?«Jennifer antwortete nicht. Sie hörte in diesem Moment eine andere Stimme, Victors Stimme. Sie sah sich mit ihm im Salon. Er hatte eben die Hände von den Tasten des Klaviers genommen und sagte:»Er braucht einen Schock. Er muß gezwungen werden-«

Und sie erinnerte sich ihrer eigenen Worte —»Versprich mir, daß du John in Ruhe läßt«- Victors Antwort:»Wenn es dein Wunsch ist, verspreche ich es.«

John lächelte so siegessicher wie ein Kartenspieler, der weiß, daß er die Partie gewinnen wird.»Deine Augen sagen etwas anderes als dein Mund. Ich sehe es in deinem Gesicht, Jenny, daß von deiner Liebe zu Victor nichts übriggeblieben ist. «Doch was er in Wirklichkeit sah, war die tiefe Abscheu, die sie dieser Familie und dieser Stadt entgegenbrachte für das, was sie Victor angetan hatten. Sie hatten ihn verurteilt und verdammt, ohne ihm überhaupt eine Chance zur Verteidigung zu geben. Wenn du jemandem die Schuld an all diesem Unglück geben willst, sagten ihre Augen, dann gib sie Harriet, die sich in diese

Situation gebracht hat und dann alles noch Megan O'Hanrahan erzählen mußte. Was

John Townsend im Gesicht seiner Frau sah, war bittere Ernüchterung.»Du solltest jetzt besser gehen, John.«

«Ja, Liebes, ich gehe. Aber glaub mir, ich komme zurück. Bald schon. Und mit Geld in der Tasche. Du wirst sehen. «Ich entdeckte einen Unterton beinahe freudiger Erregung in seiner Stimme und ein Blitzen von Abenteuerlust in seinen Augen. John Townsend hatte es endlich geschafft, der Fuchtel seines Vaters zu entkommen. Er riskierte dabei vielleicht Kopf und Kragen, und er ging in Schande, aber er tat endlich das, worum er Victor immer beneidet hatte: Er ging fort aus diesem Haus.»Dann wird es uns gutgehen, und wir werden in unserem eigenen Haus leben. Ich engagiere dir ein Dienstmädchen und lasse ein Telefon installieren. Was sagst du dazu, Jenny, Liebes, ein Telefon!«

«Es ist spät John.«

Ohne ein weiteres Wort nahm er die Reisetasche, küßte Jennifer kurz und heftig und eilte aus dem Zimmer. Sie blieb reglos stehen, und wir hörten, wie er leise die Zimmertür hinter sich zuzog und wenig später die Haustür. Als sie gewiß war, daß er fort war, als im Haus Grabesstille eingekehrt und nur noch das feine Ticken der Uhr zu hören war, stieß Jennifer ein herzzerreißendes Schluchzen aus und stürzte zu Boden. Als ihre Hand meinen Fuß berührte, verschwand sie.

Gegen halb zehn erwachte Großmutter aus ihrem Schlummer. Mit Hilfe ihres Stocks stemmte sie sich aus dem Sessel und humpelte hinaus, um nach oben in ihr Zimmer zu gehen. Ich hörte, wie sie im Bad heißes Wasser in die Wärmflaschen laufen ließ und dann in ihr Zimmer tappte. Ich hörte das Quietschen der Sprungfedern, als sie sich in ihr Bett sinken ließ. Danach strich ein wispernder Wind durch das Haus, und es war, als seufzten die Wände. Ich wartete ungeduldig auf meine nächste Begegnung.

Sie erfolgte wenige Minuten später.

Während ich noch über das Unglück nachdachte, das die Familie Townsend damals heimgesucht hatte, hörte ich im Salon Geräusche. Langsam, unsicher ging ich hinüber. Noch vor wenigen Tagen hatte ich nur heitere Szenen miterlebt, ganz normale Familienszenen, in denen sich die Townsends wie jede andere Familie gezeigt hatten. Aber dann war eine Wendung erfolgt. Die Episoden, deren Zeugin ich wurde, waren immer beängstigender geworden. Sie hatten jetzt etwas Makabres, Untertöne von Blut und Schande und Vernichtung. Was würde ich diesmal erleben? Wie weit würde diese Familie in ihrem Hang zur Selbstzerstörung noch gehen?

Harriet war im Salon. Sie lag auf dem großen Sofa, den Kopf in die Arme gedrückt, und schluchzte. Ich blieb an der Tür stehen, nicht ohne Mitgefühl mit diesem Kind, das so ahnungslos in die Welt der Erwachsenen hineingestolpert war. Ich hätte gern gewußt, was für einen Tag man schrieb, in welchem Jahr wir uns befanden. Wieviel Zeit war seit der Abtreibung vergangen? Was war in der Zwischenzeit geschehen? Wo war Victor? Was war nach seinem Sturz aus ihm geworden? Und war Scan O'Hanrahan verschwunden? War John schon zurück, die Taschen voller Geld vielleicht? Oder hatte sich etwas Neues ereignet, das mir jetzt offenbart werden sollte?

«O Gott, o Gott, o Gott«, schluchzte Harriet unaufhörlich.»Es ist alles meine Schuld. Ich hab's ihm gesagt. Ich hab's ihm selbst gesagt. Ich hätte den Mund halten sollen. Ich brauchte es ihm nicht zu sagen.«

Sie marterte sich mit Selbstvorwürfen.

Das Feuer im Kamin war fast ganz heruntergebrannt, und das Zimmer wirkte düster. Harriet lag da, als hätte sie sich in einem heftigen Anfall von Verzweiflung niedergeworfen.»Natürlich ist er jetzt böse und bitter. Ich hätte es ihm nicht sagen sollen. Er ist böse, und darum hat er es getan. Ich kann's ihm nicht einmal übelnehmen. Ich kann nur mir selbst die Schuld geben. Ja, ich bin selbst schuld daran, weil ich so dumm war. So unglaublich dumm.«

Den Rest verstand ich nicht. Sie schluchzte in ihre Arme und brabbelte immer weiter.

Nur ab und zu, wenn sie sich besonders heftig erregte und laut wurde, konnte ich verstehen, was sie sagte.»Ach, hätte ich doch nur den Mund gehalten. Dann hätte er das nicht getan. Jetzt kann ich nie wieder unter Menschen gehen. «Sprach sie immer noch von Scan? Oder meinte sie Victor? Als Harriet sich schließlich aufsetzte und sich die Augen wischte, wich ich entsetzt und erschrocken zurück. Sie sah aus, als hätte man ihr den Kopf geschoren. Sie stand auf und ging zu dem goldgerahmten Spiegel, der über dem Kamin hing. Voller Abscheu musterte sie sich darin.»Du kannst es ihm nicht übelnehmen«, murmelte sie wieder, während sie ihr verschwollenes Gesicht unter dem kurzgeschnittenen Haar betrachtete.»Er ist böse auf dich, und das ist kein Wunder. Er wußte nicht, wie er seinen Zorn und seine Wut sonst an dir auslassen sollte. Du hättest dich gleich umbringen sollen, dann wären jetzt alle froh und glücklich. Ihm wäre die Schande erspart geblieben. Mutter wäre nicht krank geworden, und John wäre nicht davongelaufen. Ja, ja, schau dich nur an! Wer kann ihm einen Vorwurf machen?«

Es war kaum Bitterkeit in ihrer Stimme. Sie sprach eher in einem kindlich flehenden Ton, wie das Opfer, das seinen Folterknecht anbettelt, es zu verschonen.

Sie sah schrecklich aus. Von dem schönen kastanienbraunen Haar, das voll und lockig ihr Gesicht umrahmt hatte und das einzig wirklich Reizvolle an ihr gewesen war, waren nur noch millimeterkurze, ungleichmäßig geschnittene Büschel übrig, die stachlig von ihrem Kopf abstanden. An manchen Stellen war das Haar so kurz, daß die nackte Kopfhaut durchschimmerte. Mit dem verschwollenen Gesicht, den rotgeränderten Augen und dem borstig wirkenden Haar sah Harriet beinahe aus wie der kleine Affe eines Drehorgelmanns.

Ich bedauerte den Vergleich augenblicklich. Ich sah ja, wie gequält und unglücklich sie war, und sie tat mir in der Seele leid. Ich fragte mich, wer sie so grausam zugerichtet hatte und warum.»Ich hab's verdient«, flüstert sie weinend vor dem Spiegel.»Ich hab's verdient. Er hatte alles Recht dazu, nach dem, was ich ihm angetan habe. O Gott — er hatte das Recht dazu. «Nicht fähig, den eigenen Anblick länger zu ertragen, rannte Harriet vom Spiegel zum Sofa zurück, warf sich erneut darauf nieder und begann wieder zu schluchzen.