Und wenn ich es verhinderte, kam das für mich einem Selbstmord gleich.

Mir war, als befände ich mich in einem Labyrinth, aus dem es kein Entkommen gab. Immer tiefer trieben mich mein Denken und Forschen in mich selbst hinein, ich stieß auf Winkel meiner Seele, in die noch nie Licht gekommen war, ich begegnete Seiten von mir, die ich nie kennengelernt hatte.

Und dazwischen fragte ich mich immer wieder: Ist es möglich, daß ich mich in Victor täusche?

Was wird geschehen, wenn ich mich täusche und einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begehe, indem ich die Vereinigung von Jennifer und Victor verhindere, zwei guten und reinen Menschen, und so in meiner Tölpelhaftigkeit meinen eigenen Tod herbeiführe? Mein Großvater, meine Mutter, Elsie und William, meine Cousinen und mein Vetter, mein Bruder und ich selbst — alle in einem Wimpernschlag ausgelöscht. Ich brauchte nur einzugreifen und Victors Verbrechen zu verhindern. Aber kann man die Geschichte wirklich verändern? Oder waren alle meine Überlegungen nur die Wahnvorstellungen eines Menschen, der seit Tagen nicht gegessen und geschlafen hat und sich am Rande des nervlichen und körperlichen Zusammenbruchs befindet? Woher sollte ich das mit Sicherheit wissen?

Das Klopfen von oben weckte mich. Ich lag auf dem Boden in der Mitte des Wohnzimmers. Ich brauchte einen Moment, um die Orientierung zu finden, und als ich mich aus meiner Benommenheit befreit hatte und das Klopfen aus dem oberen Stockwerk hörte, fragte ich mich, ob es von Großmutter kam, die mich brauchte, oder von einem Besucher aus der Vergangenheit. Mit Mühe stand ich auf und torkelte zur Tür.

Im Flur war es dunkel. Die Treppe schwang sich in eine Finsternis hinauf, die mir schwärzer und undurchdringlicher erschien als je zuvor. Die Stille war beinahe greifbar. Sie beengte mich und machte mir das Atmen schwer. Bei jedem Schritt aufwärts mußte ich keuchend um Atem ringen; mein Körper rebellierte gegen die Kraft, die ihn vorwärts trieb. Und bei jedem Schritt dachte ich, wenn ich recht habe und Victor nur zurückkommt, um grausame Rache zu nehmen, werde ich dann dabeistehen und zusehen können, wie er die Menschen quält, die ich lieben gelernt habe, oder werde ich den Mut haben, einzugreifen und das Unglück abzuwenden und damit mich selbst auszulöschen? Als ich das Ende der Treppe erreicht hatte, lehnte ich mich schwer atmend an die Wand. Die Luft erschien mir dünn und eisig hier oben, als wäre ich in polare Zonen hinaufgeklettert, und während ich dastand und meine Kräfte sammelte, dachte ich weiter: Und wenn ich es schaffe einzugreifen, wie wird es vor sich gehen? Ich habe erfahren, daß ich nun feste Form für diese Menschen angenommen habe und mit ihnen sprechen kann. Bei der nächsten Begegnung werde ich ihnen noch realer erscheinen. Wie also werde ich die Wahnsinnstaten Victors verhindern? Wird allein schon mein Anblick, wenn ich ihm plötzlich erscheine, ihn abschrecken? Werde ich ihn lange genug zurückhalten können, um Jennifer Gelegenheit zu lassen, sich zu retten? Wie werde ich es anstellen?

Ich drehte mich um und spähte durch den dunklen Korridor. Das Klopfen kam natürlich aus dem Vorderzimmer. Im Schlafzimmer meiner Großmutter war alles still.

Ehe ich den unvermeidlichen Weg antrat, dachte ich, und was ist, wenn ich mich täusche? Was ist, wenn Victor als Geschlagener nach Hause kommt, der nichts sucht als Trost und Liebe? Was ist, wenn ich einen Akt der Liebe verhindere? Wenn ich die falsche Entscheidung treffen sollte?

Tausend Fragen und keine Antwort. Ich konnte nur den Flur hinuntergehen, in das Schlafzimmer treten und dem Schicksal fürs erste seinen Lauf lassen.

Kapitel 16

Wieder war das Zimmer erfüllt von dem gespenstischen dunstigen Licht, das eine unsichtbare Quelle verströmte und das kalt wirkte. Als ich über die Schwelle trat, spürte ich jemanden neben mir. Es war Jennifer. Sie war mit mir eingetreten, schien jedoch meine Anwesenheit nicht zu bemerken. Ihr Blick war auf den Kleiderschrank gerichtet, und genau wie ich blieb sie einen Moment zögernd stehen.

Die Szene war mir schrecklich vertraut. Ich war schon früher hier gewesen. Das Zimmer umfing mich mit der gleichen Aura lauernder Schrecknisse und höllischer Bilder. Vielleicht war es nur Einbildung, aber diesmal hingen die Schatten in seltsamen Winkeln in dem Raum, so daß er verzerrt wirkte, wie gekippt. Ich hatte den flüchtigen Eindruck, ein Gespensterkabinett zu betreten. Ein kalter Luftzug traf mich — uns —, der von allen Seiten zu kommen schien und mich bis ins Innerste auskühlte. Das geisterhafte Licht schluckte alle Farben im Raum; was blieb, waren Kontraste in Schwarz, Weiß und Grau. Bedrückend wie in einem Alptraum.

Jennifer und ich setzten uns in Bewegung. Ihr Gesicht war ungewohnt starr, während sie zuerst hierhin und dann dorthin blickte, um schließlich den Blick wieder auf den Kleiderschrank zu richten. Sie schien hierhergekommen zu sein, um etwas zu suchen, aber ich fühlte, daß sie schon ahnte, schon fürchtete, daß sie es im Kleiderschrank finden würde.

Wir wurden beide wie magisch zu ihm hingezogen, während unsere Blicke auf dem polierten Holz ruhten, auf der geschwungenen Maserung, den glänzenden Messingbeschlägen. Es kann sein, daß Jennifer sich im Zimmer umsah, während sie vorwärtsschritt; ich tat es nicht. Ich hatte eine Todesangst vor dem, was ich in den Schatten erblicken könnte. Ein solches Grauen packte mich, daß ich am liebsten laut geschrien hätte. Doch meine Füße bewegten sich unerbittlich vorwärts, im Gleichschritt mit Jennifers. Dann standen wir vor dem Schrank. Wir standen da und starrten ihn an und spürten, wie sich uns die Haare im Nacken sträubten. Wir hatten beide das heftige Verlangen, kehrtzumachen und zu fliehen, aber wir konnten es nicht. Wir mußten wissen, was in dem Schrank war.

Ich sah, wie unsere Hände sich hoben und zum Schrank griffen. Jennifers, lang und bleich, berührte den kleinen Messingknopf. Meine eigene Hand hing nur ausgestreckt in der Luft, bloße Nachahmung ihres Handelns. Wir zögerten immer noch, bedrängt von der unheimlichen Aura des Zimmers, schaudernd vor böser Vorahnung.

Dann ergriff Jennifer den kleinen Messingknauf und begann, ihn zu drehen.

Ich glaubte, ich würde ohnmächtig werden. Auf dem Boden zu unseren Füßen war eine Spur von Blutstropfen, die zum Schrank führte, und dort, an seinem Sockel, glänzte dunkel ein frischer Fleck, aus dem Inneren hervorgequollen. Starr vor Angst und dennoch unfähig einzuhalten, zog Jennifer langsam die Schranktür auf.

Wir schrien beide. Wir schrien gleichzeitig, beinahe im Gleichklang. Wir schlugen die Hände auf unsere Münder, um die Schreie zu ersticken. Ich spürte, daß Jennifers Herz so rasend hämmerte wie meines, daß plötzliche Schwäche sie überwältigte, und sie glaubte, sie würde zuammenbrechen. Aber das verging. Wir faßten uns, wenn auch zu Tode erschrocken von dem, was wir sahen. Es war Harriet.

Sie lag zusammengekrümmt in der Ecke des Kleiderschranks und starrte aus blicklosen Augen zu uns auf. Ihr Gesicht trug einen Ausdruck, der eine Mischung aus Scham, hilflosem Erstaunen und Hinnahme war. Mit Jennifer zusammen kniete ich nieder, aber obwohl wir uns über Harriet neigten, brachten wir es nicht über uns, sie zu berühren. Wir wußten schon, daß Harriet tot war. Wir blickten sie an, zu entsetzt und verwirrt, um eine Bewegung zu machen, und wurden starr und kalt unter der Wirkung des Schocks. In Harriets Brust steckte ein Messer, ein langes Brotmesser, das ihrem Körper grausame und unnötige Verletzungen beigebracht hatte. Das Blut floß nicht mehr, es begann schon in kleinen Lachen um ihre Hände und Füße und in ihrem Schoß zu gerinnen. Mit der linken Hand umklammerte sie einen Brief:»Für Jenny«, stand auf dem Umschlag.

Eine unendlich lange Zeit blieben wir so, über den verstümmelten Körper Harriets geneigt, und sahen ganz ohne Gefühl die vielen Wunden und Verletzungen und dachten, es hätte nicht schlimmer sein können, wenn ein Schlächter sie unter dem Messer gehabt hätte. Harriet schien noch eine ganze Weile mit ihren Wunden gelebt zu haben, ehe sie endlich hatte sterben dürfen. Als Gefühl und Empfinden langsam wiederkehrten, griff Jennifer nach Harriets Hand. Nicht vorsichtig oder zaghaft, sondern mit Traurigkeit und Liebe. Sie umfaßte den Brief und zog ihn Harriet aus den Fingern. Mit einem Gefühl tiefer Resignation schob sie ihn in ihre Rocktasche und stand auf.

Auch ich stand auf, aber als Jennifer sich abwandte und ging, blieb ich stehen und starrte in den Schrank, bis er leer war und ich nichts weiter sah als ein paar Staubflusen.

Als ich irgendwann später erwachte, ohne die geringste Ahnung, wie spät es war, lag ich auf dem Bett. Ich war voll bekleidet und lag auf den Decken und konnte mich nicht erinnern, wie ich hierhergekommen war. Langsam richtete ich mich auf und sah mich im Zimmer um. Es war wieder 1894.

Die Türen des Kleiderschranks standen offen, einige von Jennifers Kleidern hingen darin. Im Kamin brannte ein Feuer, und davor saß Jennifer, still und allein, in dem burgunderroten Samtsessel.

Muß ich jetzt für immer hierbleiben? fragte ich mich beunruhigt. Hat sich das Zeitfenster hinter mir geschlossen, als ich die Kluft überwand? Werde ich niemals wieder in meine eigene Zeit zurückkehren?

Auf den Ellbogen gestützt, blieb ich auf dem Bett liegen und beobachtete Jennifer. Ihr Gesicht war gezeichnet von den Nachwirkungen ihres grausigen Funds. Es war bleich und schmal, die Augen von dunklen Ringen umschattet. Jennifer sah aus wie eine Frau, die alle Hoffnung aufgegeben hat. In ihrem Blick, der in die Flammen gerichtet war, blitzte kaum noch ein Lebensfunke. Sie hatte kapituliert und sich in sich selbst zurückgezogen. Ich hörte die Schritte draußen erst, als Jennifer sich plötzlich lauschend aufrichtete und das Gesicht der Tür zuwandte. Aber dann horchte ich so gespannt wie sie. Die Schritte schallten dumpf durch den Korridor und wurden merklich lauter. Wie gebannt starrte ich zur Tür.

Und dann kam Victor Townsend herein.

Jennifer und ich schrien gleichzeitig auf. Doch während sie aus ihrem Sessel sprang, rührte ich mich nicht von der Stelle. Victor Townsend sah wieder aus wie damals, als er aus London zurückgekehrt war, das Gesicht eine strenge, unbewegte Maske, die kein Geheimnis preisgab, die Augen Spiegel von Enttäuschung und grausamer Ernüchterung. Reglos blieb er an der Tür stehen, den Blick mit einem Ausdruck von Schmerz und Resignation auf Jennifer gerichtet, die vor ihrem Sessel stehengeblieben war. Sie sah ihn so ungläubig an, als hielte sie ihn für ein Gespenst. Schließlich sagte Victor:»Ich habe unten geklopft, und als niemand aufmachte, bin ich einfach hereingekommen. Ich hatte von der Straße das Licht hier im Zimmer gesehen und nahm an, es sei jemand da. Jennifer…«

Sie konnte nicht sprechen. Ihr Körper neigte sich ihm ein wenig zu, sie hob die Hände, aber noch immer konnte sie kein Wort sagen. Es war, als stünde sie jemandem gegenüber, der aus dem Reich der Toten zurückgekehrt war.

«Ich habe deine Briefe bekommen«, sagte er zögernd, als suchte er nach den richtigen Worten.»Aber ich konnte sie nicht beantworten, Jennifer. Ich habe die Beerdigung verpaßt, nicht wahr?«

«Ja«, antwortete sie, immer noch wie in einem Traum.»Und John…«Victor schien unsicher.»Hast du von ihm gehört?«

Sie schüttelte den Kopf.

«Sie haben ihn gefunden, Jenny«, sagte Victor mit tonloser Stimme.»Im Mersey. Er konnte den Buchmachern nicht entkommen. Es tut mir leid.«

Ihr Gesicht blieb ausdruckslos.»Es mußte wohl so kommen«, sagte sie leise.»Im Grunde habe ich es wahrscheinlich nicht anders erwartet.«

«Jenny«, sagte er stockend.»Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen.«

Jennifer begann zu zittern.»Lebewohl?«Ihre Stimme war nur ein Hauch.

«Ach Gott, Jenny, wie mich das quält. Du siehst krank aus. Du bist zu dünn. Geh fort aus diesem Haus, Jenny. Geh fort von dieser Familie, ehe du umkommst.«

«Warum bist du gekommen, wenn du mir nur Lebewohl sagen willst?«

«Jennifer, ich habe mich dir ferngehalten, um dich vor meinem schlimmen Ruf zu schützen. Du bist so unschuldig in das alles hineingerissen worden. Und sieh dich an, was es aus dir gemacht hat. Ich hoffte, du würdest mich mit der Zeit vergessen, wie an einen Toten an mich denken.«

«Niemals, Victor!«Sie trat einen Schritt auf ihn zu.»Aber es muß so sein. Ich bin sofort gekommen, als ich von Harriet hörte. Ich wollte bei der Beerdigung dabeisein. Aber ich bin zu spät gekommen. Wo sind meine Eltern, Jenny?«Sie befeuchtete ihre spröden Lippen.»Sie sind nach Wales gereist. Deine Mutter hat den schrecklichen Schock nicht ertragen können. Sie hatte einen Zusammenbruch, Victor. Sie kann nicht mehr gehen. Und dein Vater gibt sich die Schuld an Harriets Tod… Sie mußten einfach eine Weile weg von hier, weißt du.«