«Eben hat ein Junge durch das Fenster geschaut.«

«Was? Diese frechen Bengel!«Sie packte ihren Stock, machte unsicher kehrt und humpelte in die Küche zurück. Ich folgte ihr am kleinen Tisch vorbei, wo alles voller Mehl war und der Teig halb ausgerollt unter dem Nudelholz lag, zur Hintertür. Die ganze Zeit schimpfte Großmutter halblaut vor sich hin. Sie öffnete die Tür, und die arktische Kälte schlug uns entgegen. Vorsichtig stieg sie auf das holprige Backsteinpflaster hinunter.»Diese Früchtchen! Machen sich einen Spaß daraus, alte Leute zu ärgern. Drum haben wir nie eine Türglocke einbauen lassen. Da klingeln sie nur und laufen dann davon. Also, wo ist der Bursche?«Ich sah mich in dem kleinen Hinterhof um und wußte, daß wir vergeblich suchen würden.»Er muß durch das Tor hinausgelaufen sein«, sagte ich kleinlaut.

«Was? Nie im Leben. Das Tor ist schon seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt worden. Schau nur selbst nach, es rührt sich überhaupt nicht.«

Fröstelnd inspizierte ich Schloß und Türangeln. Alles für immer zugerostet. Dann musterte ich die Mauer, die schmalen Erdstreifen mit den dürren Rosenbüschen darunter, um zu sehen, ob er Fußabdrücke hinterlassen hatte. Dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen und spähte in Mrs. Clarks kleinen Garten und sah die endlose Kette von Mauern und Gärten und schmutzigen alten Häusern.

«Was ist da hinten, Großmutter?«

«Eine Gasse, die kein Mensch benützt. Und auf der anderen Seite das große Feld. Newfield Heath, das reicht bis zum Kanal runter. Der Bengel ist längst über alle Berge.«

«Ja…«Ich rieb mir die Arme. Die Rosenbüsche waren unberührt. Wenn jemand über die Mauer geklettert wäre, hätte er jedoch unweigerlich in ihnen landen müssen. Ich fröstelte.

«Komm wieder rein, Kind. Vergiß die Geschichte. Es war nur ein Dummejungenstreich.«

Ich folgte ihr wieder ins Haus und sperrte die Hintertür ab. Immer noch fröstelnd setzte ich mich ins Wohnzimmer. Weder die Wärme der Gasheizung noch der heiße Tee konnten die Erinnerung an das unheimliche Gefühl vertreiben, das mich befallen hatte, ehe ich den Jungen am Fenster gesehen hatte. Und ebenso wenig den Eindruck, ihn schon einmal gesehen zu haben.

Unser Abendessen bestand aus Butterbroten und heißer Milch. Danach setzten wir uns wieder an den Kamin. Ich kuschelte mich tief in den Sessel und ließ mich von der Wärme des Zimmers einlullen. Ich war unglaublich müde und wäre am liebsten sofort zu Bett gegangen, aber ich spürte, wie sehr Großmutter meine Gesellschaft genoß, wieviel Freude es ihr machte, mich zu umsorgen, und zwang mich deshalb, wach zu bleiben. Sie schwatzte eine Weile über dieses und jenes, über das Ausländerproblem in England, über lang vergangene glückliche Tage, erzählte mir aus der Kindheit meiner Mutter, von William, Elsie und Ruth, die in diesem Haus aufgewachsen waren, von dem Tag, als meine Mutter der Familie ihren zukünftigen Mann vorgestellt hatte. Ich hörte ihr gern zu, auch wenn ich vieles, was sie erzählte, schon von meiner Mutter gehört hatte. Nach einer Weile jedoch fiel mir auf, daß sie es sehr bewußt vermied, von der ferneren Vergangenheit zu sprechen. Als gäbe es da eine Tür, die sie nicht zu öffnen wagte.

Dann sagte sie:»Ich hab hier irgendwo einen Karton mit Fotografien. Die mußt du dir ansehen.«

Ich blieb mit geschlossenen Augen in meinem tiefen Sessel sitzen, gab mich der Stille und dem Frieden des Raums hin und versuchte, eine Mauer aufzurichten gegen die Erinnerungen, vor denen ich hierher geflohen war. Ich hoffte, es würde nicht mehr lang dauern, bis ich ohne Schmerz an Doug denken konnte.»Na bitte, da sind sie schon. «Großmutter hatte den Karton mit den Fotos gefunden und setzte sich wieder zu mir.»Das sind alles Bilder von deiner Mutter und Elsie und William, als sie noch klein waren. «Sie kramte in der Schachtel.»Hier ist eine von uns allen, als wir am Meer waren. Das muß so um 1935 gewesen sein. Deine Mutter war damals fünfzehn, Elsie sechzehn, und William war noch ein richtiger kleiner Lauser.«

Ich sah mir die unscharfe Aufnahme an und beugte mich dann neugierig über den Karton. Die Fotografien lagen kunterbunt durcheinander, lauter Schwarzweißaufnahmen, die alle etwa aus der gleichen Zeit zu stammen schienen.

Aber am Rand des Durcheinanders, an die Wand des Kartons gedrückt, so daß eine Ecke in die Höhe ragte, entdeckte ich ein Foto, das größer war als die anderen und, nach dem zu urteilen, was von ihm zu sehen war, beträchtlich älter. Während Großmutter weiter schwatzte, griff ich in den Karton und zog das Bild heraus.

Ich hatte recht gehabt. Sie war wirklich älter als die anderen. Viel älter. Eine sepiabraune, leicht verblaßte Fotografie mit einem Knick in der Mitte, die drei Kinder auf einer Treppe vor einem Haus zeigte.

Wie gebannt starrte ich auf das Foto. Einen Moment stockte mir der Atem.

«Großmutter«, sagte ich dann.

Sie blickte auf das Foto in meiner Hand.»Was ist das für eines?«

«Wer sind die Kinder, Großmutter?«

«Warte, da muß ich erst meine Brille aufsetzen. «Sobald sie ihre Bifokalbrille auf der Nase hatte und die Gesichter der drei Kinder erkennen konnte, verzog sie unwillig den Mund.»Oh«, sagte sie wegwerfend.»Das da! Das sind die Townsends, Andrea. Die Familie deines Großvaters. Das sind Harriet, Victor und John. Komm, gib her, das ist nichts — «Und sie griff nach dem Foto, um es mir wegzunehmen.

Aber ich hielt es fest. Ich sah, daß meine Hand zitterte.»Wer — «Ich mußte meine Lippen befeuchten.»Wer ist wer, Großmutter?«

«Wie?«

«Wer ist welches Kind, Großmutter? Zeig es mir.«

«Hm, warte mal. «Sie beugte sich vor und tippte mit dem Finger der Reihe nach auf die drei Gesichter.»Das ist Harriet. Das ist Victor. Und das ist John.«

Der Junge in der Mitte. Der zwischen dem Mädchen mit den Korkenzieherlocken und dem kleineren Jungen im Matrosenanzug. Der, den Großmutter Victor genannt hatte. Dieser Junge hatte am Nachmittag durch das Fenster hereingesehen.

Kapitel 3

«Aber das ist doch unmöglich«, protestierte sie.»Das hast du dir eingebildet.«

«Nein, bestimmt nicht. Das ist der Junge, den ich am Fenster gesehen habe.«

«Es war vielleicht einer, der ihm ähnlich sah — «

«Nein. Er war genauso angezogen. Es ist mir in dem Moment nicht aufgefallen, aber er hatte altmodische Sachen an, die gleichen Sachen, die er hier auf dem Foto trägt. Ich kann mir das gar nicht eingebildet haben, Großmutter. Da hatte ich das Foto doch noch gar nicht gesehen. Er war so lebendig, wie du jetzt vor mir sitzt.«

Großmutter schüttelte beinahe mitleidig den Kopf.»Andrea, das sind deine Nerven. Du bist überreizt. Das ist ja auch kein Wunder, wo du kurz vorher bei deinem Großvater warst — «

«Was hat das denn damit zu tun?«Ich krampfte die Hände ineinander, um sie am Zittern zu hindern. Ein Gefühl schrecklicher Vorahnung ängstigte mich.

«Als Kind hat dein Großvater Victor sehr ähnlich gesehen. Du bist sehr niedergedrückt aus dem Krankenhaus heimgekommen, das habe ich wohl bemerkt, und du hast dir Gedanken gemacht. Du hattest deinen Großvater vor dir, hattest sein Gesicht noch im Gedächtnis, und in deiner Phantasie hast du ihn als jungen Mann gesehen, vielleicht weil du so traurig warst. Du hast die Jahre einfach ausgelöscht und ihn wieder jung gemacht. Und dann hast du geglaubt, du siehst ihn am Fenster.«

Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. Ich wollte nicht mit Großmutter streiten, die dieses Gespräch sichtlich erregte. Aber ich mußte eine Antwort finden.

«Großmutter«, sagte ich langsam,»wie ist Großvater mit diesem Victor Townsend verwandt?«

Ich sah, daß meine Frage sie quälte, aber sie antwortete.»Victor Townsend«, sagte sie,»war der Vater deines Großvaters. «Mein Blick kehrte zu dem Foto zurück.»Victor Townsend war dein Urgroßvater.«

Ich konnte den Blick nicht von dem Bild wenden, und während ich das junge, schon männlich schöne Gesicht unter dem vollen schwarzen Haar betrachtete, den trotzigen Zug wahrnahm, den ihm die feine Furche zwischen den Brauen gab, fühlte ich mich wie unter einem Bann. Die alte Fotografie übte den gleichen hypnotischen Zwang auf mich aus wie in der Nacht zuvor jene unbekannte Kraft, die mich veranlaßt hatte, zum Spiegel über dem Kamin zu blicken.

Die drei Kinder standen auf einer Treppe vor einem Haus, das ich nicht kannte. Das kleine Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, wirkte unscheinbar, obwohl man sich offensichtlich größte Mühe gegeben hatte, sie herauszuputzen. Das gerüschte Kleidchen und die Schleifen im Haar konnten die Schlichtheit ihres Gesichts nicht vertuschen, sondern hoben sie eher noch hervor. Der zweite Junge, jünger als Victor, mit sanfteren Zügen, stand verlegen neben seinem Bruder. Victor Townsend, der Älteste, dominierte.»Das ist vor ihrem Haus in London aufgenommen«, bemerkte Großmutter in einem Ton, der deutlich sagte, daß sie lieber nicht davon sprechen würde.»Das muß also etwa 1880 gewesen sein, kurz bevor sie das Haus hier kauften. Victors Vater, dein Ururgroßvater, war bei einer Londoner Firma beschäftigt und wurde nach Warrington geschickt, um eine neue Niederlassung zu eröffnen. Als die Familie hierher kam, war das Haus gerade fertig geworden. Sie waren die ersten, die einzogen.«

«Ich habe nie von ihm gehört. Von Victor, meine ich«, sagte ich.»Meine Mutter hat nie etwas von ihm erzählt, obwohl er doch ihr Großvater war.«

«Und sie wird dir auch nichts von ihm erzählen. «Großmutters Stimme hatte einen ominösen Ton.

«Warum nicht? Hat sie ihn nicht gekannt? Wenn er ihr Großvater war, dann muß sie doch — «

«Victor Townsend ist vor langer, langer Zeit spurlos verschwunden. «Großmutter blickte in die blauen Flammen des Gasfeuers.»Ich habe ihn auch nie gekannt, obwohl er der Vater meines Mannes war. Er verschwand eines Tages noch vor der Geburt deines Großvaters und wurde nie wieder gesehen. «Ich blickte immer noch fasziniert auf das Gesicht auf der Fotografie. Die noch unausgebildeten Züge des Jungen zeigten schon erste Anzeichen der Willenskraft und der Charakterstärke, die später den Mann auszeichnen würden.

«Und niemand weiß, was aus ihm geworden ist?«fragte ich.»Ach, da gibt es alle möglichen Geschichten. Die einen behaupten, er wäre zur See gefahren. Andere sagen, er hätte sich in Norfolk mit einer anderen Frau zusammengetan. Und wieder andere…«Als sie nicht weitersprach, hob ich den Kopf.»Ja? Was sagen die?«

Doch sie schüttelte ärgerlich den Kopf.»Ich hab schon zuviel geschwatzt. Lassen wir das. Ich kann dir nur eines sagen: Victor Townsend war ein schlechter und böser Mensch. Er war der Teufel in Person, und als er verschwand, weinte ihm keiner eine Träne nach.«

Ich sah noch eine Weile schweigend auf das Bild, bis plötzlich ein kalter Luftzug durch das Zimmer fuhr und mich in die Gegenwart zurückholte. Widerstrebend legte ich das Foto wieder in den Karton.»Hast du noch andere Bilder von ihnen, Großmutter? Von den Townsends.«

«Ja, es gibt ein ganzes Album.«

«Kann ich es mir ansehen?«

Sie vergrub das Foto in den Tiefen des Kartons und klappte den Deckel so heftig darüber, als hätte sie Angst, es könnte herausspringen.»Ich hab keine Ahnung, wo das Album rumliegt. Das letztemal hab ich es vor Jahren gesehen. Aber es ist sicher noch irgendwo im Haus.«

«Ist es das Familienalbum der Townsends?«

Sie nickte.

Ich überlegte einen Moment.»Großmutter, das Porträt, das du mir gestern abend gezeigt hast, das von der jungen Frau — du hast gesagt, sie war meine Urgroßmutter.«

«Richtig. Jennifer Townsend, das arme Ding.«

«Wieso arm?«

«Weil Victor Townsend ihr Schreckliches angetan hat. So, und jetzt ist es genug.«

Ich lief in meinem Zimmer hin und her. Ich redete mir ein, ich täte es, um mich warmzuhalten, aber in Wirklichkeit war es reine Nervosität.

Ich hielt mir vor, daß ich übermüdet sei, daß dieser Besuch nicht nur körperlich, sondern auch seelisch anstrengend sei und eine Menge Kraft koste, und es fiel mir nicht schwer, die seltsamen Begebenheiten — den Jungen am Fenster, die Erstickungsangst der vergangenen Nacht — als Ausgeburten der Erschöpfung abzutun.

Aber diese Dinge waren es nicht, die mich jetzt beschäftigten. Es war etwas anderes, eine Ahnung, die sich mit Vernunft und Logik nicht vertreiben ließ. Immer stärker wurde das Gefühl, daß es mit diesem Haus etwas besonderes auf sich hatte. Am vergangenen Abend, nach meiner Ankunft, und den ganzen folgenden Tag lang hatte ich mir vorzumachen versucht, es sei nur meine Einbildung; aber diesmal wußte ich es. In diesem Haus stimmte etwas nicht. Und das war der Grund, weshalb ich jetzt rastlos wie ein Tier im Käfig hin und her lief.