Kurz zuvor hatte ich zu meiner Bestürzung und Enttäuschung erfahren, daß meine Großmutter kein Telefon hatte. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis gehabt, meine Mutter anzurufen, ich brauchte sie; ich brauchte den Kontakt mit ihr und meiner wahren Realität, die Tausende von Kilometern entfernt war. Außerdem war dies hier ihre Familie, und dies war ihr Haus.

Was hatte denn ich mit alldem zu tun?

Ohne Telefon fühlte ich mich isoliert, von der Welt abgeschnitten. Ein merkwürdiges Einsamkeitsgefühl, das ich nicht kannte, bemächtigte sich meiner. Ich fühlte mich verwaist, verlassen, allein gelassen mit einer fremden alten Frau in diesem beklemmenden Haus.

Hinzu kam, daß ich ständig an Doug denken mußte. Ich hatte die Reise hierher als Möglichkeit gesehen, Abstand von Doug zu bekommen und ihn zu vergessen. Tatsächlich jedoch beschäftigte ich mich mehr denn je mit ihm. Und das Verrückte war, daß meine Erinnerungen nicht um den letzten bitteren Abend kreisten, sondern um die glücklichen Stunden, die wir miteinander verlebt hatten. Sosehr ich mich bemühte, ich konnte meiner Gedanken nicht Herr werden.

Ich konnte nicht verstehen, woher das kam. Siebenundzwanzig Jahre lang hatte ich mich stets perfekt unter Kontrolle gehabt. Wieso schaffte ich das jetzt plötzlich nicht mehr? Es war, als hätten sich meine Gedanken selbständig gemacht und trieben ihr Spiel mit mir.

Es war fast Mitternacht, als es klopfte. Erschrocken fuhr ich herum.

«Andrea, Kind, kannst du nicht schlafen?«fragte meine Großmutter hinter der Tür.

«Doch, doch — es ist alles in Ordnung, Großmutter. «Ich trat zögernd zur Tür und blieb stehen. Sie hatte wahrscheinlich meine Schritte und das Knarren der Bodendielen gehört.»Es ist alles in Ordnung, Großmutter«, wiederholte ich.»Ich hab nur noch ein bißchen Gymnastik gemacht. Geh ruhig wieder zu Bett.«

«Möchtest du einen Becher warme Milch?«fragte sie. Gewissensbisse plagten mich. Ich sah sie in ihrem Flanellnachthemd zitternd draußen im eisigen Flur stehen.»Nein, danke, Großmutter. Ich kriech jetzt gleich ins Bett.«

«Ist es dir auch warm genug, Kind? Möchtest du vielleicht noch eine Wärmflasche?«

«Nein, nein, nicht nötig.«

«Na gut. Vergiß nicht, die Wurst vor die Tür zu schieben, damit du keinen Zug bekommst. Gute Nacht, Kind, schlaf gut. «Ich hörte sie mühsam durch den Flur zu ihrem Zimmer humpeln und die Tür schließen. Dann war es wieder still im Haus. Widerstrebend schob ich die Polsterrolle vor die Türritze, knipste das Licht aus und kroch ins Bett.

Innerhalb von Sekunden war ich eingeschlafen. Es begann wie in der vergangenen Nacht. Es riß mir förmlich die Augen auf, und ich war mit einem Schlag hellwach, ohne zu wissen wieso. Dann der Moment totalen Gedächtnisverlusts. Danach der erstickende Druck auf meinen Körper.

«Nein«, stöhnte ich und kämpfte gegen die aufsteigende Panik. Ich blieb ganz still liegen und versuchte, das Gefühl zu analysieren, festzustellen, ob ich wirklich wach war oder nur träumte, ob es vielleicht lediglich die schweren Decken waren, die den Alptraum heraufbeschworen.

Doch je länger ich so lag, desto wacher und aufmerksamer wurde ich, und mit der wachsenden Wachheit wuchs auch die Angst. Das war kein bloßer Traum. Es befand sich wirklich eine unsichtbare Kraft im Raum, die meinen Körper in die Matratze drückte und mir die Brust einengte, so daß jeder Atemzug zur Qual wurde. Aber ich wollte der Angst nicht nachgeben. Ich versuchte, sie zu beherrschen und mich zur Ruhe zu zwingen. Ich atmete so langsam ich konnte und füllte bei jedem schmerzhaften Atemzug meine Lunge mit der eiskalten Luft und merkte nach einer Weile, daß ich den furchtbaren Druck aushaken konnte, wenn ich ganz still lag.

Plötzlich nahm ich eine Veränderung wahr. Obwohl nicht der geringste Lichtschimmer die schwarze Finsternis durchdrang, die mich einhüllte, wußte ich, daß ich nicht mehr allein im Zimmer war. Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht. Wo im Raum das geisterhafte Wesen sich befand, konnte ich nicht feststellen; es schien sich von allen Seiten zu nähern. Es durchdrang die Luft und sickerte durch die Wände und stieg durch die Bodendielen auf. Es umgab mich, schwebte über mir, erfüllte den ganzen Raum mit Grabeskälte.

Rechts von mir hörte ich ein Geräusch.

Ich hatte Angst hinzusehen und ich hatte Angst, nicht hinzusehen. Unendlich langsam drehte ich den Kopf zur Seite und sah zu meinem Entsetzen die Schlafzimmertür weit offenstehen. Wieder versuchte ich zu schreien, aber es wurde nur ein jämmerliches, atemloses Wimmern.

Die Tür stand weit offen. Und aus einer unsichtbaren Quelle, vielleicht aus dem Flur, strömte geisterhaftes Licht ins Zimmer. Plötzlich sah ich Victor Townsend an meinem Bett stehen. Da konnte ich endlich schreien.

«Andrea! Andrea!«Meine Großmutter trommelte mit schwachen Fäusten an die Tür.

Blind griff ich zur Wand und fand wie durch ein Wunder sogleich den Lichtschalter. Ich setzte mich kerzengerade auf.»Andrea, was ist?«rief meine Großmutter besorgt. Die Tür war geschlossen, und die Polsterrolle lag fest vor der Ritze.

Ich schlotterte an allen Gliedern.

«Andrea?«Großmutter stieß die Tür auf und streckte den Kopf herein.»Was ist denn los?«Sie starrte mich erschrocken an.»Ach, du lieber Gott!«rief sie.»Was ist dir denn passiert?«Mit gekrümmtem Rücken humpelte sie auf ihren Stock gestützt durch das Zimmer. Ihr dünnes Haar stand wirr von ihrem Kopf ab.

«Du bist ja weiß wie die Wand! Was ist denn passiert?«Die Arme fest um den Oberkörper geschlungen, saß ich da. Meine Zähne schlugen aufeinander. Sagen konnte ich nichts.»Du bist ja klatschnaß!«Sie drückte mir die Hand auf die Stirn.»Du hast Fieber. Das muß ja ein schrecklicher Alptraum gewesen

«G-g — «, stammelte ich, aber ich konnte nicht sprechen.

«Und wie du zitterst. Komm, Kind, du gehörst ans Feuer. Hier oben bleibst du mir nicht. Ich mach dir unten das Sofa zurecht — «

«Großmutter!«stieß ich hervor.

«Was denn, Kind?«

«Ich hab ihn gesehen. «Meine Stimme klang wie ein erstickter Schrei.

«Wen? Wovon redest du?«

«Er war es wirklich. Ich hab es nicht geträumt. Meine Zimmertür stand weit offen, und er stand genau da, wo du jetzt stehst.«

Großmutter runzelte die Stirn. Sie zog die Steppdecke vom Bett und wickelte sie fest um meinen Körper.»Komm jetzt. Du hast einen bösen Traum gehabt, weiter nichts. Du brauchst jetzt erst mal einen Schluck warmen Kirschlikör, und dann legst du dich unten hin, wo es warm ist.«

Ich war zu verwirrt, um Widerstand zu leisten. Brav folgte ich ihr in den Flur hinaus und zum Wohnzimmer hinunter. Dort drückte sie mich in den Sessel, packte mich fest in die Decke und murmelte dabei:»Ich würde es mir nie verzeihen, wenn du hier krank wirst. Ich bin schuld. Ich hätte dich nicht in dem eiskalten Zimmer schlafen lassen sollen. Von jetzt an schläfst du hier unten. Da ist es so warm, wie du es gewöhnt bist. «Sie ging in die Küche, und ich lehnte den Kopf zurück und starrte zur Decke hinauf. Ich war am ganzen Körper schweißnaß, aber mein Mund war wie ausgetrocknet, und ich zitterte heftiger denn je.

Was war das gewesen? Was hatte ich dort oben wahrgenommen, das selbst jetzt noch an mir hing? Es war nicht nur die Erscheinung Victor Townsends gewesen. Nein, es war noch etwas anderes gewesen — ein ganz besonderes Grauen, das den ganzen Raum erfüllt und mich wie eine todbringende Wolke umhüllt hat. Der Geist Victor Townsends war erschreckend gewesen, ja, aber dieses andere…

Etwas Böses… Übelwollendes…

Die Uhr auf dem Kaminsims tickte leise. Die Wärme des Gasfeuers stieg auf und umfing mich. Mein Körper entspannte sich. Meine Gedanken begannen zu treiben.

Woher hatte ich gewußt, daß es Victor Townsend war? Der da an meinem Bett gestanden hatte, war kein fünfzehnjähriger Junge gewesen, sondern ein erwachsener Mann. Dennoch hatte ich ihn instinktiv als Victor erkannt. Konnte es wirklich sein, daß einfach meine Nerven überreizt waren, wie Großmutter am Nachmittag gemeint hatte? Produzierte meine Phantasie einfach unterschiedliche Bilder meines eigenen Großvaters, wie er vielleicht in seiner Jugend gewesen war?

Aber wir war dann zu erklären, daß der Junge am Fenster genauso ausgesehen hatte wie der auf der alten Fotografie, daß selbst die Kleider die gleichen gewesen waren? Und wieso hatte ich eben in meinem Zimmer sofort gewußt, daß der Mann an meinem Bett Victor war?

Irgendwo in den unbewußten Bereichen meines Geistes lag die Antwort; ich spürte, wie sie sich neckend regte, um entdeckt zu werden, aber ich war zu erschöpft, um ihr nachzuforschen. Ich war zu schwach zum Nachdenken. Es schien etwas mit dem Geist dieses Hauses zu tun zu haben. Mit der beunruhigenden Wirkung, die es auf mich hatte. Und mir schien, daß Victors Erscheinen ein Zeichen gewesen war, eine Botschaft, vielleicht eine Warnung. Aber wovor?

Großmutter stand plötzlich an meiner Seite. Ich fuhr in die Höhe.

«Diese Kälte hier tut dir nicht gut«, sagte sie und reichte mir ein Glas.»Ich weiß noch, im Krieg die Amerikaner, die haben sie auch nicht vertragen. Nicht einmal dein Vater, obwohl der aus Kanada kam, konnte sich daran gewöhnen. Es ist eine andere Art von Kälte, verstehst du, sie geht einem durch und durch. Das halten nur wir Engländer aus. Hier, Kind, trink. Heißer Kirschlikör.“

Ich nahm das Glas und trank unter ihrem mütterlich besorgten Blick. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß ich gehorsam meine Medizin nahm, machte sie sich daran, das Sofa für mich zu richten. Sie nahm die Kissen weg, holte Decken aus der Kommode und legte mir ein Sofakissen als Kopfkissen hin. Während ich ihr zusah, trank ich den warmen Likör und kehrte in Gedanken zu den Geschehnissen der Nacht zurück.

Die Angst war verflogen, aber eine starke Neugier war geblieben. Ich musterte aufmerksam die Wände und die Möbelstücke in diesem überladenen Zimmer und dachte, vielleicht war es schon so, als er hier lebte.

Dann dachte ich wieder an das schwermütige junge Gesicht Jennifers, das mich am Abend zuvor so bewegt hatte. Das Gesicht meiner Urgroßmutter. Was hatte sie erlebt? Hatte sie auch Victor keine Träne nachgeweint, als er verschwunden war? War sie vielleicht sogar froh gewesen, seiner ledig zu sein? Ich beobachtete meine Großmutter, die mit gichtigen Händen die Decken auf dem Sofa zurechtzog, und sagte mir, daß sie weit mehr über die Townsends wissen mußte, als sie mir bisher erzählt hatte. Sie schien es zu scheuen, über die Familie ihres Mannes zu sprechen. Aber warum? Sie hatte ihren Schwiegervater nie gekannt, hatte nur von anderen von seinen Sünden gehört (und was waren das überhaupt für Sünden, fragte ich mich, jetzt beinahe erheitert. Hatte er gespielt? Getrunken? Im Beisein von Damen geflucht? Die spießigen viktorianischen Moralvorstellungen verletzt? So schlimm konnte er doch gar nicht gewesen sein!). Großmutter hatte ihn nicht persönlich gekannt, aber sie mußte eine Menge von meinem Großvater gehört haben. Und ich wollte alles erfahren, was sie wußte.

«So! Ist das nicht gemütlich, Kind? Wir lassen das Gasfeuer an, dann frierst du bestimmt nicht. Nun kriech unter die Decken, damit du schnell wieder warm wirst.«

Jetzt war nicht der geeignete Moment, Großmutter auszufragen. Wir waren beide todmüde. Morgen vielleicht, bei Tageslicht, würde ich nach der Familie Townsend fragen und nicht lockerlassen, bis ich die ganze Geschichte dieses Hauses kannte.»Soll ich dir das Licht anlassen?«fragte sie, schon an der Tür. Sie sah in diesem Moment uralt aus und strahlte dennoch eine Schönheit aus, die mich ergriff.

«Ja, bitte«, antwortete ich.»Ich mach es dann später aus.«

Sie zog die Tür hinter sich zu, und gleich darauf hörte ich sie die Treppe hinaufhumpeln. Nach einer langen Weile waren das Schlurfen ihrer Füße und das Klopfen ihres Stocks in der ersten Etage zu hören, ihre Tür wurde geöffnet und geschlossen, dann war es still.

Ich streckte mich auf dem Sofa aus. Die Uhr tickte, das Gasfeuer machte kein Geräusch. Draußen, hinter den dicht verhüllten Fenstern, ging kein Wind. Rund um mich herum war drückende Stille.

Mein Blick wanderte wieder zur Decke hinauf und hielt an jener Stelle inne, an der die zwei Wände sich trafen. Lange starrte ich zu dem Punkt hinauf. Ich sah wieder die weit offene Zimmertür vor mir, durch die das gespenstische Licht strömte. Ja, sie war offen gewesen. Aber als ich das Licht eingeschaltet hatte, war sie geschlossen gewesen, die Polsterrolle fest vor der Ritze. Das konnte nur eines bedeuten. Sie war von innen geschlossen worden.

Immer noch starrte ich zu der Stelle hinauf, an der Wand und Zimmerdecke zusammentrafen. Hier, im Erdgeschoß, trennte mich diese Wand vom unbenutzten früheren Salon. Oben, in der ersten Etage, trennte sie die beiden Schlafzimmer voneinander. Ich starrte zur Decke hinauf, als könnte ich auf die andere Seite sehen, und ich dachte, wer oder was auch immer meine Zimmertür geschlossen hat, befindet sich noch dort oben.