Ich klopfte laut an ihre Tür, kräftig und selbstbewußt. Ich wollte ihr von Anfang an deutlich machen, daß ich, ganz gleich, welche geheimnisvolle Macht sie über die Familie besaß, meine eigene Herrin war und nicht so war wie die anderen.

Als ich das Zimmer betrat, stellte ich fest, daß meine Vermutungen nicht falsch gewesen waren. Die herrische Macht dieser alten Frau wurde spürbar, sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Es war, als träte man in das klösterlich abgeschlossene Gemach einer mächtigen Tyrannin, die in selbstherrlicher Unzugänglichkeit ihre Fäden spann.»Tritt näher, damit ich dich sehen kann.«

Starr und unbewegt saß sie in einem hohen Lehnstuhl, das Gesicht im Dunkeln. Abigail Vauxhall Pemberton war ganz in Schwarz gekleidet, vom hohen Kragen, der ihren mageren Hals umschloß, bis zu den weiten Röcken, die über ihre Füße zum Boden reichten. Ich näherte mich ihr vorsichtig, mühsam mein Selbstvertrauen bewahrend, und blieb dort stehen, wo ich vermutete, daß es ihrem Wunsch entsprach.»Komm näher, Kind. «Eine kalte, körperlose Stimme aus dem Schatten.»Ich bin achtzig Jahre alt und sehe nicht mehr gut. Wie soll ich dich sehen, wenn du so weit weg stehst.«

Ihre scharfen Worte ärgerten mich; sie deuteten an, daß sie sich innerhalb von Sekunden bereits ihr Urteil über mich gebildet hatte. Als ich noch einige Schritte näher trat und erneut stehen blieb, vergeblich bemüht, einen Blick auf dieses von Dunkelheit umhüllte Gesicht zu erhaschen, fiel mir plötzlich eine Geschichte ein, die ich in der Zeitung gelesen hatte. Ein amerikanischer Seemann namens Perry hatte erzählt, daß der Kaiser von Japan keinem Menschen je sein Gesicht zeigte, weil, wie es hieß, keiner seiner Untertanen wert war, dieses hehre Antlitz zu erblicken. Genauso, wie eine Untertanin dieses Kaisers, fühlte ich mich, als ich jetzt vor dieser in ihrem Lehnstuhl thronenden alten Frau stand, die nicht gewillt schien, mir ihr Gesicht zu zeigen.»Du kommst zögernd. Du hast wohl Angst vor mir?«

«Respekt habe ich, nicht Angst.«

«Noch einen Schritt, Leyla. Das Licht ist schlecht. So ist es besser. Siehst du die Lampe da auf dem Tisch rechts von dir? Drehe sie höher, damit sie dein Gesicht beleuchtet.«

Ich gehorchte, und als ich mich nun wieder meiner Großmutter zuwandte, sah ich, daß das Licht nicht nur mein Gesicht aus der Dunkelheit hob, sondern auch das ihre. Schweigend musterten wir einander über die Kluft der Jahre hinweg, die uns voneinander trennten. Das Gesicht meiner Großmutter unter dem wohlfrisierten, schlohweißen Haar war wachsbleich. Kein Schmuckstück lockerte das strenge Schwarz ihrer Kleidung auf. Aber wenn auch ihre Haut faltig und blutlos war, wenn auch ihre Hände, lang und mager, verknöchert wirkten, wenn sie auch von beinahe erschreckender Magerkeit war, so blitzte doch in den dunklen Augen feuriges Leben. Die Härte dieser Augen sprach von ungebrochener Willenskraft und ließ keinen Zweifel daran, daß diese alte Frau eine alles überwindende Kraft und Energie besaß.

«Wie ähnlich du deiner Mutter bist«, sagte sie leise, als sähe sie ein Gespenst.»Jennifer.«

«Man hat mir gesagt — «

«Kennst du mich?«fragte sie mit zitternder Stimme.»Nein, Großmutter, ich kenne dich nicht. Du bist mir fremd, und doch bist du die Mutter meines Vaters. Dein Blut fließt in meinen Adern, aber wir sind Fremde.«

«Deine Mutter hat nie von mir gesprochen?«Ich schüttelte den Kopf.

«Das ist eine ungezogene Art zu antworten. Colin sähe das ähnlich, aber von dir hätte ich es nicht erwartet. Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann erhebe deine Stimme, aber sprich nicht mit deinem Körper. Es gehört sich nicht für eine junge Dame, Aufmerksamkeit auf ihren Körper zu ziehen.«

«Ja, Großmutter«, sagte ich ein wenig verwirrt.

«Ich höre, daß du nur sehr wenig über uns weißt. Wenn das zutrifft, warum bist du dann zurückgekehrt?«

Nicht Neugier sprach aus der Frage; sie war ein Befehl an mich, meine Anwesenheit auf Pemberton Hurst zu rechtfertigen. Das war Großmutters Art, Fragen zu stellen. Die harten, glitzernden Augen blieben unverwandt auf mich gerichtet, so schwarz wie Gagat.

Ich dachte an den Brief. Hatte Großtante Sylvia vor ihrem Tod mit ihrer Schwester Abigail über ihn gesprochen? Ein Gefühl, das ich nicht hätte erklären können, hielt mich, wie schon einmal zuvor, davon zurück, etwas von dem Brief zu sagen.

Stumm maßen wir einander, ich nicht bereit, ihre Frage zu beantworten, sie meines Widerstrebens bewußt. Ihr Blick, dunkel unter schweren Lidern, schien mich bis ins Innerste zu durchdringen, ohne etwas von ihren Gefühlen oder Gedanken preiszugeben. Als sie endlich sprach, fuhr ich erschrocken zusammen.»Vor zwei Tagen noch«, sagte sie,»war es hier auf Pemberton Hurst ruhig und friedlich. Dann bist du gekommen. Und mit dir kam dieser höllische Sturm. Hast du ihn mitgebracht, Leyla?«

«Ich bin aus London gekommen, nicht aus der Hölle. «Sie zog die dünnen Augenbrauen hoch, als wolle sie sagen, daß das für sie ein und dasselbe sei.

«Meine Schwiegertochter ist also tot, und nun ist ihre Tochter zurückgekehrt, um Ansprüche auf das Familienvermögen geltend zu machen. «Ich wußte, daß Großmutter Abigail versuchte, mich aus der Reserve zu locken, aber ich hatte nicht die Absicht, mich von ihr reizen zu lassen. Eine derartige Anspielung hörte ich hier nicht das erste Mal. Die Unterstellung, ich sei nur aus Habgier zurückgekehrt, konnte mich nicht mehr kränken.

«Ich bin zurückgekommen, weil ich meine Familie kennenlernen wollte, ehe ich im Frühjahr heirate. Zu einem früheren Zeitpunkt war es mir nicht möglich, da meine Mutter schwer krank war. Ich bin außerdem zurückgekommen, weil ich mehr über mich selbst erfahren will. Ich habe an die ersten fünf Jahre meines Lebens keinerlei Erinnerung. «Sie blieb völlig ruhig. Ich konnte nicht erkennen, ob meine Worte irgend etwas in ihr bewegt hatten, obwohl sie die Bitterkeit in meiner Stimme, als ich von meiner Mutter gesprochen hatte, deutlich gehört haben mußte.

Es klopfte. Auf die Aufforderung meiner Großmutter hin trat ein Mädchen mit dem Teetablett ein. Ohne ein Wort stellte sie es zwischen uns auf einen niedrigen Tisch und ging wieder hinaus. Als wären wir gar nicht unterbrochen worden, fuhr meine Großmutter zu sprechen fort.»Ich kann mir denken, daß Pemberton Hurst und die Familie nicht deinen Vorstellungen entsprechen. Keiner hier glaubte, dich jemals wiederzusehen, Leyla. Du mußt verstehen, daß die Familie eine Weile braucht, um sich auf diese überraschende Tatsache einzustellen.«

Wenn man bedachte, daß Großmutter Abigail kaum je ihre Räume verließ, wußte sie erstaunlich gut Bescheid. Vermutlich wurde Henry täglich zur Berichterstattung gerufen.

Mit steifen Bewegungen schenkte sie den Tee ein.

Ich betrachtete ihre ringlosen Hände und versuchte mir vorzustellen, wie sie vor fünfzig Jahren ausgesehen hatte, als ihre Söhne klein gewesen waren. Ich fragte mich, was für ein Mensch ihr Mann, Sir John, gewesen war, und welche Umstände zu seinem mysteriösen Tod geführt hatten. Was hielt Großmutter Abigail von Colins phantastischer Geschichte über den Wahnsinn der Pembertons? Sie war gewiß eine viel zu sachliche Frau, um solchen Geschichten Glauben zu schenken. Ein ganz neuer Gedanke stieg in meinem Kopf auf. Der Keim dazu war zweifellos in jenem Moment gelegt worden, als Colin mir die schreckliche Familiengeschichte erzählt hatte. Jetzt begann er langsam Formen anzunehmen.

Obwohl ich immer noch stand, schob sie mir auf dem kleinen Tisch Tasse und Untertasse herüber, dann lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und führte ihre Tasse an die Lippen.

«Seit Generationen trinken wir in diesem Haus nur Darjeeling Tee. Hat deine Mutter in London die Tradition fortgeführt?«

«Das konnten wir uns nicht leisten«, antwortete ich kurz.»Schade. «Sie trank einen Schluck und schürzte die schmalen Lippen.»Leyla, leidest du eigentlich an Kopfschmerzen?«

Ich sah sie verblüfft an.»Kopfschmerzen?«Diese Frage hatte mir doch schon einmal jemand gestellt. Ich konnte mich nicht entsinnen, wer es gewesen war.»Nein. Nur ganz selten.«

«Wenn du einmal welche haben solltest, kann ich dir ein Mittel empfehlen, das Wunder wirkt. Wenn du einmal schlimme Kopfschmerzen haben solltest. «Wieder nippte sie von ihrem Tee und betrachtete mich dabei über den Rand ihrer Tasse.

«Ich kann mir nicht denken, daß es für dich einen Grund gibt, länger hier zu bleiben, Leyla. Du hast gesehen, was du sehen wolltest. Es gibt gewiß keinen Anlaß — «

«Doch, einen«, unterbrach ich, meinen Zorn mühsam beherrschend.»Die fünf Jahre, die mir fehlen.«

«Unsinn. Es gibt viele Menschen, die an ihre Kindheit keine Erinnerung haben. Das ist ganz normal.«

«Aber ich müßte mich erinnern — wenigstens an einen bestimmten Tag in diesen fünf Jahren.«

Meine Großmutter nahm sich von den Biskuits auf der silbernen Schale.»Ich verstehe nicht.«

«Ich müßte mich zumindest an den Tag erinnern, an dem ich sah, wie mein Vater zuerst Thomas tötete und sich dann selbst das Leben nahm.«

Hätte ich meine Großmutter nicht aufmerksam beobachtet, so hätte ich die Reaktion gar nicht wahrgenommen. So aber entging mir nicht, daß sie einen Moment lang aus der Fassung geriet. Es zeigte sich in einem flüchtigen Zusammenzucken, einem Einsinken ihres mageren Körpers, als wäre sie nahe daran, die Haltung zu verlieren. Aber schon faßte sie sich wieder, straffte die knochigen Schultern und sah mir mit ihren schwarzen Augen ins Gesicht. Sie hatte also nicht gewußt, daß jemand mir von diesem Tag erzählt hatte.

«Es hat wahrscheinlich sein Gutes, daß du dich an diesen Tag nicht erinnerst. So ein Gedächtnisverlust kann ein Schutz sein, der einem ermöglicht, ohne die Belastung einer grauenvollen Erinnerung weiterzuleben.«

«Sicher. Aber vielleicht verlor ich auch das Gedächtnis, weil ich fürchtete, daß noch etwas geschehen würde. Und daß es mir geschehen würde.«

Ihre Unterlippe bebte.»Wenn du deinen Vater sterben sahst, konntest du nicht fürchten, daß er auch dich töten würde.«

«Das ist richtig. Es sei denn, daß gar nicht mein Vater tötete sondern jemand anderer. «Nun war er ausgesprochen, der quälende Gedanke, der sich langsam in mir verdichtet hatte. Er hatte keinerlei wirkliche Grundlage, aber ich hatte ihn aussprechen müssen, um sie wissen zu lassen, was mich beschäftigte.

Mir klopfte das Herz.»Vielleicht sah das kleine Mädchen, das verborgen im Gebüsch stand, wie eine dritte Person ins Wäldchen kam und den Vater und den Bruder tötete. Das würde zweifellos ausreichen, um ein Kind mit solcher Angst zu erfüllen, daß es vergißt, was es gesehen hat. Wäre das möglich?«

Meine Großmutter war zornig.»Eine sinnlose Frage, Leyla. Wir wissen, daß dein Vater die Tat beging. Er war krank, geistig verwirrt — «»Ja, ich weiß. Der Wahnsinn der Pembertons.«

Sie starrte mich an.»Wer hat dir das erzählt? Und wer hat dir gesagt, daß du an dem Tag dabei warst? War es Colin?«

«Ich verstehe nicht, warum in diesem Haus um die Wahrheit ein solches Geheimnis gemacht wird, Großmutter. Du warst offensichtlich bis gestern völlig sicher, daß ich vom Verlauf meines letzten Tages hier nichts mehr wußte. Und dir lag offenbar daran, daß ich die Wahrheit nie erfahren sollte.«

«Das ist eine Unterstellung!«

«Warum wolltest du mir die Wahrheit über jenen Tag verschweigen? Zwanzig Jahre sind seit diesen schrecklichen Geschehnissen vergangen. So schmerzlich kann es heute doch nicht sein, darüber zu sprechen. Fürchtest du, ich könnte mich an etwas erinnern? Fürchtest du, daß ich mich jetzt, da Colin mir die Geschichte erzählt hat, plötzlich an alles erinnern werde? Daß ich vielleicht vor mir sehen werde, was ich damals gesehen habe?«

«Das ist ja lächerlich! Warum sollte ich das fürchten?«

«Nur aus einem Grund: Weil eine dritte Person da war — «

«Niemand war da!«Ihre Stimme war schrill.»Es war dein Vater. Der Wahnsinn hatte ihn gepackt, der Fluch, der auf allen Pembertons lastet. Keiner entgeht ihm, Leyla. Auch dein Vater konnte ihm nicht entrinnen.«

Ich meinte mich undeutlich zu erinnern, doch das Bild wurde nicht greifbar — es hatte jedoch mit den Händen meiner Großmutter zu tun.»Ich rate dir, dieses Haus zu verlassen. Am besten sofort. Du hast hier nichts zu erwarten. Wenn du Geld haben willst — «

«Ich will kein Geld.«

«Dann geh zurück zu deinem Architekten.«

«Du bist erstaunlich gut unterrichtet, Großmutter. Es würde mich interessieren, wer es ist, der dir die letzten Neuigkeiten zuträgt. Ist es Onkel Henry? Tante Anna? Theodore? Oder Martha?«

«Du bist unverschämt, Leyla. Ich will, daß du gehst. Du bist deiner Mutter zu ähnlich; ausgesprochen ermüdend. Und du bist auch deinem Vater ähnlich. Deine Augen, dein Kinn.«