«Willst du mich vor dem Wahnsinn warnen, Großmutter? Die Frage, ob ich an Kopfschmerzen leide, war doch nicht müßiges Interesse, oder? Fängt die Krankheit so an?«
«Das wirst du schon noch merken, genau wie die anderen vor dir. «Wieder blickten wir einander in stummem Kampf an. Wie sehr mich dieses Gespräch erschüttert hatte; wie niederschmetternd es war, feststellen zu müssen, daß meine eigene Großmutter nicht willens war, mich mit der Herzlichkeit und Wärme aufzunehmen, die ich so verzweifelt ersehnte. Tiefe Traurigkeit erfaßte mich. Die Frau, die hier vor mir saß, war die Mutter meines Vaters; sie hatte ihn geboren, sie hatte seine Kinderjahre mit ihrer mütterlichen Fürsorge begleitet, sie hatte zugesehen, wie er zu einem stattlichen Mann heranwuchs. Und sie hatte auch mich von meiner Geburt an gekannt, mich vielleicht liebevoll in ihren Armen getragen. So gern wäre ich zwanzig Jahre zurückgegangen, wieder zum Kind geworden, um die Liebe und Geborgenheit einer Familie genießen zu können.
Aber das war vorbei. Was immer auch in den vergangenen Jahren geschehen war — seit jenem verhängnisvollen Tag —, ich war hier nicht willkommen.
«Ich glaube nicht an diesen Fluch«, sagte ich,»und es wundert mich sehr, daß du daran glaubst. Wenn du soviel über mich weißt, Großmutter, und erkennen kannst, wie sehr ich meiner Mutter ähnele, dann mußt du auch wissen, daß ich eine eigensinnige und hartnäckige Person bin und dieses Haus erst dann verlassen werde, wenn ich gefunden habe, was ich suche.«
Ich sagte das alles sehr ruhig, doch meine Worte trafen. Die harten schwarzen Augen funkelten mich zornig an.
«Ich sehe schon, du bist starrköpfig. Da du eine Pemberton bist, kann ich dir den Aufenthalt in diesem Haus nicht verbieten. Es ist allerdings fraglich, ob du das, was du hier in deiner blinden Entschlossenheit suchst, auch finden wirst. Ich kann dich nur warnen, Leyla. «Ihre Stimme wurde laut und beschwörend.»Vergiß nicht, daß auch du das Erbe der Pembertons in dir trägst. Ich rate dir, dieses Haus unverzüglich zu verlassen, am besten noch heute, und deinen Architekten zu heiraten, solange dir noch Zeit bleibt, dein Glück an seiner Seite zu genießen. Aber ich weiß, daß du nicht auf mich hören wirst. Darum werde ich fürs erste — «
«Darum wirst du den anderen verbieten, mit mir über die Vergangenheit zu sprechen, Großmutter.«
«Du hast offensichtlich eine blühende Phantasie, Leyla. «Sie neigte sich zur silbernen Schale und nahm eines der Biskuits. Ein Bild ihrer Hände schoß mir blitzartig durch den Kopf. Sie sahen anders aus als in diesem Moment, nicht so knochig, aber ich wußte, daß es ihre Hände waren. Und an der einen Hand leuchtete ein Ring — ein Ring mit einem roten Stein.»Es ist ungezogen, den Tee, den einem die Gastgeberin anbietet, stehenzulassen.«
Das flüchtige Bild erlosch. Ich sah zu meiner Tasse hinunter. Ich hätte den kostbaren importierten Tee gern gekostet, aber ich hatte keinen Stuhl und mochte im Stehen nicht trinken. Ich durchschaute das Spiel meiner Großmutter und war nicht bereit, mich von ihr beeinflussen zu lassen.»Ich habe heute schon sehr viel Tee getrunken, Großmutter, und ich bin müde. Ich ziehe es vor, jetzt wieder in mein Zimmer zu gehen.«
«Es ist gleichermaßen ungezogen zu gehen, ohne vorher um Erlaubnis gebeten zu haben. Mir scheint, deine Erziehung war sehr mangelhaft.«
«Das wird wohl darauf zurückzuführen sein, daß meine Mutter von morgens bis abends hart arbeiten mußte, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen.«
Damit drehte ich mich um und ging zur Tür. Als ich die Hand schon auf dem Knauf hatte, hielt ihre Stimme mich zurück.
«Du bist ein ungezogenes, junges Ding, Leyla, und von einer unverzeihlichen Unverschämtheit. Wenn du länger hier bleiben willst, wirst du deine Manieren ändern müssen.«
Ich ging hinaus und zog die Tür hinter mir zu. In meinen Augen brannten Tränen. Am liebsten hätte ich laut geweint wie ein kleines Kind. Das, was ich gesucht hatte, Liebe und Wärme, würde ich bei dieser unbeugsamen alten Frau niemals bekommen.
So schnell wie möglich, um nur ja keinem der anderen zu begegnen, lief ich in mein Zimmer und schob den Riegel vor. Aber so warm und behaglich es war, es war nicht mein Zimmer. In diesem fürstlichen alten Gemach fand ich keinen Trost.
Rastlos lief ich hin und her. Das Gespräch mit meiner Großmutter war niederschmetternd verlaufen. Es war mir so wichtig gewesen, von ihr angenommen zu werden, aber darauf konnte ich jetzt nicht mehr hoffen. Ich hatte mich dazu hinreißen lassen, ihr Zorn und Verachtung zu zeigen, das würde sie mir niemals verzeihen. Und mit der Hoffnung, ihre Zuneigung zu erwerben, war auch alle Hoffnung dahin, den anderen in diesem Haus nahezukommen. Ich war nun ganz allein.
Kapitel 6
Nach endlosen Wanderungen durch mein Zimmer setzte ich mich müde und mutlos ans Fenster und starrte hinaus zu den sturmgeschüttelten Bäumen. Tausend Fragen bedrängten mich. Diese erste Begegnung mit meiner Großmutter hatte mich tief erschüttert. Warum wollte sie mich unbedingt von hier fortschicken? Von wem war sie, die kaum je ihr Zimmer verließ, so eingehend über mich und alles, was vorgefallen war, unterrichtet worden? Colin konnte nicht ihr Vertrauter sein; meine Bemerkung über mein Gespräch mit ihm hatte sie überrascht.
Selbst jetzt konnte ich das, was er mir im Stall erzählt hatte, kaum glauben. War ich wirklich im Wäldchen gewesen an jenem schrecklichen Tag und hatte die Geschehnisse mit angesehen? Und wie war ich plötzlich auf diesen Gedanken gekommen, es könnte noch eine dritte Person im Wäldchen gewesen sein? War er völlig aus der Luft gegriffen oder hatte er seinen Ursprung in einer Erinnerung, die ich nicht mehr fassen konnte? Glaubte ich selbst überhaupt an diese Möglichkeit? Was war an der Behauptung, daß die Pembertons verflucht seien, jeder von ihnen zum Wahnsinn verdammt? Gab es eine Grundlage für dieses Schauermärchen?
Während ich über dies nachdachte, stellten sich noch weitere Fragen: Warum hatte Sylvia Pemberton, meine Tante, als einzige dieser Familie meine Rückkehr gewünscht? Was hatte sie veranlaßt, den Brief zu schreiben, der mich hierher geführt hatte? Aus welchem Grund hatte sie meiner Mutter geschrieben, ohne die anderen einzuweihen? Es war ein Rätsel, für das ich keine Lösung finden konnte. Nichts ergab einen Sinn.
Um mich zu trösten, dachte ich an Edward, an unsere Spaziergänge im Cremorne Park mit seinen romantischen Fußwegen, die vom Duft der blühenden Akazien erfüllt waren. Ich liebte Edward sehr. Er war so zuverlässig und aufmerksam, ein Mann, auf den jede Frau stolz gewesen wäre. Schon im nächsten Frühjahr würde ich seine Frau sein, und dann konnte ich Pemberton Hurst auf immer vergessen. Meine Gedanken wechselten zu Colin, meinem Vetter, der die Manieren eines Stallknechts hatte und niemals auf die Gefühle anderer Rücksicht nahm. Wie kam es, fragte ich mich, daß er nicht verheiratet war? Ein Klopfen an meiner Zimmertür riß mich aus meinen Gedanken. Martha trat ins Zimmer. An sie konnte ich mich immer klarer erinnern: Sie war ein stilles Mädchen gewesen, das einfache kleine Weisen auf dem Klavier gespielt und stundenlang über ihren Handarbeiten gesessen hatte. Sie hatte wie ich die dichten dunklen Wimpern der Pembertons, die etwas zu große Nase, das kleine Grübchen am Kinn. Eine hübsche Frau, die sich mit Geschmack zu kleiden verstand und viele häusliche Talente besaß. Und wieso war sie nicht verheiratet? fragte ich mich.
«Leyla, es gibt gleich Abendessen«, sagte sie und sah mir dabei forschend ins Gesicht.
Ich vermutete, daß mittlerweile die ganze Familie wußte, was geschehen war; daß Colin mir verraten hatte, worüber zu sprechen man ihnen allen verboten hatte. Und jetzt suchte Martha, teilnahmsvoll, wie sie war, in meinem Gesicht nach Zeichen von Schmerz und Niedergeschlagenheit.
«Leyla. «Sie trat mit ausgestreckten Armen auf mich zu.»Es tut mir in der Seele leid, daß du die Wahrheit erfahren mußtest. Ich hatte gehofft — wir alle hatten gehofft, daß wenigstens ein Mitglied unserer Familie ein normales und glückliches Leben führen könnte, ohne die Belastung des drohenden Wahnsinns. Er wird mir so wenig erspart bleiben wie dir, Leyla, denn unsere Väter waren ja Brüder. Ach, es tut mir leid. Wenn Colin nur nicht so ein — «
«Nein, Martha, ihm ist kein Vorwurf zu machen. Ich habe ihn beinahe gezwungen, es mir zu sagen. Ich spürte von Anfang an, daß ihr mir alle etwas verbergen wolltet. Früher oder später hätte ich es auf jeden Fall erfahren.«
«Und jetzt, wo du es weißt — «sie drückte mir die Hände —»gehst du doch fort, nicht wahr? Damit du noch etwas von deinem Leben hast. «Ich sah sie verständnislos an.
Beim Essen fehlte nur Colin. Keiner gab eine Erklärung für seine Abwesenheit, und ich fragte auch nicht danach. Die Stimmung war gedrückt. Ich vermutete, daß Großmutter die Schuld daran trug. Die Tatsache, daß ich jetzt wußte, was sie mir alle hatten verheimlichen wollen, war kein Grund zu solcher Gedrücktheit. Auch wenn es ihnen aus Rücksicht auf mich lieber gewesen wäre, daß ich die Wahrheit über den Tod meines Vaters nie erfahren hätte, war doch noch lange kein Anlaß zu wortkarger Düsternis.
Es sei denn, ich wußte immer noch nicht alles.
Der Hammelbraten war köstlich, die Soße fein abgeschmeckt, die Kartoffeln gerade richtig gekocht. Aber obwohl alles bestens geraten war, blieb die Stimmung trübe.
Anna saß mit verschlossener Miene vor ihrem Teller und mied geflissentlich meinen Blick. Mechanisch führte sie ihre Gabel zum Mund. Henry schien innerlich mit irgend etwas stark beschäftigt und aß fast nichts. Martha war lieb wie immer, warf mir teilnahmsvolle Blicke zu und bemühte sich, auf meine Gefühle Rücksicht zu nehmen. Theo hingegen, dem das Essen offensichtlich genauso schmeckte wie mir, schien mehrmals nahe daran zu sein, etwas zu sagen; aber jedesmal vermied er es doch und begnügte sich damit, mich fragend anzusehen. Ich wußte, was sie alle dachten, und ich war bereit, ihnen zu antworten:
Für mich stand fest, daß ich bleiben würde. Als ich vor zwei Tagen nach Pemberton Hurst gekommen war, hatte ich vor allem eine Familie gesucht; mein Bedürfnis, die Jahre meiner Kindheit wiederzufinden, war zweitrangig gewesen. Im Lauf dieser wenigen Tage jedoch waren Dinge geschehen, die meine Bedürfnisse verändert hatten. Meine Vergangenheit war mir wichtig geworden; der Drang zu wissen, was sich damals in meiner Kindheit abgespielt hatte, wurde immer stärker. Ich erinnerte mich an Colins Worte, als wir an diesem Morgen den Stall verlassen hatten.»Geh fort von hier, Leyla. Geh zurück nach London und vergiß uns. «Und ich erinnerte mich auch meiner Reaktion auf diese Worte — ein zwingendes Gefühl, bleiben zu müssen. Die folgenden Stunden innerer Auseinandersetzung mit dem, was ich von Colin erfahren hatte, und das Gespräch mit meiner Großmutter hatten mich zu der Überzeugung gebracht — die nicht zu erklären war, die vielleicht auf einer verschütteten Erinnerung beruhte —, daß mein Vater unschuldig war.
Ich konnte den Ursprung dieses Gefühls nicht erklären, ich konnte es nicht in Worte fassen, doch es war so stark, daß ich nicht anders konnte, als mich nun in all meinem Handeln von ihm leiten zu lassen. Die Aura der Hoffnungslosigkeit, die ich von Anfang an bei Henry wahrgenommen hatte, war, wie ich nun wußte, nicht meiner Phantasie entsprungen, sondern hatte ihre Grundlage in seiner Überzeugung, zum Wahnsinn verdammt zu sein. Warum sollte da jetzt mein inneres Gefühl, daß mein Vater unschuldig war an den Verbrechen, die ihm zur Last gelegt wurden, nicht auch seinen Ursprung in einer vergessenen Wahrheit haben?
Aufgrund dieser Überzeugung, daß mein Vater nicht getan haben konnte, was alle von ihm behaupteten, stand für mich fest, daß ich in Pemberton Hurst bleiben mußte, bis ich mich an jenen letzten Tag klar und deutlich erinnern konnte.
So würde die Antwort auf die Fragen lauten, die, wie ich wußte, meine Verwandten beschäftigten: Ich glaubte nicht an die Schuld meines Vaters; ich wollte die Wahrheit in der Erinnerung suchen. Sollte ich mich tatsächlich plötzlich erinnern, was ich an jenem Tag im Wäldchen beobachtet hatte, so bedeutete das auch, daß ich mich auch des wahren Mörders erinnern würde. Wenn der Mörder einer jener Menschen war, die in diesem Augenblick mit mir beim Abendessen saßen, dann war ihre gedrückte und düstere Stimmung verständlich. Sie wollten nicht, daß ich mich erinnerte; sie wollten jemanden schützen.
Als das Dessert aufgetragen wurde, eröffnete Henry das Gespräch. Wie in den vergangenen zwei Tagen versuchte ich mir vorzustellen, es sei mein Vater, dem ich zuhörte. Wie stets sprach Anna nur über Belanglosigkeiten, um, wie ich wußte, ihre wahren Empfindungen und Gedanken zu verschleiern. Wie stets hielt Martha sich aus dem Gespräch heraus, als hätte sie nichts im Sinn als ihre Stickerei.
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