«Aber, warum — «ich stellte mich trotzig vor ihm auf —»will mir niemand meine Fragen beantworten?«

«Setz dich erst einmal hin.«

Wie ein trotziges Kind ließ ich mich in einen Sessel fallen.»Ist es dir denn so wichtig, dich an die Vergangenheit zu erinnern? Was versprichst du dir davon?«

«Ich weiß es nicht. Aber ich habe das Gefühl, daß ich die Vergangenheit verändern kann. Und die Gegenwart auch.«

«Bist du denn mit der Gegenwart nicht zufrieden?«

«Nein, im Augenblick nicht. Ehe ich hierher kam, hatte ich eine völlig andere Vergangenheit — da glaubte ich, mein Vater und mein Bruder wären an der Cholera gestorben. Aber diese Vergangenheit hat sich jetzt verändert und dadurch auch die Gegenwart.«

«Wieso bist du so sicher, daß dein Vater unschuldig war?«

«Colin, tief in mir steckt eine Erinnerung, die ich nicht fassen kann. Aber ein Schatten, eine Ahnung davon ist mir zu Bewußtsein gekommen und sagt mir, daß das, was ich über den Tag im Wäldchen gehört habe, nicht wahr ist. Auch wenn ich mich nicht erinnern kann, was tatsächlich geschah, habe ich das ganz deutliche Gefühl, daß das, was man mir gesagt hat, nicht die Wahrheit ist. Kannst du das verstehen?«Als ich mein vom Feuer heißes Gesicht hob und ihn anblickte, sah ich wieder den Colin, den ich am Morgen kennengelernt hatte — einen ernsthaften, teilnahmsvollen und starken Mann.

Aber schon entzog sich mir diese Seite seines Wesen wieder, als er mit einem spöttischen Lächeln sagte:»Ein bißchen melodramatisch, findest du nicht?«»Colin! Ich komme mir vor wie in einem Alptraum. Ich weiß genau, daß hier etwas nicht stimmt, und ich muß es herausfinden. Sag, hat Tante Sylvia jemals von mir gesprochen?«

«Tante Sylvia?«Er überlegte kurz.»Nein, jedenfalls nicht, soweit ich gehört habe. Keiner hier hat je von dir oder deiner Mutter gesprochen. Warum fragst du?«Ich schüttelte den Kopf.»Was ist an Tante Sylvia so Besonderes?«

«Ich beantworte deine Fragen nicht, Colin, wenn du meine nicht beantwortest.«

«Verflixt noch mal, Leyla, sei gerecht!«

«Ich wäre dir dankbar, wenn du mir gegenüber einen anderen Ton anschlagen würdest. Wir sind hier nicht auf dem Pferdemarkt.«

«Dein Edward würde sich wohl eine solche Ausdrucks weise nie erlauben, wie?«

«Bestimmt nicht.«

«Dann kehre zu ihm zurück. Geh weg von hier und heirate ihn, ehe er dir nachkommt und hier die Tür einbricht, um dich zu holen. «Ich mußte wider Willen lächeln bei dieser Vorstellung. Niemals würde Edward etwas so Verrücktes tun. So eine Idee konnte nur Colin einfallen, dem alle gesellschaftlichen Gepflogenheiten völlig gleichgültig waren.

«Was ist denn so lustig?«

«Du redest wie der große Bruder.«

«Na, ich bin doch beinahe dein Bruder. Unsere Väter waren Brüder. Ich bin dein Cousin.«

Ich erwiderte Colins Bemerkung mit einem Lächeln und bekam zu meiner Überraschung ein gleiches zurück.

«Was hast du gemeint, als du eben sagtest, ich solle gerecht sein?.«

«Du hast mich doch sowieso schon dazu gebracht, dir mehr zu sagen, als du unserer Ansicht nach erfahren solltest. «Er hob die Hand, als ich etwas sagen wollte.»Bitte, laß mich ausreden. Die anderen und ich waren uns mit Großmutter darüber einig, dir nichts über die Vergangenheit zu sagen. Wir wollten dich unbefangen lassen, wie wir selbst es gern wären. Aber statt dessen wurde ich schwach, da ich mir vorstellen konnte, wie es sein muß, wenn man lauter Fragen hat und keiner einem Antwort gibt. Darum habe ich dir von deinem Vater erzählt und darum habe ich dir gesagt, daß in unserer Familie der Wahnsinn erblich ist. Du solltest wenigstens wissen, daß er für seine Tat nicht verantwortlich war. Aber ich bedaure diesen Augenblick der Schwäche, Leyla. Sieh’ doch, was seitdem mit dir geschehen ist. Du quälst dich mit dem Bemühen, dich an etwas zu erinnern, was dir nur schmerzlich sein kann.«

Ich sah Colin forschend ins Gesicht. Der Blick seiner Augen war aufrichtig, seine Worte klangen ehrlich. Konnte es wirklich so einfach sein? Daß die Geschichte vom Wahnsinn meines Vaters wahr war? Daß diese Menschen mich nur hatten schützen wollen?

Nein, das stimmte nicht. Ich spürte es deutlicher denn je. Mein Vater war unschuldig, der Fluch war ein Märchen. Der Beweis dafür lag in meinem Gedächtnis eingeschlossen.

«Bitte beantworte meine Fragen, Colin. Warum lebt ihr alle hier in diesem Haus wie in einem Kloster und verlaßt es nie für längere Zeit? Wie kommt es, daß Martha mit ihren zweiunddreißig Jahren hier die Jüngste ist? Warum habe ich immer noch das Gefühl, daß ihr mir etwas verheimlicht? Was meintest du, als du sagtest, du könntest dir vorstellen, daß meine Mutter nicht über diese Familie sprechen wollte? Warum ist Großmutter — «

«Leyla! Hör auf damit. Bitte!«Er hielt sich mit einer übertriebenen Geste die Ohren zu. Dann sagte er in einem Ton, der gereizt klang:»Ich habe das Gefühl, daß deine Phantasie mit dir durchgeht. Du erlauschst Geheimnisse, die es gar nicht gibt.«

«Ich möchte die Ehre meines Vaters wiederherstellen.«

«Indem du mich danach fragst, warum meine Schwester zweiunddreißig Jahre alt ist?«

«Das ist gemein!«rief ich zornig.»Jetzt bist du ungerecht. Aber eines kann ich dir sagen, Colin — «ich sprang auf und stemmte die Arme in die Hüften —»wenn du möchtest, daß ich hier weggehe, mußt du erst meine Fragen beantworten.«

Damit stürmte ich aus dem Zimmer und lief wenig damenhaft die Treppe hinauf. Wütend knallte ich die Tür von meinem Zimmer hinter mir zu. Dieser Mensch war unmöglich, unzuverlässig und unberechenbar.

Mein Blick fiel auf den Führer durch den Cremorne Park, und ich beschloß, augenblicklich einen Brief an Edward zu schreiben. Ich wollte ihm alles berichten, ihn um Rat und, wenn nötig, um Hilfe bitten. Ich wollte den Ruf meines Vaters wiederher stellen, und wenn ich mich durch dieses Bemühen selbst in Gefahr bringen sollte, so würde mir Edwards Wissen um die Situation Schutz und Sicherheit sein.

Ich hatte vielleicht eine Stunde geschrieben, als es klopfte. Zu meinen Füßen lagen zahlreiche zusammengeknüllte Blätter, und meine Wangen brannten. Es war nicht einfach die richtigen Worte zu finden, um Edward auf einleuchtende Weise die Situation zu beschreiben, die ich hier vorgefunden hatte.

«Herein«, sagte ich verdrossen.

Henry öffnete die Tür einen Spalt und schaute herein.»Schläfst du schon, Bunny?«

«Nein, nein! Komm nur herein.«

Beinahe verstohlen schob er sich durch die Tür und kam mit lautlosen Schritten auf mich zu. Nachdem er erst nach rechts und dann nach links gesehen hatte, flüsterte er:»Ich habe dich gestört. «Ich sah auf den Brief hinunter und legte meine Hände darauf.»Aber nein. Ich freue mich, daß du gekommen bist, Onkel Henry. Wollen wir uns an den Kamin setzen?«

Ich folgte ihm zum Sofa, verwundert über sein seltsames Verhalten. Wie immer umgab ihn jene Aura, aber das war es nicht, was mich sonderbar berührte. Es war etwas anderes, Unbestimmbares. Er zauderte, schien angestrengt nachzudenken und sah sich dabei mit hastigen Blicken im Zimmer um.»Was ist denn, Onkel Henry?«

Erst jetzt wandte er sich mir zu, und ich sah es: die zusammengezogenen Pupillen, den glasigen Blick. Mein Onkel mußte unter dem Einfluß von Opium stehen!

«Du hast deine Cousine Martha heute abend sehr erschreckt. Deine Worte beunruhigen uns alle. Du bist unvernünftig, Leyla, ich muß dich warnen.«

«Mich warnen?«

«Ja. Du solltest dich nicht um Dinge kümmern, die dich nichts angehen.«

«Der Tod meines Vaters und meines Bruders sollen mich nichts angehen? Das kann nicht dein Ernst sein!«

«Seither sind zwanzig Jahre vergangen, Bunny.«

«Ob es vor zwanzig Jahren war oder gestern, macht für mich keinen Unterschied. Ich verteidige die Ehre meines Vaters.«

«Aber das ist doch sinnlos, Kind! Das, was du dir unbedingt ins Gedächtnis zurückrufen möchtest, ist ein gräßlicher Alptraum. Wenn du dich eines Tages wirklich daran erinnern solltest, was du damals im Wäldchen sahst, wirst du erkennen, daß wir dir die Wahrheit gesagt haben, glaube mir.«

«Wenn das stimmt, Onkel, warum scheint ihr dann alle zu fürchten, daß ich mich erinnern könnte?«»Einzig um deinetwillen, Bunny.«

«Und ihr wünscht euch nur, daß ich nach London zurückkehre und Edward heirate. Ist das richtig?«

Henry antwortete nicht. Sein Blick huschte unablässig suchend im Zimmer umher. Ich hätte gern gewußt, warum er das Laudanum genommen hatte.

«Oder — «ich senkte die Stimme —»wollt ihr lieber, daß ich gar nicht heirate?«

Er drehte sich um und faßte mich bei den Händen. Seine Handflächen waren klamm und feucht.»Wenn du heiratest, Leyla, gibst du die Krankheit der Pembertons weiter.«

«Eine solche Krankheit gibt es nicht, Onkel Henry. Wie kannst du an ein solches Märchen glauben?«

«Weil ich weiß, daß es wahr ist. «Henrys Gesicht verfinsterte sich.»Du hättest niemals hierher zurückkommen sollen, Leyla

— «

«Aber ich bin zurückgekommen. Und ich lasse mich von meinem Vorhaben nicht abbringen. Ich werde mir meine Erinnerungen zurückholen, und wenn sie noch so schrecklich sind. Sie gehören mir.«

«Aber vielleicht kommen sie nie zurück, Leyla.«

«Ich weiß, daß sie zurückkommen werden.«

«Von uns wird dir keiner helfen.«

Das wußte ich bereits. Anna hatte mir von Anfang an nicht geholfen. Colin war jetzt ebenfalls dagegen, daß ich die Wahrheit erfuhr. Martha war mir böse. Und Theo — was für eine Haltung nahm er ein? Ich konnte mir meine Erinnerungen nur mit Hilfe meiner eigenen Willenskraft zurückerobern.

«Wie willst du dich an Dinge erinnern, die seit zwanzig Jahren verschüttet sind?«

Ich sah Henry ruhig an und antwortete:»Indem ich morgen ins Wäldchen gehe.«

Kapitel 7

Er starrte mich lange mit leerem Blick an, so daß ich mich fragte, ob er meine Worte überhaupt gehört hatte. Schließlich jedoch fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen und sagte leise:»Du darfst nicht ins Wäldchen gehen, Leyla. Niemals.«

Er mußte meinem Vater so ähnlich sein — Gesicht, Stimme, Körperhaltung. Unter anderen Umständen hätte ich diesen Mann geliebt; aber das konnte ich nicht, solange ich ihn fürchtete. Es war nicht Angst, sondern eher eine Art von Mißtrauen, wie weit er gehen würde, um das Familiengeheimnis zu bewahren. Henry würde mir niemals etwas Böses antun, dessen war ich gewiß, aber seine Gegnerschaft konnte mich sehr unglücklich machen.

«Ich werde gehen, weil ich gehen muß, damit ich mich erinnere.«

«Ich weiß, was du für einen Plan hast, Leyla. Ich weiß, worauf du hinauswillst. Indem du die Unschuld deines Vaters erklärst, schiebst du die Schuld einem anderen Mitglied der Familie zu. Du beschuldigst einen Pemberton des Mordes!«

«Mein Vater war auch ein Pemberton, und ihr denkt euch nichts dabei, ihn zu beschuldigen.«

«Das war etwas anderes. Er wurde vom Wahnsinn zu der Tat getrieben.«

«Wie einfach für euch alle. Aber ich glaube nicht daran.«

«Aber, Bunny, wer von der Familie hätte einen Grund gehabt! Es war auch sehr häßlich von dir, zu Martha zu sagen, wir würden um das Familienvermögen streiten. Ich hätte dich solcher Gedanken nicht für fähig gehalten.«

Das tat weh. Wenn sie meinen Vater, der sich nicht mehr wehren konnte, des Mordes beschuldigten, so war das völlig in Ordnung. Wenn ich hingegen einen von ihnen beschuldigte, so war das gemein und niedrig.»Ich gehe morgen ins Wäldchen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«

Henry schien sich völlig in eine eigene Welt zurückzuziehen. Ich hatte keine Ahnung, wieviel Laudanum er genommen hatte und warum, aber ich wußte, daß es ein sehr starkes Schmerz-und Betäubungsmittel war.

Ich bekam eine Erklärung, als er stöhnend die Hand an die Stirn drückte und sagte:»Diesmal ist es schlimmer als je zuvor.«

«Was ist schlimmer, Onkel Henry?«

«Die Kopfschmerzen. Ach, diese Kopfschmerzen. Sie sind zermürbend, Leyla.«

Ich sah Henry leicht beunruhigt an.»Wieviel Laudanum hast du genommen, Onkel?«

Sein Blick glitt an mir vorbei.»Deine Tante Anna hat es mir mit dem Tee gegeben. Aber diesmal brauche ich mehr. Dieser gräßliche Wind bläst durch alle Ritzen. Daher kommen die Kopfschmerzen.«

«Hat mein Vater auch Kopfschmerzen gehabt, Onkel?«

«Wie? Oh, ich muß gehen. Mutter erwartet, daß ich noch einmal nach ihr sehe, ehe sie zur Ruhe geht.«

«Großmutter kann ruhig einen Moment warten — «Er lachte laut und gequält.»Wie wenig du weißt, Bunny. Niemand läßt Abigail Pemberton warten. «Unsicher stand er auf und legte mir eine Hand auf die Schulter.»Geh nach London zurück, Leyla, solange du kannst.«