Er kniff die Augen zusammen.»Doch, deinem Vater auch. Man sieht dir an, daß du eine Pemberton bist, verflucht, wie alle Pembertons.«
«Hör’ auf mit dem Unsinn, Colin!«
«Ach, Leyla, wenn du wüßtest, wie lebendig durch deinen Anblick die Vergangenheit wird. Ich war damals zwar erst vierzehn, aber ich war alt genug, um einen Blick für Schönheit und Anmut zu haben. Ach, wie habe ich damals gehofft, wenigstens einmal einen Blick auf die zarten Fesseln deiner Mutter zu erhaschen! Sie war zwar meine Tante, aber ich brauchte sie nur zu sehen, um im Fieber der Leidenschaft zu entbrennen.«
«Ach, Colin!«Ich lachte.
«Und du, Leyla, du launisches Frauenzimmer. Damals hingst du mit abgöttischer Liebe an mir! Aber davon ist jetzt nichts mehr übrig, oder?«Er sah mich forschend an.
«Du mußt dich getäuscht haben, Colin. Ich habe dich bestimmt nur als älteren und klügeren Bruder gesehen, so wie jetzt. Es wäre doch unvorstellbar gewesen, daß ich mich in meinen Vetter verliebe.«
«Weißt du noch, daß ich dir oft vorgelesen habe?«Ich versuchte, mich zu erinnern.»Nein.«
«Und einmal habe ich dir zum Geburtstag eine Laterna Magica geschenkt. Ich bastelte wochenlang daran herum — «
«Colin!«Ich schrie fast seinen Namen und packte ihn aufgeregt beim Handgelenk. Nicht nur ein vages, undeutliches Bild, sondern eine klare, lebendige Erinnerung.»Ich glaube, ich erinnere mich. War ein Bild von einem kleinen Hasen darauf? Und das Häschen hatte ein Kleid an, das wie meines aussah. Das Häschen sollte ich sein, und wenn ich die Kurbel drehte, hopste es auf und ab. Colin, ich erinnere mich ganz genau!«
«Ich habe ewig gebraucht, um das Ding fertigzubekommen, Leyla, aber es lohnte sich. Du hättest sehen sollen, wie dein Gesicht strahlte, wenn du damit spieltest. Ich bin froh, daß du dich erinnerst.«
«Ja, ganz deutlich. «Unwillkürlich grub ich meine Finger tiefer in seinen Arm. Weitere bruchstückhafte Erinnerungen kamen zurück, wie Steine eines Mosaiks. Ich sah die Geburtstagsfeier im Speisezimmer, eine Torte und Leckereien auf dem Tisch, der mir in der Erinnerung riesig erschien. Ich sah wogende Röcke, um mich herum ein Farbenmeer von Rosarot und Blau. Ich erinnerte mich an die Laterna Magica und wie ich Colin vor Freude um den Hals gefallen war.»Täusche ich mich, oder wirst du rot, schöne Cousine?«Die Bilder verschwanden, ich sah Colin an.»Und meine Hand ist bereits völlig taub.«
Ich ließ seinen Arm los.»Mir ist plötzlich alles wieder eingefallen. Das ganze Geburtstagsfest. Aber ich konnte nur Hosenbeine und Röcke sehen, keine Gesichter.«
«Das wird schon noch kommen.«
Er sah mich schweigend an, und während ich von seinem Blick gefangen war, versuchte ich, ohne zu wissen warum, mir Edwards Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Und konnte es nicht.»Ich dachte, du möchtest nicht, daß ich mich erinnere.«»Doch, Leyla, an die glücklichen Zeiten schon. Sie gehören dir. Aber nicht an die schlimmen Tage. Das würde dir wehtun.«
«Ich muß trotzdem hin, Colin. Ich muß ins Wäldchen. Ich gehe heute hinunter und — «
Jetzt packte Colin mich beim Arm, und so heftig, daß ich zusammenzuckte.»Das kann nicht dein Ernst sein, Leyla. Geh nicht!«
«Aber ich muß! Colin, du tust mir weh.«
«Das ist doch Wahnsinn! Es kann dir passieren, daß du dich an überhaupt nichts erinnerst und dennoch das Grauen fühlst und die Angst jenes Tages.«
«Bitte, laß mich los!«
Zornig stieß er mich von sich. Wie rasch bei diesem Mann die Stimmung wechselte. Seine plötzlichen Ausbrüche, seine Unberechenbarkeit ängstigten mich.»Leyla, bitte — «
«Ich gehe, Colin.«
«Dann laß mich mitgehen. Erlaube mir, daß ich dich begleite. Vielleicht brauchst du mich, wenn — du dich wirklich erinnern solltest. «Seine Fürsorge tat mir gut.»Komm mit. Ich gehe heute nachmittag.«
«Gut. Wenn du jetzt noch mehr vom Haus sehen willst, dann laß mich dich führen.«
Gertrude fiel mir plötzlich ein.»Nein, danke, Colin. Ich bin ein bißchen müde und möchte mich noch ein Weilchen hinlegen. Wir sehen uns später, wenn es dir recht ist.«
Er begleitete mich zu meinem Zimmer, wartete, bis ich die Tür geschlossen hatte, und ging dann den Flur entlang, vermutlich die Treppe hinunter. Ich hatte nicht ganz die Unwahrheit gesagt, als ich erklärte, müde zu sein. Die Erkenntnisse dieses Morgens hatten mich nicht nur tief getroffen, sondern auch recht mitgenommen, insbesondere das
Geheimnis um Tante Sylvias Brief. Ich setzte mich auf das Sofa am Kamin und las ihn wohl zum zwanzigstenmal.
>Liebe Jennyc, stand da, >verzeih dieses plötzliche Schreiben nach so vielen Jahren des Schweigens. Ich verspüre eine starke Sehnsucht, Dich zu sehen. Ich kann mir vorstellen, daß Du kaum gute Erinnerungen an Pemberton Hurst hast, und ich kann es verstehen. Aber das ist alles lange her, und so vieles hat sich seither verändert. Ich möchte Dich und Leyla gern sehen, aber ich kann nicht nach London kommen. Ich bin jetzt eine alte Frau und möchte in meiner Familie sein, wenn der Herr mich ruft. Kannst Du nicht für einige Tage hierher zurückkommen und Leyla mitbringen? Dann könnte mein Herz Frieden finden. In Liebe, Tante Sylvia<
Ein schlichter Brief, der aber eindeutig nicht von Sylvia Pemberton geschrieben war. Doch wer in diesem Haus hatte meine Mutter und mich hierhaben wollen? Und warum hatte der Betreffende nicht im eigenen Namen geschrieben, sondern sich hinter Tante Sylvia versteckt, die damals kurz vor dem Tod gestanden haben mußte?
Von allen Rätseln, die mir hier begegnet waren, schien mir dies das unergründlichste.
Ich war dem Ruf dieses Briefes gefolgt, doch alle im Haus waren, so hatte es jedenfalls den Anschein, über mein Kommen höchst überrascht gewesen. Und alle schienen sie meine baldige Abreise zu wünschen. Das konnte nur eines bedeuten: Jemand sagte die Unwahrheit.
Kapitel 8
Gertrude kam gleich, als ich sie rief. Zögernd blieb sie an der Tür stehen. Wir hatten bisher kaum miteinander gesprochen, doch ich hatte immer noch die Hoffnung, daß ich von ihr etwas erfahren würde. Aber, das hatte ich inzwischen gelernt, ich mußte vorsichtig zu Werke gehen. Gertrudes Blick sagte mir eindeutig, daß sie sich nicht bereitwillig öffnen würde.»Gertrude«, sagte ich, während wir nebeneinander im Zimmer standen,»wir haben noch gar keine Gelegenheit gehabt, miteinander zu sprechen. Dabei haben wir uns doch soviel zu erzählen. Von früher, meine ich.«
«Ja, Miss Leyla, aber wissen Sie, mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut.«
«Meines auch nicht, das haben Sie sicher schon bemerkt. Aber ich möchte so gern die alten Erinnerungen auffrischen. Vielleicht können Sie mich dabei unterstützen.«
«Ich würde Ihnen bestimmt gern helfen, Miss Leyla, aber ich glaube nicht, daß ich es kann.«
«Wir könnten es wenigstens versuchen. Vor zwanzig Jahren waren wir doch sicher gute Freunde. Das habe ich im Gefühl.«
«O ja, das waren wir!«
Wir setzten uns beide auf das Sofa vor dem kleinen Tisch, auf dem Tee und Toast bereitstanden. Das klare Licht des frühen Morgens fiel durch das Fenster und warf helle Streifen auf den Teppich. Der Wind pfiff immer noch um das Haus, aber der Himmel leuchtete herrlich blau. Bemüht, ihr die Befangenheit zu nehmen, schenkte ich uns beiden ein. Die Jahre waren freundlich gewesen zu unserer alten Haushälterin, die rosige Haut ihres Gesichts hatte kaum Falten. Sie war vielleicht sechzig, rundlich und klein, eine gute Köchin, die gern von ihren eigenen Speisen probierte, wie mir schien.
«Ich hab’ viel zu tun, Miss Leyla. Die Familie steht bald auf.«
«Aber bis dahin ist doch noch ein bißchen Zeit. Sonst kommen wir ja gar nicht zum Plaudern. Und wir haben uns soviel zu erzählen.«
«Wenn Sie meinen, Miss Leyla.«
«Ich weiß es, Gertrude. Ich meine, Sie müssen mich als Kind doch sehr gut gekannt haben. Haben Sie nicht damals immer für uns Kinder gebacken? Und Ihre Spezialität waren Lebkuchen, nicht wahr?«
«Nein, Miss Leyla. Ihre Tante Sylvia hat die Lebkuchen gebacken. Von mir haben Sie und die anderen Kinder immer am liebsten Apfelstrudel gegessen.«
«Ach ja, natürlich. «Keinerlei Erinnerung regte sich.»Und im Winter mußte ich Ihnen immer heiße Schokolade machen. Die tranken Sie mit Vorliebe.«
«Ach, ja?«
Gertrude blieb steif und zurückhaltend. Zweifellos hatte sie genaue Anweisungen erhalten. Aber ich hoffte auf eine Gefühlsregung von ihr.»Hat mein Bruder auch so gern Ihre Schokolade getrunken, Gertrude?«
Sie setzte sich noch steifer hin. Offenbar hatte ich hier einen wunden Punkt getroffen.»Der kleine Thomas war wie alle anderen. Er liebte alles, was ich machte, Hauptsache, es war schön süß.«
«Ich kann mich nicht an ihn erinnern, Gertrude. Können Sie mir ein wenig von ihm erzählen?«
«Ich habe leider ein schlechtes Gedächtnis, Miss Leyla. Ich kann Ihnen nichts sagen.«
Der Wind pfiff durch die Fensterritzen und durch den Abzug des Kamins. Mich fröstelte. Ich setzte meine Teetasse ab und legte meine Hand auf ihren Arm. Bis jetzt hatte sie mich nicht ein einziges Mal angesehen.»Gertrude, bitte, verstehen Sie doch. Ich habe alle Erinnerung an meine ersten Kinderjahre verloren und ich möchte sie so gern zurückhaben. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir helfen.«
Doch ihr Gesicht blieb unbewegt. Meine Hoffnung auf eine Gefühlsregung war fehlgeschlagen. Oder aber ich hatte ihren Pflichteifer unterschätzt. Von wem auch immer der Befehl zu schweigen gekommen war — von meiner Großmutter oder Henry —, sie würde sich fest daran halten.
«Nun ja«, sagte ich seufzend. Diesmal war die Enttäuschung leichter zu ertragen. Erst meine Tante und mein Onkel, dann meine beiden Vettern und meine Cousine, dann meine Großmutter und jetzt Gertrude. Alles vergeblich.»Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange von der Arbeit abgehalten, Gertrude. Ich hatte so gehofft, Sie könnten mir auf meiner Suche ein wenig helfen. Sie können gehen, wenn Sie möchten.«
«Die Familie möchte sicher das Frühstück — «
Wir standen gleichzeitig auf, und ich machte einen letzten Versuch. Ich drückte meine Hand an die Stirn, stöhnte ein wenig und murmelte:»O, mein Kopf.«
Gertrude fuhr erschrocken herum und sah mich an. Tiefe Bekümmerung sprach aus ihren Augen. So unrührbar war sie also doch nicht.»Haben Sie Kopfschmerzen, Miss Leyla?«
«Es ist nicht schlimm. «Ich hatte überhaupt keine Kopfschmerzen. Ich hatte nur zu dieser List gegriffen, um Gertrude vielleicht doch noch erweichen zu können.»Haben Sie öfter Kopfschmerzen?«
«Ja, ab und zu. Es fällt mir erst jetzt auf, wo Sie fragen. In den letzten Monaten kam es immer wieder mal. Woher wußten Sie das?«
«Arme kleine Leyla. Daran litt auch Ihr Vater. Er litt in den letzten Wochen seines Lebens unter grauenvollen Kopfschmerzen. «Plötzlich blitzte eine Erinnerung auf: Ich hörte das Stöhnen eines Mannes hinter verschlossener Tür.
«Er hat entsetzlich gelitten, Kindchen, und kein Arzt konnte ihm helfen. Wir gaben ihm die Arznei, aber es mußte jedesmal mehr sein und am Schluß half sie gar nicht mehr. Dann bekam er das Fieber und fiel ins Delirium. Ach, Kindchen, Sie sollten sich solche Erinnerungen nicht zurückwünschen. Sie sind zu traurig. Sie sind schlimm. «Aber ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. So sehr ich mir gewünscht hatte, daß meine kleine List Gertrude die Zunge lösen würde, achtete ich jetzt kaum auf ihre Worte. Etwas Neues formte sich nämlich in meinen Gedanken, etwas, das ich nicht ganz greifen konnte.»Sie sind noch so jung, Kindchen! Daß Sie jetzt schon diese Kopfschmerzen haben! Ihr Vater war im besten Alter, und Ihr Großvater war alt. Ich bete zu Gott, daß die Kopfschmerzen einen anderen Grund haben. Vielleicht kommen sie vom Kummer über den Tod Ihrer Mutter. «Gertrudes Worte rauschten an meinen Ohren vorüber. Ich wußte jetzt, was für ein neuer Gedanke durch ihre ersten Bemerkungen bei mir ausgelöst worden war. Die Kopfschmerzen, die immer stärkeren Dosen Opium — das erinnerte mich an Henry. Er litt jetzt genauso wie vor zwanzig Jahren mein Vater gelitten hatte.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf Gertrudes Gesicht. Ich wollte sehen, ob sie mir Theater vorspielte. Doch ihre Tränen waren echt, das sah man. Mein Vater hatte also wirklich an grauenvollen Kopfschmerzen und Fieberwahn gelitten. Dieser Teil der Geschichte war wahr, das sah ich an ihrem angstvollen Blick und ihren zitternden Händen. Mein Vater hatte in der Tat an einem unbekannten Fieber gelitten. Gertrude ging jetzt; ich wartete, bis sie an der Treppe war, ehe ich meine Zimmertür schloß. Es war vielleicht herzlos gewesen, was ich ihr angetan hatte, aber mir hatte es eine neue Erkenntnis gebracht. Mein Vater hatte offenbar tatsächlich an einer geheimnisvollen Krankheit gelitten. Gertrudes Bekümmerung war echt gewesen, und mir selbst war eine flüchtige Erinnerung an sein Leiden gekommen. In meinem Gedächtnis regte sich der Gedanke an ein verschlossenes Zimmer, das ich nicht betreten durfte, und an einen weinenden Mann hinter dieser verschlossenen Tür. Ich meinte zu spüren, daß dieser Mann mein Vater gewesen war, und ich spürte zugleich die Angst und die Verzweiflung des Kindes, das nicht zu ihm konnte. Wenn Gertrudes Anteilnahme echt gewesen, wenn meine schattenhaften Erinnerungen keine Täuschung waren, dann konnte ich daraus nur schließen, daß mein Vater vor seinem Tod tatsächlich schwer krank gewesen war.
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