Ich blieb einen Moment reglos am Feuer stehen und ließ ihre Worte auf mich wirken. Ich konnte nicht leugnen, daß sie ein bitteres Körnchen Wahrheit enthielten. Plötzlich lief ich zu ihr und fiel neben ihrem Sessel auf die Knie.
«Und wie habt ihr euch mir gegenüber verhalten? Habt ihr euch denn die Mühe gemacht, meine Seite zu sehen? Könnt ihr euch überhaupt vorstellen, wie es ist, wenn man heimkehrt, sich nach nichts als Liebe sehnt und statt dessen mit Mißtrauen und Abwehr behandelt wird? Ich habe diese Anschuldigungen vorgebracht, weil ihr die gleichen gegen meinen Vater gerichtet habt. Ja, ich kam voller Hoffnung, weil ich glaubte, ein liebevolles Willkommen erwarten zu dürfen. Jahrelang habe ich mit meiner Mutter in Armut gelebt. Jahrelang sehnte ich mich nach einer Familie. Ich bin hier geboren, Großmutter. Ich gehöre hierher. Ich bin nicht aus eigenem Antrieb vor zwanzig Jahren von hier fortgegangen. Ich wurde fortgebracht; von allein wäre ich niemals gegangen. Und es war nicht meine Schuld, daß ich fort blieb. Ich hatte keine Wahl. Und bei der ersten Gelegenheit — nach dem Tod meiner Mutter — kam ich zurück nach Pemberton Hurst zu meiner Familie. Sag mir bitte, inwiefern ich euch Unrecht getan habe!«
Ich war überrascht, als ich die Tränen in den Augen meiner Großmutter sah. Sie sah mich nicht an, sondern starrte unverwandt geradeaus. Meine Worte hatten sie offenbar tief bewegt.
«Es war ein Werk des Teufels, daß du von uns fort mußtest, Leyla«, sagte sie.»Dein Vater — mein Lieblingssohn — war von Dämonen besessen und hatte Grauenvolles getan. Unsere Familie ist verdammt. Keinem Pemberton wird erspart bleiben, was er durchlitten hat.«
«Aber das stimmt doch nicht, Großmutter. Mein Vater war unschuldig. Der Teufel hatte nichts damit zu tun. Den Fluch der Pembertons gibt es nicht und auch nicht den Wahnsinn, dem wir angeblich alle verfallen werden. Ich weiß nicht, warum ihr alle das glaubt; ich fühle, daß es Lüge ist. Und ich möchte es beweisen. Wenn ich mich erinnern könnte, was ich damals sah — «
«Nein, Leyla!«Die Kraft ihrer Stimme erstaunte mich.»Laß es ruhen. Du hättest niemals zurückkehren sollen. Es ist nicht gut. Laß die Toten ruhen, kehre nach London zurück. «Plötzlich faßte sie mich mit einer ihrer knochigen Hände und hielt mich sehr fest.»Leyla, mein Kind. Verlasse dieses Haus. Sofort. Du bringst dich in die höchste Gefahr. Geh fort von hier und komme niemals zurück. Ich flehe dich an. «Mir liefen die Tränen über die Wangen, während ich sah, wie sie mich mit bebenden Lippen bat, fortzugehen. Ich stellte mir ihren Schmerz vor, als sie erfahren hatte, daß ihr Sohn und Enkel auf so grauenhafte Weise den Tod gefunden hatten. Welch schreckliche Erinnerungen mußte der Anblick des Wäldchens täglich in ihr wecken! Und ich hatte durch mein Erscheinen alles wieder lebendig gemacht.
«Bitte, verzeih’ mir«, sagte ich leise.»Aber ich habe keine Wahl. Ich schulde es meinem Vater — «
«Dein Vater ist tot.«
«Dann schulde ich es seinem Andenken und meiner Mutter, die zwanzig Jahre für das gelitten hat, was er, wie sie glaubte, getan hatte. Jetzt muß ich beweisen, daß das nicht stimmt. Nur dann kann ich mein eigenes Leben aufnehmen. Ich kann jetzt nicht dieses Haus verlassen und Edward heiraten. Ich müßte dauernd daran denken, daß ich meinen Vater und meine Mutter im Stich gelassen habe. Ich hoffte, du würdest das verstehen, Großmutter. Das Andenken deines Sohnes soll wieder rein werden.«
«Es ist zu schmerzhaft«, stöhnte sie.»Ich kann es nicht ertragen. «Ich zog mein Taschentuch heraus und wischte mir die Tränen ab. Dann stand ich auf.»In gewisser Weise ist es wohl alles meine Schuld«, sagte ich.»Wäre ich niemals zurückgekommen, so wärt ihr hier ungestört geblieben. Verzeih mir, Großmutter. Aber ich bin gekommen, und ich werde den Weg, den ich eingeschlagen habe, bis zum Ende gehen. «Ich war selbst erstaunt, wie gefaßt ich war, als ich zur Tür ging. Dort blieb ich noch einmal stehen.
«Und wie wird dieses Ende aussehen?«fragte meine Großmutter hinter mir.
Eine schwarze Wand stand direkt vor meinem Gesicht. Ich wußte, daß es die Tür war, die in den Flur hinausführte. Gleichzeitig jedoch schien es mir meine Zukunft zu sein, die da vor mir stand, so dunkel und abschreckend wie meine unbekannte Vergangenheit.»Das Ende wird die Vereinigung der Vergangenheit mit der Gegenwart sein, Großmutter.«
«Wozu? Wir wissen alle, was die Zukunft bereithält. «Ich drehte mich noch einmal nach ihr um, sah sie an, wie sie da im schützenden Dunkel saß wie eine Eremitin, die in einer vergangenen Zeit verharrt und sich weigert, einen Schritt in die
Zukunft zu tun. Hatte sie seit jenem schrecklichen Tag vor zwanzig Jahren so gelebt? Oder war sie erst mit dem Tod von Colins Vater zur Einsiedlerin geworden? Oder aber hatte der Selbstmord ihres Mannes vor zehn Jahren sie dazu gemacht?
«Ich glaube nicht an diese Zukunft. Es gibt keinen Fluch. Die Pembertons sind nicht verdammt.«
«Nein?«kam die Stimme dünn aus der schattendämmrigen Vergangenheit.»Dann sag dir das nur ganz fest, wenn du deinen Onkel Henry besuchst. Denn es geschieht schon wieder.«
Das es, vermutete ich, bezog sich auf das Syndrom, das mit dem Wahnsinn einherging: Kopfschmerzen, Fieber, Delirium und schließlich der Tod. So war angeblich Sir Johns Bruder Michael vor fünfundvierzig Jahren gestorben. So war, wie man mir berichtet hatte, mein Vater gestorben. Und das gleiche Schicksal hatte später meinen Großvater ereilt. Henry, so schien es, sollte das nächste Opfer werden. Aufregung empfing mich, als ich in den unteren Flur hinunterkam. Gertrude rannte, gefolgt von zwei Mädchen, an mir vorbei; die eine trug ein Kissen, die andere ein Teetablett. Anna stand völlig außer sich vor dem Schlafzimmer, das sie mit Henry teilte, und rief immer wieder:»O Gott, o Gott, hilf uns doch!«
Als ich zu ihr eilte und meine Hand auf ihren Arm legte, starrte sie mich an, als kenne sie mich nicht.»Ach, Jenny, ich bin so durcheinander. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
«Wegen Onkel Henry?«
Sie nickte mehrmals.»Wir haben nach Dr. Young geschickt. Er wäre gleich gekommen, aber in der Spinnerei hat es einen Unfall gegeben. Der Junge sagte, er würde heute im Lauf des Abends kommen. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich tun soll. Hoffentlich kommt er bald. «Ich wollte ins Zimmer gehen, aber sie hielt mich zurück.»Es ist schlimmer, Jenny, schlimmer als je zuvor. Es ist genau wie bei Robert. Du weißt doch noch, erst hatte er nur ab und zu Kopfschmerzen, dann kamen sie immer häufiger und wurden so grauenvoll, daß sie nicht mehr zu ertragen waren.«
Aus dem Zimmer kam ein Schrei Henrys, dessen Stimme von Qual verzerrt war.
«Er hat noch kein Fieber«, fuhr Anna hastig fort.»Aber es wird noch kommen, Jenny, du wirst sehen. Seine Zeit ist da. O Gott, mein armer, armer Henry. «Anna schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Sie war völlig aufgelöst und drohte unter der Belastung des anscheinend Unvermeidlichen zusammenzubrechen. Nicht in der Lage, ihr mehr zu geben als eine tröstliche Umarmung, entfernte ich mich von ihr und trat leise in das dämmrige Schlafzimmer, wo mein Onkel stöhnend auf seinem Bett lag. Sein Haar war feucht von Schweiß, das Gesicht aschfahl, die Lippen zeigten überhaupt keine Farbe. Ich näherte mich ihm vorsichtig, unsicher, was ich tun oder sagen konnte, um ihm zu helfen, nur am Rande Gertrude bemerkend, die am Fußende des Bettes stand. Die Augen fest zusammengekniffen vor Schmerz, stöhnte Henry immer wieder laut auf. Als ich das bleiche, eingefallene Gesicht sah, die Hände, die sich vor Schmerz in die Bettdecke krampften, überkam mich tiefes Mitgefühl. Mochte er gegen mich sein, oder nicht, er war der Bruder meines Vaters und ein leidender Mensch.
«Onkel Henry«, flüsterte ich und kniete neben dem Bett nieder.»Onkel Henry.«
Es dauerte einen Moment, ehe er den Kopf zur Seite drehte, um mich anzusehen. Seine Pupillen waren winzig klein.»O Gott«, hauchte er.»Jenny, ich sterbe.«
«Aber nein, Onkel Henry. «Ich legte ihm sachte die Hand auf die Stirn und spürte mit Erschrecken, wie kalt seine Haut war.»Das geht vorüber. Du wirst schon wieder gesund.«
«Nein! Nein!«flüsterte er beinahe heftig.»Erst mein Onkel Michael, dann mein Bruder Robert, dann mein Vater und jetzt ich. Die nächsten werden die Kinder sein, Theo und Colin, Martha und Leyla. Ja, auch die kleine Leyla. Wir sind alle Pembertons. O Gott!«Er drückte wieder die Augen zu, und sein ganzer Körper zuckte in einem heftigen Krampf.»Ich habe das Gefühl, daß mir der Kopf zerspringen will. O Gott, hilf mir doch, hilf mir doch!«
«Bitte, beruhige dich«, sagte ich tröstend.»Es wird doch wieder besser werden, Onkel Henry. Ganz bestimmt.«
Aber eigentlich wollte ich mit diesen Worten mehr mich selbst beruhigen, als ihn. Ich fühlte mich in einen Strudel der Aussichtslosigkeit hineingerissen, gegen den ich mich gewappnet geglaubt hatte. Außerdem glaubte ich nicht, daß er irgend etwas von dem, was ich sagte, hörte. Er schwebte in einer Zwischenwelt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wo ihn meine Stimme nicht erreichen konnte. Als er die Augen wieder öffnete, sah ich darin einen irren Glanz und die nackte Angst.»Lieber Gott, bitte, laß mich nicht die Verbrechen begehen, zu denen mein Bruder getrieben wurde. Bitte, erspare mir diese Grausamkeit. Laß mich dieser Familie nicht zu einer weiteren Quelle des Schmerzes und des Kummers werden.«
Entsetzt sah ich Henry an. Während er seine zitternden Finger um die Bettdecke klammerte und mit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit über sich starrte, verband nur noch ein dünner Faden klaren Denkens ihn mit der Wirklichkeit, ein Fünkchen Einsicht, das ihn angstvoll erkennen ließ, was geschehen könnte, wenn das Delirium eintrat.»Nein, Onkel Henry«, rief ich.»Das wird nicht geschehen. Mein Vater hat das nicht getan. Er war das Opfer, nicht der Mörder.«
«Du weißt es nicht, Jenny. Du warst nicht dabei.«
«Aber Leyla war dabei. Ich war dabei!«Ich schlug mir mit der Faust an die Stirn.»Ach, wenn ich mich doch nur erinnern könnte! Onkel Henry, wenn ich mich erinnern könnte, was ich damals im Wäldchen sah, könnte ich dich beruhigen: Mein Vater war kein Mörder, und du wirst auch keiner werden. Siehst du das denn nicht? Du hast dir eingeredet, daß — «
«Mein Gott!«schrie er laut und riß sich mit beiden Händen an den Haaren.»Diese Schmerzen! Es ist, als stocherte mir jemand mit einem heißen Schürhaken im Kopf herum. «Er warf sich so wild hin und her, daß ich Angst bekam.
Im nächsten Augenblick war Anna an seiner Seite und legte ihm beruhigend den Arm um den Leib.»Beruhige dich, Liebster«, flüsterte sie unter Tränen.»Beruhige dich. Es wird ja wieder gut. Dr. Young ist schon unterwegs.«
Als mein Onkel etwas ruhiger geworden war, wandte sich Anna mir zu und sagte mit einer Heftigkeit, die mich erschreckte:»Du! Du hast ihn aufgeregt! Verschwinde und komm ja nicht wieder hier herein, solange er krank ist.«
«Aber ich möchte helfen — «
«Du hast genug angerichtet. Verschwinde!«
Ich wich vor meiner aufgebrachten Tante zurück und lief zur Tür hinaus. Ich kam mir vor wie in einer Geisterwelt, nichts als zuckende Schatten und gespenstische Finsternis um mich herum. Der Anblick Henrys, in dem ich eine Vaterfigur gesehen hatte und der jetzt nur noch ein stöhnendes Bündel von Schmerz und Wahn war, hatte mich aus der Fassung gebracht. Keines klaren Gedankens fähig, lief ich durch den Flur zu meinem Zimmer.
Von allen Seiten schien Tod mich zu umgeben. Der Geist meines Vaters und meines Bruders waren an meiner Seite; mein Großvater, der sich umgebracht hatte; mein Onkel Richard und meine Tante Jane, die durch einen Unfall ums
Leben gekommen waren; mein Großonkel Michael, der selbst Hand an sich gelegt hatte; und meine Mutter, die mich nach länger Krankheit verlassen und ein Stück von mir mitgenommen hatte.
Auf meiner blinden Flucht durch den Flur prallte ich unversehens mit Colin zusammen und hätte uns beinahe beide zu Boden gerissen. Doch er umfing mich rasch mit seinen Armen und hielt mich fest, bis wir das Gleichgewicht wiedergefunden hatten. Dann erst ließ er mich los.»Wohin denn so eilig, Leyla? Wovor läufst du denn weg?«fragte er ruhig.
Ich blickte über meine Schulter zurück, sah wieder das schmerzverzerrte Gesicht Henrys, die blassen Lippen, die weit aufgerissenen Augen.»Ich war bei Onkel Henry. Mein Gott, ihm ist so elend, Colin. Warum können wir denn nichts für ihn tun? Mit Laudanum — «
«Er bekommt schon die höchste Dosis, Leyla. Dr. Young wagt nicht, ihm mehr zu geben, sonst — «Colin breitete die Hände aus. Ja, ich kannte Laudanum, eine Mischung aus Morphium und Alkohol. Es linderte Schmerzen auf wunderbare Weise, aber es barg auch große Gefahren.
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