«Wir können nichts mehr tun.«
«Aber er leidet doch so. «Colin schwieg, doch sein Gesicht sagte alles.
«Ich glaube es nicht«, erklärte ich heftig und erbittert.»Es kann nicht wahr sein. Diese geheimnisvolle Krankheit der Pembertons gibt es nicht.«
«Und du glaubst nicht daran, daß wir ihr alle hilflos ausgeliefert sind?«
«Nein! Es ist ein unglückliches Zusammentreffen, oder vielleicht eine ortsgebundene Krankheit, aber es gibt eine sicherlich normale Erklärung dafür, und ich verstehe nicht, daß du das nicht siehst. Colin, wie kannst du nur so blind sein!«
Ich schrie ihn an und machte damit meinem ganzen Schrecken über Henrys Leiden und Annas Verzweiflung Luft. Und zugleich entlud sich die Spannung, die sich im Lauf dieses Tages in mir angestaut hatte — mit dem Fund des Tagebuchs in Tante Sylvias Zimmer, mit dem Besuch im Wäldchen, dem Gespräch mit meiner Großmutter, dem Anblick von Henrys Qual.
Ich zwang mich nach meinen heftigen Worten zur Ruhe, umgab mich mit einer Fassade künstlicher Gelassenheit, während ich innerlich weiter raste. Colins grüne Augen sahen mich hart an und verbargen, was er wirklich dachte. Schweigend stand er vor mir, als warte er auf etwas.»Ich war vorhin bei Großmutter«, sagte ich so ruhig ich konnte.»Ja, und sie wußte, daß ich heute nachmittag im Wäldchen war.«
«Du hast aus deiner Absicht kein Geheimnis gemacht, Leyla.«
«Sie wußte auch, daß es vergeblich war; daß ich mich an nichts erinnert habe. In der kurzen Zeit zwischen meiner Rückkehr aus dem Wäldchen und meinem Besuch bei ihr hatte sie alles erfahren.«
«Tatsächlich?«Sein Gesicht verriet nichts.
«Ach, Colin, es sollte mich wahrscheinlich nicht wundern, und ich habe wahrscheinlich auch kein Recht, darüber zornig zu sein, aber mußt du denn zu Großmutter laufen und ihr alles erzählen? Mußt du für sie der Beobachter sein?«
Sonderbarerweise ließen ihn meine Worte völlig ungerührt. Sein verschlossenes Gesicht sagte nichts. Mich brachte das nur noch mehr in Zorn und Verwirrung.
«Was ist denn nur los mit dir? Mit euch allen!«Ich stampfte mit dem Fuß.»Die flüchtigen Bilder, die mir manchmal doch kommen, zeigen mir Gelächter und Fröhlichkeit in diesem Haus. «Mir sprangen die Tränen der Ohnmacht in die Augen.»Was ist mit euch allen geschehen? Warum habt ihr dieses
Haus in ein Mausoleum verwandelt?«Mit unerwartetem Mitgefühl nahm Colin meine Hand und sagte:»Komm mit, Leyla. Ich möchte dir etwas erzählen. «Ich ging mit ihm durch den Flur zur Treppe und hinunter in die Bibliothek. Hier unten war es still, und in der wohligen Wärme des lodernden Feuers entspannte ich mich allmählich. Oben, umgeben von Düsternis und Tod, hatte ich mich wie ein in der Falle gefangenes Tier gefühlt. Hier unten wurde ich ruhig.
Colin blieb vor mir stehen, während ich mich in einen Sessel am Kamin setzte.»Leyla, die Menschen in diesem Haus sind seit Jahrzehnten unglücklich und werden es wohl immer sein, auch im nächsten Jahrhundert, wenn es unsere Familie dann noch gibt. Du hast mich einmal gefragt, Leyla, warum Theo, Martha und ich nicht verheiratet sind. Du sagtest, daß Martha mit ihren zweiunddreißig Jahren hier die jüngste ist. Dir ist natürlich auch aufgefallen, auch wenn du niemals etwas darüber gesagt hast, daß es hier im Haus keine Kinder gibt. Seit Thomas’ Tod und seit deine Mutter mit dir fortgegangen ist, gibt es auf Pemberton Hurst keine Kinder mehr.«
«Wegen des Fluchs«, sagte ich mit Bitterkeit.
«Richtig. Wir können nicht zulassen, daß dieses Erbe immer weitergegeben wird. Es muß damit ein Ende haben. Wenn unsere Vorfahren schon vor langer Zeit diese Einsicht gehabt hätten, dann säßen wir heute nicht hier; dann wären wir heute nicht mit dem gleichen Schicksal konfrontiert, dem Onkel Henry preisgegeben ist. Nein, warte, Leyla«, sagte er rasch, als ich etwas einwerfen wollte.»Laß mich aussprechen. Ich weiß, daß du nicht an diese Erbanlage glaubst, aber das wird sich ändern. Ich habe gesehen, was mit deinem Vater geschah, wie es unserem Großvater erging, und ich sehe, was jetzt mit Onkel Henry geschieht. Theo und Martha, du und ich, wir werden alle zu gegebener Zeit den gleichen Weg gehen. Der Bruder unseres Großvaters war noch ein junger Mann, als er der Krankheit erlag. In den Dreißigern erst.«
«Nein, Colin, ich glaube das einfach nicht.«
«Aber die anderen Pembertons glauben es, und darum haben wir vor langer Zeit beschlossen, diesem Elend ein Ende zu bereiten. Darum haben wir beschlossen, die Familie aussterben zu lassen.«
«Ich verstehe«, sagte ich.»Darum hat also keiner von euch geheiratet?«Er nickte.
«Aber, das ist doch verrückt. Es ist völlig unnatürlich und verstößt gegen den Willen Gottes, nicht zu heiraten und keine Kinder in die Welt zu setzen. Ihr habt kein Recht, euch eine solche Entscheidung anzumaßen.«
«Meinst du? Glaubst du denn, es ist Gottes Wille, daß Kinder geboren werden, die sich eines Tages in Ungeheuer verwandeln wie wir, ihre Eltern? Haben wir das Recht, solche Kinder in die Welt zu setzen? Kannst du, Leyla, ruhigen Herzens ein Kind zur Welt bringen, bei dem du von vornherein weißt, daß es dazu verdammt ist, genauso zu enden, wie dein Vater endete?«
«Den Fluch gibt es nicht!«
«Ich habe nicht erwartet, daß du mir jetzt zustimmen würdest. Aber du wirst deine Meinung noch ändern.«
Ich starrte schweigend ins Feuer, voller Groll plötzlich gegen Colin. Seine Worte hatten mich stark aufgewühlt. Ich wußte nicht, was ich denken sollte.
«Deshalb«, sagte ich schließlich,»war Onkel Henry gegen meine Heirat mit Edward.«
«Ja. Und mit Recht.«
«Nein! Ich heirate, wen und wann ich mag. Colin!«Ich sah ihn mit zorniger Herausforderung an.»Findest du das alles denn richtig?«Er erwiderte meinen Blick und meine Worte mit einem Ausdruck von solcher Traurigkeit, daß ich mich abwenden mußte.»Es muß eine Lösung geben«, erklärte ich grimmig entschlossen.»Und ich werde sie finden. Colin. Colin, du bist genauso kleinmütig wie die anderen, das hätte ich nicht von dir erwartet. Aber ich lasse mir den Mut nicht nehmen. Ich werde kämpfen und beweisen, daß ihr alle unrecht habt. Und ich werde mit Edward zusammen Kinder bekommen, die kräftig und gesund sind und ein ganz normales Leben führen werden.«
Ich hatte geglaubt, er würde mir darauf mit Vorhaltungen antworten und versuchen, mich zu entmutigen, aber er sagte gar nichts, sondern sah mich nur still an.
«Ich werde die Lösung finden«, flüsterte ich etwas weniger kämpferisch.»Gott helfe dir bei der Suche.
Kapitel 10
Ich schlief schlecht in dieser Nacht. Gertrude hatte mir zwar noch einen kleinen Imbiß und eine Tasse Schokolade gebracht, ehe ich zu Bett gegangen war, aber das hatte nichts geholfen. Die Aufregungen des Tages wirkten nach. Als ich schließlich doch eingeschlafen war, hatte Dr. Youngs späte Ankunft mich aus dem ersten Schlummer gerissen, und danach hatte ich Mühe, wieder Ruhe zu finden. Kein Wunder, daß ich mit leichten Kopfschmerzen erwachte, als das erste graue Licht des Tages ins Zimmer fiel.
Es war so kalt, daß ich noch eine Weile unter der Decke liegenblieb. Ich versuchte die Gefühle heraufzubeschwören, die mich am vergangenen Tag im Wäldchen bewegt hatten, aber der Nachmittag war mir so fern, als wären Monate vergangen. Colins Worte waren es, die mich vor allem bewegten, sein ruhiges Hinnehmen eines heimtückischen Schicksals, und vor allem seine und der anderen Entscheidung, keine Kinder mehr in die Welt zu setzen. Es war einfach furchtbar!
Ich stand schließlich doch auf, zog die Vorhänge zurück und blickte in einen grauen, unfreundlichen Tag hinaus. In der Auffahrt standen große dunkle Pfützen, die kahlen Zweige der Eschen und Akazien glitzerten, als wären sie mit Girlanden winziger Diamanten geschmückt. Ein Mädchen kam herauf, um mir beim Ankleiden zu helfen. Sie bürstete mein Samtkleid aus, schnürte mir das Korsett und ordnete die Unterröcke über der Krinoline. Sie half schweigend, ohne mich anzusehen, und ich fragte mich, was die Hausangestellten wohl über diese exzentrische Familie dachten.
Als ich ins Frühstückszimmer hinunterkam, stellte ich mit Überraschung fest, daß ich ganz allein war. Gertrude berichtete mir, daß Anna und Theo bei Henry wachten, dem es zusehends schlechter ging, während Martha es vorgezogen hatte, auf ihrem Zimmer zu bleiben und zu sticken. Colin war schon in aller Frühe ausgeritten.
Nachdem ich meinen Tee getrunken hatte, dem ich gegen die Kopfschmerzen ein wenig Brandy beigegeben hatte, beschloß ich, einen Rundgang durch das Haus zu machen. In London hatte ich immer einen Spaziergang im Hyde Park gemacht, wenn mich Probleme gequält hatten. Ich bildete mir ein, an der frischen Luft klarer denken zu können. Aber da das Wetter an diesem Tag so wenig verlockend war, beschloß ich, meinen Spaziergang ins Haus zu verlegen.
Mein erster Weg führte mich in den Salon. Ich wollte mich ans Klavier setzen und ein bißchen spielen, aber ich war innerlich so ruhelos, daß ich schon nach den ersten Takten wieder aufsprang. Flüchtig inspizierte ich ein paar andere, seltener benutzte Räume im Erdgeschoß; einen weiteren Salon, ein Arbeitszimmer, den Wintergarten, einen Tanzsaal, dessen Lüster von einer dicken Staubschicht blind und grau geworden waren. Meine Schuhe klapperten auf polierten Holzfußböden. Und überall umgab mich die gleiche strenge Stille. Mir war, als spürte ich in allen Räumen den starren Geist meiner Großmutter, die mit harter Hand über diese Familie herrschte und eisern an der Vergangenheit festhielt, als ob sie die Zeit zum Stillstand bringen wollte.
Nach einem ausgedehnten Rundgang durch das Erdgeschoß, wo ich nur ab und zu einem der Angestellten begegnete, die mich jeweils höflich grüßten, kehrte ich in die Bibliothek zurück, die mir in diesem Haus der liebste Raum war. Ich wanderte von Bord zu Bord und las die Titel der vielen Bücher, die sich hier im Lauf der Jahre angesammelt hatten; vielleicht, dachte ich, würde ich auf einen guten Roman stoßen, in den ich mich eine Weile verlieren konnte.
Doch nach einiger Zeit wurde mir kalt und ich ging zum Kamin, um mich aufzuwärmen. Ich richtete den Blick in die Flammen und ließ mich von ihrem Spiel gefangennehmen. Mein Kopf entleerte sich aller Gedanken, und ich trieb in eine angenehme Welt, wo ich an nichts dachte und nichts fühlte. Mein Blick fiel zufällig auf ein Stückchen Papier am Rand des Feuers. Gedankenlos blickte ich darauf, ehe meine Neugier erwachte. Ich beugte mich ein wenig tiefer und sah, daß das Fetzchen von einem Briefbogen stammte, der beschrieben war. Ich bückte mich und hob es auf und las die wenigen noch erkennbaren Worte. Plötzlich traf es mich wie ein Schlag: Was ich da in den Händen hielt, war ein Überrest meines Briefes an Edward.
Eisiger Schrecken packte mich.»Nein!«flüsterte ich.»Lieber Gott, nein!«
Mir zitterten plötzlich die Knie, und ich ließ mich schwer in einen Sessel fallen. Schweiß trat mir auf die Stirn, und die Kopfschmerzen kehrten wieder.
Mein Brief an Edward war abgefangen worden. Jemand hatte ihn gelesen und dann ins Feuer geworfen. Aber wer? Wem hatte das Mädchen, dem ich die Besorgung anvertraut hatte, den Brief gegeben? Ich drückte mir die Hände an die Schläfen. Nur meine Großmutter konnte solche Macht besitzen. Aber, nein. Auch Henry konnte dahinterstecken. Oder Anna. Vielleicht besaß auch Theo genug Einfluß auf die Dienerschaft, um den Leuten befehlen zu können, jegliches Schreiben, das ich abschicken sollte, unverzüglich zu ihm zu bringen. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Dort in den Flammen brannte mein Brief an Edward. Mein Hilferuf hatte ihn nie erreicht. Meine einzige Verbindung zur Außenwelt war einfach abgeschnitten worden. Einer aus meiner Familie hatte den Brief abgefangen, gelesen, was ich geschrieben hatte — o Gott, und was ich alles geschrieben hatte! — und hatte das Schreiben dann vernichtet. Warum?
Die Antwort lag auf der Hand: Der Täter wollte nicht, daß Edward etwas von den Geschehnissen hier erfuhr; wollte nicht, daß er hierher kam; wollte verhindern, daß ich Hilfe erhielt.
Hieß das auch, daß ich in diesem Haus eine Gefangene war? Ich fragte mich, ob die Person, die den Brief vernichtet hatte, auch das Schreiben unter Sylvias Namen abgeschickt hatte. Einer aus meiner Familie — vielleicht auch alle — hatten mich hierher gelockt, um zu erreichen, daß ich dieses Haus niemals wieder verlassen würde, daß ich niemals wieder zu Edward zurückkehren würde.
Natürlich, das war es. Ich stand langsam auf. So war zumindest Henry von Anfang an gegen meine Heirat mit Edward gewesen. Wollten sie etwa, daß ich auch für immer hier blieb, unverheiratet und kinderlos? Aber erklärte das Sylvias Schreiben? Was hätte meiner Familie daran liegen sollen, auch meine Mutter zurückzuholen? Es ergab keinen Sinn. Ich hatte plötzlich rasende Kopfschmerzen; ich wollte nur noch hinauf in mein Zimmer, mich hinlegen und versuchen, endlich Klarheit zu bekommen.
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