Begann auch in meinem Kopf der Tumor schon zu wachsen, oder lag der Keim des Todes noch im Schlaf? Würde er schon bald wuchern wie ein übles Gewächs der Verderbnis, oder würden mir vielleicht noch viele Jahre bleiben, ehe das Schicksal zuschlug?

Und Martha, und Theo. Wieviel Zeit hatten sie noch? Würden sie, wie Sir Johns Bruder Michael, der Krankheit schon in ihren Dreißigern erliegen, oder würde sie es erst später treffen?

Und Colin? Ich begann zu schluchzen. Lieber Gott, auch Colin war verloren; auch in seinem Gehirn keimte der heimtückische Tumor, der ihn eines Tages in den Wahnsinn und in den Tod treiben würde. Colin.

Kapitel 11

Gertrude weckte mich aus tiefem, traumlosem Schlaf. In schwarze Abgründe versunken, hörte ich ihr Klopfen nicht, sondern kam erst langsam zu Bewußtsein, als sie mich sachte schüttelte.

«Miss Leyla«, murmelte sie leise.»Die Familie macht sich Sorgen. Sie sind nicht zum Frühstück gekommen. Möchten Sie zum Mittagessen nicht aufstehen?«

Ich blinzelte verwirrt.»Zum Mittagessen? Wie spät ist es denn?«

«Halb eins, Miss Leyla. Sind Sie krank?«

Ich setzte mich auf. Meine Bettdecke war so glatt, als hätte ich mich im Schlaf überhaupt nicht gerührt.»Nein, nein. Ich bin nicht krank. «Meine Glieder schmerzten, und mein Nacken war steif. Eigentlich hätte ich hungrig sein müssen, aber ich empfand nur Leere, als wäre in mir für immer etwas erloschen.»Ich komme gleich hinunter, Gertrude. Danke.«

Sie zögerte, sichtlich besorgt.

«Wirklich, es geht mir gut. Sagen Sie der Familie, daß ich gleich hinunterkommen werde.«

«Ja, Miss.«

Sie wandte sich zum Gehen, und mein Blick fiel, als ich ihr nachsah, auf das Buch, das neben dem Sofa auf dem Teppich lag.»Gertrude!«

«Ja, Miss Leyla?«

«Wie geht es meinem Onkel?«

Sie drückte beide Hände auf ihren üppigen Busen.»Er ist sehr krank, Kindchen. Sehr, sehr krank.«

«Ach Gott. Danke, Gertrude, daß Sie mich geweckt haben. «Ich wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, ehe ich aus dem Bett glitt und durch das kalte Zimmer zum Waschtisch lief. Während ich mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser wusch und dann trocknete, fiel mein Blick auf das zierliche Fläschchen mit Rosenwasser, das Edward mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Mit Schrecken dachte ich daran, was ich ihm beinahe angetan hätte. Aber er würde verstehen, verstehen müssen, daß ich jetzt nicht mehr seine Frau werden konnte. >. die wir als Gehirnfieber bezeichnen. auf gewisse belastete Familien beschränkt. führt unweigerlich zum Tode.<

Ich öffnete den Flakon und roch daran, um mich mit dem süßen Duft zu füllen. Ich war eine Pemberton, ich war ein Mitglied dieser verfluchten Familie, und darum mußte ich dafür sorgen, daß sie sich nicht fortpflanzte. Ich wollte keinen Sohn gebären, den das gleiche Schicksal erwartete, das mein Vater erlitten hatte; keine Tochter, die leiden würde wie ich jetzt litt. Ich mußte es Edward sagen, ich mußte ihm erklären, daß ich an einer erblichen Krankheit litt und daß es grausam wäre, sie an unschuldige Kinder weiterzugeben. >. die Krankheit ist nicht zu heilen.. <

Ich wußte schon jetzt, wie er die Nachricht aufnehmen würde mit ernster Teilnahme, aber ohne wahrhaftiges Mitgefühl. Edward war stolz auf seine vornehme Erziehung, die ihn Mäßigung in allem gelehrt hatte, und ich wußte, er würde mich mit unbewegtem Gesicht betrachten und so zustimmend nicken, als genehmige er einen neuen Grundriß. Um dieser Eigenschaften willen hatte ich Edward einmal geliebt. Ich hatte seine Objektivität, seine kühle Selbstsicherheit und seine Leidenschaftslosigkeit bewundert. Ich hatte ihn so unglaublich kultiviert gefunden, so höflich und wohlerzogen. Aber jetzt, während ich an dem Rosenwasser roch und mich erinnerte, wie kühl und sachlich sein Heiratsantrag gewesen war, begann ich Edward so zu sehen, wie er wirklich war — steif, langweilig und blasiert.

Ich stellte das Fläschchen nieder und beendete meine Morgentoilette. Dann bürstete ich mein Haar kräftig durch, scheitelte es in der Mitte und flocht es im Nacken zu einem dicken Zopf. Jetzt begann ein neuer Abschnitt in meinem Leben. Mit der, die ich gestern noch gewesen war, hatte ich nichts mehr gemeinsam. Jetzt wußte ich, daß ich hierher gehörte, in dieses Haus, zu diesen Menschen; daß ich kein Recht hatte, ein sogenanntes gewöhnliches Leben zu führen. Jetzt wußte ich, was es hieß, eine Pemberton zu sein.

>. In dem Haus auf dem Hügel, wo Sir Geoffrey und sein Sohn der Krankheit erlagen, leben noch andere Mitglieder der heimgesuchten Familie, die das gleiche Schicksal erleiden werden.. Ich legte mir einen Schal um, ehe ich aus dem Zimmer ging, und warf einen letzten Blick in den Spiegel. >. Denn es ist Gottes Wille, daß der Tumor geboren wird und wächst, daß die Behandlungen der Ärzte nichts gegen ihn fruchten und das Gehirnfieber >oder Pember Town Fieber< sich den geläufigen Arzneien nicht beugt.<

Alle außer Henry waren im Speisezimmer, als ich hinunterkam. Ich spürte sofort die niedergedrückte Stimmung; sie paßte gut zu meiner eigenen. Seit ich die Wahrheit über unsere Familie erfahren hatte, war mir, als wäre jeder Funke von Lebendigkeit in mir erloschen, als wäre von mir nur noch eine leere Hülle ohne Kraft und ohne Gefühl übrig. Ich war nicht traurig und nicht verzweifelt; ich war wie taub. Nur Colin sah auf, als ich mich an den Tisch setzte. Er beobachtete mich aufmerksam, aber sein verschlossenes Gesicht verriet nichts von dem, was in ihm vorging. Ich mied seinen Blick, senkte meinen Kopf und tat so, als sei ich sehr hungrig.

Theo und Anna sahen blaß aus, mit dunklen Ringen unter den Augen. Sie hatten wohl die ganze Nacht bei Henry gewacht, doch völlig außerstande, dem schwer Leidenden irgendwie zu helfen. Martha, den unvermeidlichen Handarbeitsbeutel auf dem Schoß, saß still da und starrte geistesabwesend vor sich hin.

«Geht es dir gut?«fragte Colin schließlich, als uns zum Abschluß der Mahlzeit Kaffee und Biskuits gebracht worden waren.»Danke, ja. Würdest du mir die Kekse herüberreichen, bitte?«Er gab sich unbekümmert, aber seine Sorglosigkeit wirkte unecht, und ich wußte nicht, für wen er sich bemühte. Anna und Theo waren in ihrer Bekümmertheit versunken, und Martha schien völlig geistesabwesend. Wenn Colin sich um meinetwillen so verhielt, war mir unklar, aus welchem Grund.

Er wandte den Blick nicht von mir.»Bist du mir denn böse?«Ich sah ihn erstaunt an.»Wieso sollte ich dir böse sein?«Er zuckte die Achseln.»Du bist so seltsam heute. Du wirkst so distanziert und unzugänglich, daß ich glaubte.«

Ich lachte trocken.»Du bist ganz schön eitel, Colin, wenn du meinst, daß meine Stimmungen von dir abhängen. Nein, mit dir hat das nichts zu tun.«

«Oh. «Er schien enttäuscht.»Dann sag mir doch bitte, was es ist. «Ohne ihm zu antworten, trank ich den letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse nieder. Den Blick ins Leere gerichtet, dachte ich wieder an jene Passage in Thomas Willis’ Buch — diese eine unscheinbare Buchseite, deren kurzer Text mein ganzes Leben mit einem Schlag verändert hatte. Wo ich allenfalls ein paar Worte über eine Krankheit zu finden erwartet hatte, bei der man mit Mühe vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit mit der angeblichen Erbkrankheit der Pembertons entdecken konnte, hatte ich unwiderlegbaren Beweis dafür gefunden, daß das Leiden der Familie Pemberton Tatsache war.»Was denkst du gerade, Leyla?«

Ich schüttelte den Kopf und sah Colin an. Für einen Augenblick glaubte ich Wärme und Teilnahme in seinen Zügen zu erkennen.»Ich habe gerade daran gedacht, wie ich als Kind meine Mutter oft dabei ertappt habe, daß sie mich so ansah, als warte sie auf irgend etwas. Vielleicht wartete sie wirklich — auf die ersten Anzeichen des Wahnsinns.«

«Leyla!«Er beugte sich über den Tisch.

«Und ihr alle hier! Wie ihr mich angestarrt habt am ersten Tag, als ich ankam! Und eure Fragen, ob ich an Kopfschmerzen leide. Jetzt begreife ich das alles.«

«Was sagst du da, Leyla?«

«Ich sage, daß ihr recht hattet. Es gibt die Krankheit wirklich. «Theo fuhr plötzlich herum und sah mich an. Hatte er vielleicht die ganze Zeit nur so getan, als sei er in seinen Kummer versunken? Hatte er in Wirklichkeit aufmerksam zugehört? Es war ohne Belang, und es war mir gleichgültig.

Colin schien ehrlich entsetzt.»Was ist geschehen, daß du deine Meinung plötzlich änderst? Gestern abend warst du noch fest entschlossen, uns alle Lügen zu strafen. Und jetzt, über Nacht, bist du kleinlaut geworden und erklärst uns, daß du plötzlich auch an die Krankheit glaubst. Wie ist es dazu gekommen?«

Ich blickte von Colin zu Theo und wieder zu Colin. Martha, die neben mir saß, hatte eine Stickerei aus ihrem Pompadour genommen und arbeitete still daran. Anna rührte mit leerem Blick in ihrer Kaffeetasse.»Es ist nun einmal geschehen.«

«Und weiter?«bohrte Theo.

«Ich habe endlich begriffen, was es heißt, eine Pemberton zu sein. Ich kann die Vergangenheit jetzt ruhen lassen. Was ihr über meinen Vater erzählt habt, ist sicher wahr. Und ich kann nun auch nicht mehr zu Edward zurückkehren. Jetzt nicht und niemals.«

Meine beiden Vettern schienen erleichtert, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Theo war offensichtlich froh, daß ich meine Bemühungen, meine Erinnerungen wiederzufinden, aufgegeben hatte; Colin hingegen lächelte unwillkürlich, als ich von Edward sprach.»Dann weißt du also von dem Tumor?«fragte Theo.

«Ja. Warum hat keiner von euch mir etwas davon gesagt?«

«Weil wir wünschten, daß du dieses Haus verlassen und dein Leben fortsetzen würdest, als gäbe es uns gar nicht. «Theos Stimme war sanft, aber eindringlich. Sein angespanntes Gesicht wurde weich, als er sich über den Tisch beugte und mit teilnahmsvoller Gebärde meine Hände umfaßte.»Du kamst völlig ahnungslos hierher, Leyla, ohne das geringste Wissen über unsere Familie. Du kanntest nicht einmal die wahre Todesursache deines Vaters und deines Bruders. Wir hatten gehofft, wir könnten es dir verschweigen und du könntest wieder von hier fortgehen, wie du hergekommen warst. Doch du zwangst uns, dir Schritt um Schritt die Wahrheit zu enthüllen. Aber immer noch hofften wir, daß du unverbrüchlich an den Idealen des Guten und der Gerechtigkeit festhalten würdest. Selbst gestern abend, als dir unterstellt wurde, den Ring gestohlen zu haben — was ich nicht einen Moment lang glaubte —, hofften wir noch, du würdest so zornig werden, daß du für immer von hier fortgehen und zu deinem Verlobten zurückkehren würdest.«

Ich nickte langsam, überzeugt von der Wahrheit dessen, was er sagte. Daß jemand mich arglistig mit einem gefälschten Brief in dieses Haus gelockt und versucht hatte, mich hier festzuhalten, indem er mein Schreiben an Edward vernichtete, daran dachte ich gar nicht mehr.»Wenn wir dir bewiesen hätten, daß die Krankheit keine Erfindung ist, wärst du geblieben — wie du dich jetzt, wo du die Wahrheit weißt, zum Bleiben entschlossen hast. Es tut mir in der Seele leid, Leyla, daß deine Heimkehr so unglücklich verlaufen ist. Wir haben das nicht gewollt.«

«Es macht nichts, Theo. Es ist besser, die Wahrheit zu wissen.«

«Dann hast du das Buch gelesen?«

«Ja.«

«Wo hast du es gefunden?«

«Jemand hatte es mir ins Zimmer gelegt. «Beide Vettern sahen mich überrascht an.

«Absichtlich, meinst du?«fragte Colin.»Jemand hat es dir absichtlich hingelegt?«

«Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Es ist mir lieber, daß ich die Wahrheit weiß.«

«Aber das war doch gemein, Leyla. Ohne das Buch hättest du immer noch von hier fortgehen und ein glückliches Leben führen können.«

«Hättest du das denn gewollt? Daß ich die Familie weiterführe, während es dir, Theo und Martha verboten war? Würdest du das nicht gemein nennen, Colin? Derjenige, der mir das Buch hingelegt hat, und ich nehme es ihm nicht übel, hat es mit gutem Grund getan. Er wollte mir zeigen, daß euer Verhalten gerechtfertigt ist und daß die Krankheit tatsächlich existiert. «Mir schnürte sich die Kehle zu, während ich sprach.»Hättest du es denn richtig gefunden, Colin, wenn ich geheiratet und Kinder zur Welt gebracht hätte, während ihr hier ein einsames Leben führen müßt?«

Er sagte nichts, und seine grünen Augen blieben unergründlich, dafür erklärte Theo hastig:»Wir sind nicht so unglücklich mit unserem Leben, Leyla. Keiner braucht uns zu bemitleiden. Wir sind reich und können uns allen Komfort und Luxus leisten.«

«Du hast meine Fragen nicht beantwortet, Colin«, sagte ich,»aber es ist auch nicht so wichtig. Einer von euch, vielleicht auch Tante Anna oder Gertrude oder sogar Großmutter, hat mir das Buch ins Zimmer gelegt. Und aus gutem Grund. «Aus dem Augenwinkel sah ich Marthas flink stichelnde Hände und erinnerte mich ihrer Worte vom vergangenen Abend — daß sie mich um die Möglichkeit beneide, einfach fortgehen und den Mann heiraten zu können, den ich liebte.»Es interessiert mich im Grund gar nicht, wer mir das Buch gebracht hat. Es ist belanglos. Von Belang ist einzig, daß ich die Wahrheit erfahren habe. «Mein Blick fiel auf meine leblosen Hände.»Und dafür bin ich dankbar. «Keiner sagte etwas, und in der bedrückenden Stille war nur das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims zu hören. Schließlich schob ich meinen Stuhl vom Tisch zurück und stand auf.