Nach einer Weile bemerkte er, wie angestrengt ich ihn betrachtete und fragte lächelnd:»Wo sind Sie denn mit Ihren Gedanken, Miss Pemberton?«

«Ich kann einfach nicht glauben«, sagte ich stockend,»daß man so gar nichts für meinen Onkel tun kann.«

«Wenn man etwas tun könnte, Miss Pemberton, dann wäre es schon geschehen, glauben Sie mir. Aber das Gehirn ist ein kompliziertes Organ, über das wir noch sehr wenig wissen. Es gibt kaum anatomische Darstellungen des Gehirns, es gibt kaum Beschreibungen von Krankheitsbildern, die das Gehirn betreffen. Und solange das Gehirn und seine Funktionen nicht gründlich erforscht sind, können wir Ärzte bei Erkrankungen dieses Organs wenig tun.«

«Aber«, warf Theo ein und tupfte sich die Lippen mit seiner Serviette,»es werden ja ständig neue Entdeckungen gemacht. Dieser junge Wissenschaftler in Paris — wie heißt er gleich? — hat endlich die Theorie der Urzeugung widerlegt. Und nach der englischen Entdeckung der Anästhesie eröffnen sich für die Medizin unbegrenzte Möglichkeiten. «Dr. Young lächelte verschmitzt.»Die Anästhesie war eine amerikanische Erfindung, soviel ich weiß, aber Sie haben völlig recht, was Monsieur Pasteur und seine bemerkenswerten Experimente angeht. Wenn man die naturwissenschaftliche Forschung mit der medizinischen vereinen würde, anstatt getrennt zu arbeiten, würden wir wahrscheinlich noch viel schnellere Fortschritte machen.«

«Wie meinen Sie das, Doktor?«

«Ich bin der Auffassung, daß mehr Ärzte auch selbst Forschung betreiben sollten, anstatt sich ausschließlich der Versorgung der Kranken zu widmen. Denn während die Forschung in den anderen Naturwissenschaften große Fortschritte macht, stagniert sie bedauerlicherweise in der Medizin, wo neue Erkenntnisse doch der Menschheit den größten Nutzen bringen könnten. Aber dieses Thema ist für die Damen sicher langweilig. Wir sollten uns etwas von allgemeinerem Interesse zuwenden.«

«Aber nein, Doktor!«protestierte ich.»Mich interessiert dieses Gespräch über den medizinischen Fortschritt sehr. Ich bin ja in ganz direkte Berührung mit dem Tod gekommen, und «

«Sie sprechen wohl von Ihrem Vater?«

«Kannten Sie ihn?«

Dr. Young schüttelte den Kopf.»Ich kam erst vor sechs Jahren nach East Wimsley, nachdem ich beschlossen hatte, mich aus der ärztlichen Praxis zurückzuziehen, oder, genaugenommen, der Hektik der Großstadt zu entfliehen. Ihr Vater wurde von Dr. Smythe behandelt. «Bei diesem Namen kamen mir plötzlich bruchstückhafte Erinnerungen in den Sinn: Der Name Smythe wurde flüsternd gesprochen. Ein korpulenter kleiner Mann, der eilig in das Zimmer meines Vaters geführt wurde. Von drinnen das Schluchzen einer Frau.

Darum also hatte das Zusammentreffen mit Dr. Young keinerlei Erinnerung bei mir ausgelöst. Er gehörte nicht in diese dunkle Vergangenheit.

«— las ich natürlich die Krankengeschichten. «Seine angenehme Stimme holte mich in die Wirklichkeit zurück.»Oh, entschuldigen Sie, Doktor. Ich habe nicht zugehört. «Er lachte nachsichtig.»Ich sagte nur, daß ich, als ich nach East Wimsley kam, selbstverständlich die Unterlagen, die Dr. Smythe mir hinterlassen hatte, durchgesehen habe. Die Krankengeschichten der Pembertons habe ich sehr gründlich gelesen und bekam so Kenntnis von dem Tumor. «Ich senkte die Lider. Dieses Wort Tumor hatte eine tiefe Wirkung auf mich. Dieser Tumor war auch mein Tumor, war auch mein Todesurteil.

Colin schob seinen leeren Teller von sich weg und sagte:»Sind Sie, nach allem, was Sie über die Krankheit unserer Familie wissen, eigentlich je auf eine ähnliche Geschichte gestoßen, Doktor?«

Dr. Young sah einen Moment nachdenklich vor sich hin.»Es gibt natürlich eine Reihe anderer Krankheiten, die in manchen

Familien gehäuft auftreten — Farbenblindheit zum Beispiel, die Bluterkrankheit, Klumpfuß oder Wahnsinn. Aber nie bin ich einem Fall begegnet, der eine so lange Geschichte hat, und ich habe auch nie erlebt, daß alle Familienmitglieder ohne Ausnahme erkranken. Dennoch wundert es mich nicht. Mir sind im Lauf meiner medizinischen Praxis viele unerklärliche Dinge begegnet. Das hat mich gelehrt, niemals überrascht zu sein.«

Wir schwiegen eine Weile. Das Kapitel aus Thomas Willis’ Buch kam mir in den Sinn, in dem er schrieb, daß die Behandlungen der Ärzte gegen das Gehirnfieber oder >Pember-Town-Fieber< fruchtlos und dies auch >Gottes Wille< sei. Und da stellte sich mir plötzlich, trotz dieser keinen Widerspruch duldenden Worte, eine Frage, die ich Dr. Young nur wegen meines großen Vertrauens zu ihm zu stellen wagte:»Glauben Sie denn, Doktor, daß man, obwohl die medizinische Forschung sich so langsam entwickelt, eines Tages ein Mittel gegen den Gehirntumor finden wird?«

«In der Medizin gibt es immer Hoffnung, Miss Pemberton«, antwortete mir Dr. Young mit einem tröstenden Lächeln,»aber ich sagte Ihnen ja schon, wir wissen kaum etwas über die Funktionen und die Krankheiten des Gehirns. Unsere heutigen Ärzte suchen nach einem Heilmittel für die Schwindsucht, sie versuchen, dem Gallenstein und der Blinddarmentzündung beizukommen. An diesen Leiden sterben weit mehr Menschen als an Krankheiten des Gehirns, und wir stehen ihnen immer noch hilflos gegenüber. Wir brauchen Forscher. «Er schüttelt den Kopf.»Irre ich mich, Doktor«, bemerkte Theo,»oder erwähnten Sie nicht einmal, daß Sie nach East Wimsley gekommen sind, um selbst Forschung zu betreiben?«

«Das ist richtig, ja. Das ist auch der Grund, warum ich aufs Land gezogen bin und meine Stadtpraxis aufgegeben habe. Es war ein Glück, daß damals, als ich herkam, gerade der alte

Eichenhof zum Verkauf stand. Dort habe ich Ruhe, bin aber doch nahe genug an der Hauptstraße, um für Notfälle jederzeit zur Verfügung sein zu können. Ich habe dort ein kleines Laboratorium, das sogar mit einem Mikroskop ausgestattet ist. «Theo und Colin, die froh waren, einmal über etwas anderes als Baumwollspinnereien und englische Wirtschaftspolitik sprechen zu können, verwickelten Dr. Young in eine angeregte Unterhaltung, der ich schweigend beiwohnte; ich war zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, um etwas beizusteuern. Ich wollte unbedingt Dr. Young allein sprechen und ihn nach seiner fachlichen Meinung über Thomas Willis’ Befunde fragen. Am liebsten hätte ich ihn sofort ins Verhör genommen und ihn genauer über den Tumor befragt, aber ich wagte es nicht, vor der Familie zu sprechen. Gewiß würde sich zu einer anderen Zeit Gelegenheit ergeben, unter vier Augen mit ihm zu sprechen.

Als Dessert gab es eine Caramelspeise mit Sahne. Ich aß schweigend. Anna, die die ganze Zeit kein Wort gesprochen hatte, entschuldigte sich jetzt, um zu Henry hinaufzugehen. Voller Mitgefühl sah ich ihr nach, als sie müde, mit hängenden Schultern und schleppenden Schrittes zur Tür hinausging. Vielleicht galt meine Anteilnahme auch nicht nur ihr, sondern allen Pembertons, auch mir selbst.

Nach dem Dessert begaben wir uns gemeinsam in den Salon. Die Männer verzichteten, um Martha und mir Gesellschaft leisten zu können, auf ihre Gewohnheit, sich zu einer Zigarre und einem Glas Portwein ins Herrenzimmer zurückzuziehen. Das war wohl der Tatsache zuzuschreiben, daß die Familie unter so starker Belastung stand; denn natürlich blieb keiner von uns von Henrys Leiden unberührt. Seine Qual war ja auch die unsere, und bot einen Ausblick auf das, was eines Tages auch auf uns zukommen würde.

Mit einem Glas Rotwein setzten wir uns alle um den Kamin. Ich gesellte mich zu Dr. Young, der auf einem zweisitzigen Sofa Platz genommen hatte, Colin und Theo ließen sich in zwei Ledersesseln nieder. Martha ging zum Klavier und begann, uns mit einigen leichten Stücken von Chopin zu unterhalten.

In dieser behaglichen Atmosphäre begann ich langsam, mich zu entspannen und freundlichen Träumereien zu überlassen. In den letzten Monaten, seit dem Tod meiner Mutter, war es mir kaum einmal gegönnt, heitere Phantasien zu spinnen. Während Martha, den allgegenwärtigen Pompadour zu ihren Füßen, uns mit ihrem hübschen Spiel erfreute, saß ich in wohliger Zufriedenheit neben Dr. Young.

Angenehm glitt die Zeit dahin, während Martha uns ein Stück nach dem anderen spielte, alle lebhaft und leicht, geeignet, düstere Gedanken zu vertreiben. Als sie nach einer Stunde endlich die Hände von den Tasten nahm, um sich eine Pause zu gönnen, wurde ich mir halb verlegen, halb erschrocken bewußt, daß ich fast die ganze Zeit damit zugebracht hatte, Colin anzusehen.

Sein Profil, das sich vor dem hellen Schein des Feuers scharf umrissen abhob, hatte mir gezeigt, daß ihn etwas bedrückte. Seine Lippen waren fest aufeinander gepreßt, der Unterkiefer gespannt, die geschwungenen Brauen waren gerunzelt. Marthas perlendes Spiel hatte das, was Colin offenbar beschwerte, nicht erleichtern können, und als die Musik aufhörte, hatte ich den Eindruck, daß die Spannung ihn fast zu zerreißen drohte.

Wie seltsam dachte ich, Colins sichtbare Unruhe mit Theos äußerer Gelassenheit vergleichend. Unter den gegebenen Umständen hätte eigentlich Theo es sein müssen, der unter Spannung und Rastlosigkeit litt. Sein Vater war es doch, der oben lag und litt. Doch Theo wirkte eher gelöst und nicht im geringsten beschwert.

Als Colin sich plötzlich umdrehte und mich ansah, merkte ich, wie mir die Röte ins Gesicht schoß. Er sah mich mit seinen grünen Augen so durchdringend an, als wollte er mir die Blicke, die ich in der vergangenen Stunde auf ihn gerichtet hatte, erwidern; als hätte er die ganze Zeit gewußt, daß meine Augen unverwandt auf ihn gerichtet waren. Ich fühlte mich durchschaut, so daß ich nicht wußte, was ich sagen sollte.»Wer spielt jetzt?«fragte Theo.»Leyla natürlich«, meinte Colin.

«Nein, nein, ich habe so lange nicht mehr gespielt. Wirklich. Im Vergleich mit Martha — «

«Spielen Sie nur, Miss Pemberton«, sagte Dr. Young aufmunternd, und angesichts seines freundlichen Lächelns konnte ich es nicht abschlagen. Widerstrebend stand ich auf und ging zum Klavier.»Das wird eine klägliche Vorstellung werden nach deinem Spiel«, sagte ich, während sie sich bückte, um ihren Beutel aufzuheben.»Mein Bruder sagt immer, mein Spiel sei seelenlos«, erwiderte sie.»Vielleicht kannst du es Colin recht machen, Leyla. Ich kann es jedenfalls nicht.«

Ich bemühte mich, Colins Blicke zu ignorieren, dennoch war ich nervös, als ich mich niedersetzte. Es war wirklich schon recht lange her, seit ich das letztemal gespielt hatte, und als ich meine Finger auf die Tasten legte, tat ich es mit der Befürchtung, alles, was ich einmal gekonnt hatte, verlernt zu haben.

Ich begann auch tatsächlich sehr unsicher, zum Teil, weil mir die Übung fehlte, zum Teil, weil ich mir immerzu bewußt war, daß Colin mich beobachtete. Daß er eine solche Wirkung auf mich hatte, beunruhigte mich zutiefst, und ich versuchte, in der Musik meine Befangenheit zu verlieren. Aber es gelang mir nicht. Auch wenn das Beethovenstück meine ganze Aufmerksamkeit verlangte, war mir dabei ständig bewußt, daß ich für Colin spielte und nur für Colin, und daß niemand sonst in diesem Raum für mich existierte.

Als ich >Für Elise< beendete, erntete ich von allen höfliches Lob, aber ich merkte genau, daß Colin mehr von mir erwartet hatte.»Du spielst ausgezeichnet«, sagte Martha.»Viel besser als ich.«

«Danke, Martha, aber da bin ich anderer Meinung. Theo, möchtest du mich nicht ablösen?«

«Ich hatte nie musikalisches Talent. Das Klavierspielen überlasse ich lieber Leuten, die darin begabter sind. Colin, zeig Leyla, was für ein Künstler du bist.«

«Ja, bitte, spiel für uns«, mischte sich Martha ein.»Colin spielt besser als wir alle. Er hat sogar eigene Stücke komponiert.«

Ich stand vom Hocker auf und wartete darauf, daß er meinen Platz einnehmen würde. Als er mit großen Schritten auf mich zukam, versuchte ich, seinem angriffslustigen Blick auszuweichen, aber ich konnte es nicht, und mein Herz begann wieder schneller zu schlagen. Er setzte sich, und ich kehrte hastig zu meinem Platz neben Dr. Young zurück, und richtete meinen Blick starr ins Feuer.

Colins Spiel war wirklich ungewöhnlich. Es war mehr als Musik. Die ganze Leidenschaft seiner Seele kam darin zum Ausdruck. Wie ein Zauberer zog Colin uns in seinen Bann und führte uns aus den tiefsten Abgründen in schwindelnde Höhen, spann uns ein in ein Netz vielfältiger Gefühle. Nie zuvor hatte ich so leidenschaftliche Musik gehört, nie zuvor erlebt, daß ein Mensch sich so völlig preisgab wie Colin das mit seinem Spiel tat.

Und während ich, den Blick weiterhin ins Feuer gerichtet, zuhörte und mich in seinen Bann ziehen ließ, wurde mir auf einmal bewußt, daß ich Colin liebte.

Kapitel 12

Der Morgen war schon nahe, als ich endlich einschlief. Stundenlang hatte ich mich rastlos in meinem Bett gewälzt, aufgewühlt von neuen Gefühlen und Ängsten. Die Geborgenheit Londons war verloren; verloren war auch der Trost von Edwards Liebe und Schutz; auf immer verloren war das strahlende Morgen mit einer Familie und Kindern. Dafür war ich nun in eine Familie aufgenommen, deren Mitglieder samt und sonders zum Wahnsinn verurteilt waren. Dafür hatte ich in mir die hoffnungslose Liebe zu einem Mann entdeckt, der für mich zweifellos nichts als Geringschätzung empfand.