Edward hatte ich fast ein Jahr gekannt, ehe ich mich schließlich in ihn verliebt hatte, und selbst da war es, wie ich nun wußte, nur freundliche Zuneigung gewesen. Ich hatte ihn gemocht, aber Leidenschaft war dabei nicht im Spiel gewesen. Colin hingegen kannte ich gerade sechs Tage, und das Gefühl, das ich ihm entgegenbrachte, war anders als alles, das ich bisher empfunden hatte. Es ergriff mich bis in die tiefsten Winkel meiner Seele, entflammte Leidenschaften, von denen ich nicht einmal gewußt hatte, daß ich sie in mir barg, erschütterte mich so heftig, daß ich gleichzeitig hätte lachen und weinen mögen.

Als ich endlich einschlief, hatte ich wilde, unheimliche Träume. Colin schien meiner Phantasie Flügel gegeben zu haben. Während ich mit schlafendem Auge wundersame Bilder in glühenden Farben sah und von Gefühlen überschwemmt wurde, die bisher brachgelegen hatten, erkannte ich, daß Colin nicht, wie ich zuerst glaubte, einen neuen Menschen aus mir gemacht, sondern nur eine Seite meines Wesens geweckt hatte, die bisher neben meiner vernünftigen Seite hatte zurücktreten müssen. Selbst wenn Colin mir niemals etwas anderes geben sollte, dies hatte er mir gegeben: eine neue, schöne Weise, das Leben zu sehen.

Ich war froh, daß ich beim Frühstück allein war und mich ungestört meinen Gefühlen überlassen konnte — auf der einen Seite der Seligkeit über meine neue Liebe, auf der anderen der Schmerz über das Erbe meiner Familie, das ich annehmen mußte. Es gab keine Zukunft für mich und Colin, selbst wenn er auch mich lieben sollte. Die Krankheit bannte uns wie ein böser Zauber und verbot uns, jemals ein Leben gemeinsam zu führen.

Diese aussichtslose Liebe zu Colin würde mein Geheimnis bleiben, niemand würde je davon erfahren. Ich würde sie immer in mir tragen, mich ihrer freuen und sie hegen, aber niemals würde ich sie auch nur einem einzigen Menschen offenbaren. Das schwor ich mir an jenem grauen, windigen Morgen, als ich wieder zu einem langen Spaziergang aufbrach. Ich hatte wieder Kopfschmerzen, hervorgerufen durch den inneren Aufruhr, und ich hoffte, die frische Luft würde sie vertreiben. Aber als ich aus meinem Zimmer trat und die Tür hinter mir zuzog, sah ich, daß der Tag nicht so angenehm werden sollte, wie ich gehofft hatte.

Martha eilte mit mürrischem Gesicht durch den Flur zu Henrys Zimmer.»Es geht um Theos Ring«, rief sie in Antwort auf meinen Morgengruß.»Großmutter hat die Räume der Dienerschaft durchsuchen lassen und die Angestellten selbst befragt, aber es ist nichts dabei herausgekommen. Jetzt will sie unsere Zimmer durchsuchen.«

«Das ist doch nicht möglich!«

«Doch, und ich finde es ungeheuerlich. Ich wollte, derjenige, der den Ring genommen hat, gäbe ihn endlich zurück.«

«Wieso ist ihr der Ring eigentlich so wichtig?«fragte ich.»Ach, der Ring selbst bedeutet ihr gar nichts; es ist eine Frage des Anstands. Ein Dieb im Haus, das ist für Großmutter unvorstellbar. Sie ist zornig und aufgebracht.«

«Wie geht es Onkel Henry heute morgen?«

«Ich weiß nicht genau. Dr. Young ist über Nacht geblieben und ist jetzt bei ihm. Ich will Tante Anna ablösen, damit sie sich einmal ein wenig ausruhen kann. Sie hat ja tagelang nicht mehr geschlafen. Ach, Leyla, ich finde das alles so furchtbar.«

Mit ihrem Pompadour im Arm und empörter Miene lief Martha weiter. Meine zweiunddreißigjährige Cousine erschien mir in vieler Hinsicht unglaublich kindlich, so verwöhnt und eigensinnig wie ein kleines Mädchen, doch in anderer Hinsicht wiederum benahm sie sich schon wie eine alte Jungfer, so festgefahren in ihren Gewohnheiten, daß sie die geringste Störung übelnahm. Ich sah ihr nach, und fragte mich, ob ich nach sieben Jahren unter diesem Dach genauso sein würde.

Der Spaziergang erfrischte mich, und die Bewegung tat mir gut, aber gegen die Kopfschmerzen half er nicht. Als ich kurz vor Sonnenuntergang heimkehrte, bat ich darum Gertrude, mir mit dem Abendessen etwas Laudanum zu bringen. Niemand von der Familie aß an diesem Abend unten. Anna und Theo wachten bei Henry, dem es sehr schlecht ging. Martha hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Colin war ebenfalls nicht da. Ich ging früh zu Bett und schlief, ein ungelesenes Buch aufgeschlagen auf der Brust, sehr bald ein.

Am Morgen erwachte ich erneut mit Kopfschmerzen. Ich hätte eigentlich beunruhigt sein müssen, aber ich führte die Kopfschmerzen wie zuvor auf die Spannungen und die bedrückende Atmosphäre in diesem Haus zurück und nahm einfach noch einmal etwas Laudanum. Ich streifte fast den ganzen Tag durch den benachbarten Wald, genoß die Freiheit und die Stille der Natur hier auf dem Land und setzte mich am späten Nachmittag mit einer Tasse Tee und einem Buch in mein Zimmer.

Die tiefe Stille im ganzen Haus war drückend und schwer. Es war, als hielt das Haus selbst den Atem an. Die Zeit schien zum Stillstand gekommen zu sein. Unten huschten die Bediensteten leise durch die Räume und sprachen flüsternd miteinander, als fürchteten sie, durch ein lautes Wort ein Gewitter zur Entladung zu bringen. Aus Henrys Zimmer drang kein Laut. In den oberen Korridoren rührte sich nichts. Alles schien zu warten.

Als die Kopfschmerzen nach einer Weile wiederkehrten, bat ich Gertrude, Dr. Young zu mir zu bringen.

Das sachte Klopfen war bezeichnend für den Mann, zurückhaltend und rücksichtsvoll. Ich legte ein Lesezeichen in mein Buch, schloß es und sagte:»Bitte, treten Sie ein. «Gertrude kam zuerst herein. Ihr Blick schweifte rasch und aufmerksam durch das Zimmer, dann wandte sie sich mir zu und musterte mich von Kopf bis Fuß, um sich zu vergewissern, daß ich geziemend gekleidet war, ehe sie dem männlichen Besucher den Weg freigab.»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Doktor«, sagte ich zu Dr. Young, der geduldig hinter Gertrude wartete.

Sie schien mit mir und dem Zimmer zufrieden und trat zur Seite, um Dr. Young vorbeizulassen. Sie schloß die Tür hinter ihm und stellte sich mit gekreuzten Armen und mit wachsamem Blick davor.»Wie geht es Ihnen heute abend, Miss Pemberton?«Die Wärme, die von ihm ausging, schien alle Schatten aus dem Zimmer zu vertreiben, und sein herzliches Lächeln gab mir das Gefühl, bei ihm gut aufgehoben zu sein.

«Beinahe ausgezeichnet, Sir«, antwortete ich.

Dr. Young zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mir gegenüber. Sein Blick war sehr aufmerksam.»Was macht Ihnen denn zu schaffen?«

«Nur ein leichter Kopfschmerz. Es ist eigentlich nichts.«

«Sollten Sie das Urteil darüber nicht lieber mir überlassen?«Er rückte etwas näher zu mir heran und öffnete seine schwarze Ledertasche. Augenblicklich trat Gertrude an meine Seite, als wolle sie die Untersuchung überwachen. Ich war noch nie von einem Arzt untersucht worden, aber während der Krankheit meiner Mutter war ich bei den Arztbesuchen oft genug dabei gewesen, um zu wissen, was ungefähr ich zu erwarten hatte.

Als erstes nahm Dr. Young mein Handgelenk, um meinen Puls zu zählen. Dann sah er sich meine Augenlider an, prüfte die Farbe meiner Ohrläppchen, ließ sich meine Zunge zeigen. Als er danach ein Stethoskop herauszog, war ich beeindruckt. Dr. Young schien einer jener Ärzte zu sein, die sich über den neuesten Stand der Wissenschaft unterrichteten und mit neuen Methoden arbeitete. In London hatte nur einer der Ärzte meiner Mutter ein Stethoskop gehabt.

Dr. Young drückte das lange Rohr aus poliertem Holz auf meine Brust, legte sein Ohr an das offene Ende und sagte:»Bitte tief atmen, und jetzt holen Sie tief Atem und halten Sie die Luft an. Ja, gut. Atmen Sie jetzt wieder aus bitte.«

Dieses Verfahren wiederholte er sechsmal, wobei er das Rohr immer auf eine andere Stelle meiner Brust drückte. Gertrude stand die ganze Zeit wachsam an meiner Seite. Nachdem Dr. Young das Stethoskop wieder eingepackt hatte, stellte er mir eine Reihe von Fragen.

«Sehen Sie gut oder verschwimmen Ihnen manchmal die Gegenstände vor den Augen?«

Die Frage machte mich argwöhnisch.»Ich habe sehr gute Augen«, antwortete ich steif.»Litten Sie in den letzten Tagen an Übelkeit?«

«Nein. «Gertrudes Hand, die während der ganzen Untersuchung auf meiner Schulter gelegen hatte, schien mir jetzt drückend und schwer zu werden.

«Wie steht es mit Ihrem Bewegungsapparat? Ist Ihnen aufgefallen, daß sie irgendwelche Bewegungen nicht richtig machen konnten, haben Ihnen Arme oder Beine einmal den Dienst versagt, oder hatten Sie vielleicht plötzliche Schmerzen in einem Ihrer Glieder?«

«Nichts dergleichen, Doktor.«

«Hatten Sie in letzter Zeit einmal beim Sprechen Schwierigkeiten? Konnten Sie plötzlich die Worte nicht herausbringen? Stotterten Sie oder merkten Sie, daß Sie lallend sprachen?«

«Nein, nichts dergleichen«, sagte ich wieder.

«Gut. «Einen Moment lang sah er zu Gertrude auf, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, dann aber richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich.»Sie sind nicht entspannt, Miss Pemberton. Habe ich irgend etwas gesagt, das Sie beleidigt hat?«

Ich war einen Moment verlegen.»Die Fragen, die Sie mir gestellt haben, Dr. Young«, sagte ich dann,»scheinen mir in eine bestimmte Richtung zu gehen, so als hätten Sie eine bestimmte Vorstellung. «Gertrude neigte sich noch näher zu mir, und ihre Hand wurde noch schwerer auf meiner Schulter.

«Ja, das haben Sie richtig erkannt, Miss Pemberton. Aber Ihre Antworten haben mir gezeigt, daß mein Verdacht falsch war. Ihre Kopfschmerzen sind einzig durch Spannung ausgelöst, sonst nichts. «Seine Stimme war jetzt wieder warm und beruhigend, und Gertrude nahm wie erleichtert ihre Hand von meiner Schulter.»Fürchten Sie, ich hätte den Verdacht, Sie könnten wie Ihr Onkel erkrankt sein? Es tut mir leid, aber wenn ich eine Diagnose stellen will, muß ich fragen. Ich weiß, daß Fragen von einem Arzt beunruhigend sein können. Wenn

Sie eine meiner Fragen mit Ja beantwortet hätten. «Er hielt inne. Sein Blick sagte mir den Rest.

«Ich danke Ihnen, Dr. Young. Ich weiß, daß mein Onkel häufig an Kopfschmerzen litt. Und ebenso vor ihm mein Vater.«

«Ja, ich kenne die Krankengeschichte. Das erstemal suchte ich Ihren Onkel vor einem Jahr auf. Es war überhaupt mein erster Besuch auf Pemberton Hurst. «Er lächelte amüsiert.»In East Wimsley schaudern die Leute, wenn man nur den Namen Ihres Hauses nennt. Sie behaupten, hier spuke es. Hier lebten ein Haufen Wahnsinniger und Giftmischer.«

«So ganz unwahr ist das ja nicht«, sagte ich bedrückt.»Später war ich noch zweimal hier, um Ihrer Cousine Martha etwas gegen ihre Migräne zu geben. «Seine blauen Augen blitzten freundlich.»Was Sie angeht, junge Frau, kann ich Ihnen nur viel Ruhe empfehlen. Und versuchen Sie, sich nicht ständig mit Gedanken an Ihren kranken Onkel zu belasten.«

«Ich habe Laudanum genommen«, sagte ich.

Dr. Young runzelte die Stirn.»Das ist ein Mittel, mit dem bei uns viel Mißbrauch getrieben wird. Die Leute halten es für ein Allheilmittel. Insbesondere die Reichen, die nichts zu tun haben, greifen sehr schnell dazu, um sich die Langeweile zu vertreiben. Sie verurteilen die Armen, die Alkohol trinken, während sie selbst in großen Mengen Laudanum zu sich nehmen. Morphium ist gefährlich, Miss Pemberton, und leider allzu leicht greifbar.«

«Ich werde vorsichtig sein.«

«Gut«, meinte er mit einem leichten Lächeln.»Gut. «Ich sah zu Gertrude auf, die immer noch mit strenger Miene neben mir Wache hielt.»Sie können jetzt gehen, Gertrude. Dr. Young ist fertig.«

«Aber Kindchen«, sagte sie.

Ich lachte und gab ihr einen leichten Puff.»Es ist schon in Ordnung, Gertrude. Keine Sorge.«

Widerstrebend ging sie zur Tür, sichtlich unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte. Mich amüsierte es, sie in ihren Vorstellungen davon, was sich gehörte und was nicht, so erschüttert zu sehen. Als sie in meinem Alter gewesen war, hätte kein Arzt sie anrühren, geschweige denn ihre Brust abhören und ihr persönliche Fragen stellen dürfen. Den Mann jetzt mit mir in meinem Zimmer allein zu lassen, mußte ihr als schlimmster Verstoß gegen Sitte und Anstand erscheinen.

«Ich warte draußen, falls Sie mich brauchen, Miss Leyla. «Mit einem scharfen Blick auf Dr. Young fügte sie hinzu:»Gleich in der Nähe.«

«Danke, Gertrude.«

Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte ich mich wieder Dr. Young zu.»Ich hätte Sie gern einen Augenblick gesprochen, wenn es Ihnen jetzt paßt«, sagte ich.»Aber gern, Miss Pemberton, ich stehe zu Ihrer Verfügung.«

«Ich finde das, was mit unserer Familie geschieht, ganz schrecklich. Es macht mir große Angst. Wieso kann man da überhaupt nichts tun?«

«Die Medizin ist voller Geheimnisse, Miss Pemberton.«

«Ich weiß, aber trotzdem, ich finde es so ungerecht, so grausam, daß wir davon wissen und es dennoch nicht verhindern können. «Er sagte nichts, sah mich nur still und abwartend an.»Ich habe weniger um mich selbst Angst, wissen Sie — «ich krampfte meine Finger ineinander, daß sie wehtaten —»als um die anderen. Ich bin die Jüngste und habe wahrscheinlich noch am längsten Zeit. Aber meine Vettern — Theo ist fast vierzig. Und Martha ist zweiunddreißig. Ich fühle mich so entsetzlich hilflos!«