Wir hörten schon beim Hinaufgehen das heftige Schluchzen Annas. Als wir um die Ecke bogen, hörten wir auf einmal Theos Stimme, ruhig und klar verständlich.
«Bitte Mutter, bleib zurück. Komm nicht näher. Bleib zurück. «Colin blieb stehen und warf mir einen mahnenden Blick zu, ehe er, langsamer jetzt, weiterging. Wir wußten nicht, was sich im Turm abspielte, darum mußten wir uns vorsichtig nähern, um nicht durch unser plötzliches Auftauchen womöglich eine Katastrophe auszulösen. Langsam stiegen wir eine Stufe nach der anderen hinauf, tasteten uns durch die Dunkelheit, während Theos Stimme immer deutlicher zu uns drang.»Bitte bleib genau da, wo du bist, Mutter. Rühr dich nicht. Sag kein Wort. Ich mache das schon. Sei ganz ruhig.«
Endlich waren wir oben und konnten in das kleine Turmzimmer hineinsehen. Auf dem Boden in der Mitte stand eine Öllampe, der Docht ganz herausgedreht, so daß das Licht den ganzen Raum erleuchtete. Anna befand sich der Treppe am nächsten. Ihr Gesicht war kreideweiß und voller Angst, das aufgelöste Haar hing ihr in Strähnen den Rücken hinunter. Im flackernden Licht, das sie von unten beleuchtete, wirkten ihre Züge verzerrt — die Augen weit aufgerissen, die Lippen schmal, die Wangen wie dunkle Höhlen. Im ersten Moment erschrak ich bei ihrem Anblick. Dann sah ich zu den beiden anderen Menschen hier oben, Henry und Theo.
Auf den ersten Blick erkennbar war für mich nur der Sohn. Der Vater in seinem Wahnsinn und in diesem entstellenden Licht wirkte wie ein grauenerregender Fremder auf mich. Mit wild rollenden Augen stand der gepeinigte Mensch an die Wand des Zimmers gedrückt und hielt mit beiden Händen ein großes Fleischermesser vor sich. Der Schweiß strömte ihm über das Gesicht, und die Klinge des Messers blitzte bedrohlich. Wie ein gehetztes Tier schaute Henry bald auf seinen Sohn, bald auf seine Frau.
Theo, blaß und angespannt, ebenfalls im Morgenrock, sah Colin und mich an, ohne auch nur die geringste Reaktion zu zeigen. Sein Vater hatte unser Eintreten nicht bemerkt, und es war wohl besser, wenn wir ruhig blieben und nicht eingriffen.
«Vater, hör mir zu«, sagte Theo ruhig, obwohl wir sehen konnten, daß er trotz der kalten Nachtluft schwitzte.»Du mußt das Messer weglegen. Leg es weg, Vater.«
Henry stieß einen Laut aus, der wie das Knurren eines tollwütigen Tiers klang, und krümmte den Rücken, als wolle er sich auf Theo stürzen. Nichts war vertraut an diesem zähnefletschenden Gesicht. Henry war nur noch ein von blinder Angst getriebener Wahnsinniger, der jede Verbindung mit der Wirklichkeit verloren hatte.
Anna schluchzte auf und preßte sich eine Hand auf den Mund. Die Angst und das Entsetzen in ihren Augen weckten tiefes Mitgefühl in mir.
«Vater, leg jetzt das Messer weg«, sagte Theo ruhig und fest. Doch Henry verzog den Mund nur zu einem höhnischen Grinsen. So also spielte es sich ab, so also hatte mein Großonkel Michael geendet, so mein eigener Vater und mein Großvater. Würden auch Martha und ich auf diese Weise in den Tod gehen?
Theo richtete sich ein wenig auf, sah zu uns herüber und seufzte tief.»Er hat mich mit dem Messer angegriffen«, sagte er leise,»aber zum Glück hat er nicht getroffen. Dann rannte er vor mir weg, und bis jetzt konnte ich nicht an ihn herankommen. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, Colin. Es ist wie damals bei Onkel Robert. Auch damals konnten wir nichts verhindern.«
Colin antwortete nicht. Wachsam stand er da, den Blick auf Henry gerichtet.
«Ist Dr. Young da unten?«fragte Theo.»Er hat doch so eine neue Spritze, mit der man mit einem einzigen Stich das Medikament in den Körper befördern kann. Das wäre der richtige Moment, um sie auszuprobieren.«
«Nein!«sagte ich unwillkürlich. Ich wollte nicht sehen, wie man Henry überwältigte und fesselte wie ein Tier. Er mochte gefährlich sein, er mochte wahnsinnig sein, aber er war ein Mensch und verdiente, menschlich behandelt zu werden.
Beim Klang meiner Stimme sah Henry mich an. In diesem Moment, als er mich mit seinem Blick eines Wahnsinnigen erfaßte, fürchtete ich um mein Leben. Das Messer würde blitzschnell zustechen. Colin und Theo würden ihn vielleicht nicht rechtzeitig zurückhalten können.
Aber im nächsten Augenblick schon geschah etwas Seltsames. Während wir einander ansahen, veränderte sich Henrys Gesicht. Sein Gesichtsausdruck, wenn auch noch immer erschreckend, wirkte auf einmal weicher und sanfter.
«Bunny?«sagte er mit erstickter Stimme.
«Ja, Onkel Henry. «Mit heftigem Herzklopfen stieg ich, ohne zu überlegen, die letzte Stufe hinauf und ging ein paar Schritte ins Zimmer hinein.
«Bunny, du solltest nicht hier sein. Du weißt. du solltest nicht hier sein.«
Henry schien plötzlich bei klarer Vernunft zu sein und genau zu wissen, was mit ihm vorging.»Ich kann nichts dafür«, stieß er schluchzend hervor.»Es sind diese furchtbaren Schmerzen. Ach, Bunny, ich kann diese Schmerzen nicht aushalten. Es ist, als stünde mein ganzer Kopf in Flammen. Die Schmerzen treiben mich zum Wahnsinn. Ich kann nichts dagegen tun. Lieber Gott, hilf mir doch. Laß nicht zu, daß ich das gleiche tue wie mein Bruder.«
Vorsichtig ging ich noch etwas näher zu ihm hin. Ich war mir bewußt, daß alle Augen auf mir ruhten. Ich war mir bewußt, wie steif und verkrampft meine Bewegungen waren, wie groß meine Angst war. Aber mit einem Mut, den ich mir selbst nicht zugetraut hätte, bot ich Henry meine Hand.
«Du wirst nichts Unrechtes tun, Onkel Henry«, sagte ich.»Gib mir das Messer.«
Seine Augen flammten auf.»Ich muß töten«, rief er.»Nur so kann ich den Schmerz beenden. O Gott, diese Schmerzen. «Seine Stimme schallte aus dem kleinen Zimmer weit in die Nacht.»Ich kann nichts dagegen tun!«
«Gib mir das Messer«, wiederholte ich.
Er sah mich wild an, doch ich blickte ihm weiterhin tief und ruhig in die Augen. Dann schob er mir mit einer schnellen Bewegung, bei der ich beinahe aufgeschrien hätte, den Messergriff in die Hand.»Nimm es weg! Schnell!«sagte er heiser.
Ich wich augenblicklich zurück, während Colin und Theo vorwärtsstürzten, um meinen Onkel bei den Armen zu nehmen. Mir zitterten die Knie, als ich mich umwandte, um die Treppe hinunterzusteigen. Zum Glück war plötzlich Dr. Young an meiner Seite, legte mir den Arm um die Schulter und half mir die Stufen hinunter.
Wie ein Trauerzug gingen wir durch die dunklen Flure zurück, Dr. Young und ich voran, dann Henry, der von Colin und Theo gehalten vorwärtstorkelte, zum Schluß die hemmungslos weinende Anna, die von Gertrude gestützt wurde.
Als wir das Schlafzimmer meines Onkels und meiner Tante erreichten, tauschte Colin seinen Platz mit Dr. Young und nahm mich, da ich immer noch schwankte, in den Arm, während der Doktor Henry ins Bett half. Wir blieben an der Tür stehen und Colin nahm mir das Messer aus der Hand und gab es Gertrude. Er sagte kein Wort. Es sprach überhaupt niemand, bis mein Onkel in seinem Bett lag.
Während Anna ihm die Stiefel auszog, und Dr. Young die Spritze vorbereitete, stieß Henry plötzlich einen röchelnden Schrei aus und fiel tief in die Kissen. Wir waren alle wie erstarrt. Der erste, der reagierte, war Dr.
Young. Er umfaßte Henrys Handgelenk und stand ein paar Sekunden lang stumm und schweigend über ihm. Dann sagte er leise:»Henry Pemberton ist tot.«
Anna fiel neben dem Bett auf die Knie und warf beide Arme über Henrys Körper. Dr. Young blieb ruhig an ihrer Seite stehen, während Theo sich wie betäubt in einen Sessel sinken ließ.
Colin zog leise die Tür zu und führte mich weg.»Er hat es hinter sich, der arme Kerl.«
Ja, dachte ich, er hat es hinter sich. Aber uns steht es noch bevor. Als wir mein Zimmer erreichten, drehte Colin sich um, so daß er mich ansehen konnte. Er legte seine Hände auf meine Schultern und sah mich lange schweigend an, ehe er schließlich sagte:»Das war sehr mutig von dir.«»Findest du?«sagte ich nur, immer noch so benommen, daß nicht einmal Colins Nähe, seine Berührung, seine warme Stimme zu mir durchdrangen. Die Empfindungslosigkeit, die mich befallen hatte, seit ich vor vier Nächten Thomas Willis’ Buch gelesen hatte, schien sich durch die Ereignisse dieser Nacht noch verstärkt zu haben. Was ich soeben miterlebt hatte, das hatte ich vor zwanzig Jahren, als kleines Mädchen, unten im Wäldchen schon einmal erlebt. Nur hatte ich in dieser Nacht das Schlimmste gerade noch verhindern können.
«Du hast uns allen viel Schmerz und Kummer erspart«, sagte Colin.»Wir haben dir viel zu verdanken.«
Doch ich war so verwirrt und erschöpft, daß ich mich nur in mein Bett zurücksehnte.
«Gute Nacht, Colin. «Ich wollte mich umdrehen, aber er hielt mich fest.
«Leyla«, sagte er,»du mußt mir etwas sagen.«
«Was denn?«
«Versuchst du gar nicht mehr, dich an früher zu erinnern?«
«Das ist jetzt nicht mehr nötig.«
«Dann glaubst du also, daß dein Vater und dein Bruder so umgekommen sind, wie man dir erzählt hat?«
«Ja. Nach heute abend weiß ich, daß es wahr sein muß. Bitte, laß mich jetzt gehen, Colin.«
Er ließ wortlos meinen Arm los, und ich ging in mein Zimmer und schloß ab. Ich konnte mich mit der Ungerechtigkeit dieses Schicksals nicht abfinden. Ich warf mich völlig verzweifelt auf mein Bett und weinte, bis keine Tränen mehr kamen. Dann zog ich meinen Morgenrock aus und schlüpfte völlig erschöpft unter die Decke. Thomas Willis’ gesammelte Werke lagen auf meinem Nachttisch. Ich nahm das Buch und las mit verquollenen Augen jene schreckliche Seite noch einmal.
Kapitel 13
Mein zehnter Tag auf Pemberton Hurst begann mit schlimmen Kopfschmerzen. In der vergangenen Nacht hatte ich mir, ehe ich eingeschlafen war, noch eine Tasse Tee bringen lassen. Als ich nun lange nach Sonnenaufgang erwachte, merkte ich, daß der Tee mir überhaupt nicht geholfen hatte. Ich hatte schlecht geschlafen und die ganze Nacht wirre Träume gehabt.
Nachdem ich mich gewaschen und mein Trauerkleid aus schwarzem Wollstoff angezogen hatte, setzte ich mich an den Toilettentisch, um mir das Haar zu ordnen. Die Ereignisse der vergangenen Nacht hatten deutliche Spuren in meinem Gesicht hinterlassen. Meine Augen waren ohne Glanz; meine Haut so bleich, daß sie fast grau wirkte. Feuchte Kompressen und Salbe halfen nur ein wenig, so daß ich am Ende aufgab und mich damit begnügte, mir lustlos das Haar hochzustecken. Mit finsterem Blick sah ich mein Spiegelbild an. Mein Kopf dröhnte vor Schmerzen, und ich wartete ungeduldig darauf, daß das Laudanum endlich wirken würde. Gleichzeitig versuchte ich verbissen, mich an einen bestimmten Traum zu erinnern, den ich in der Nacht gehabt hatte. Die anderen, alle äußerst lebhaft und plastisch, waren ohne Bedeutung gewesen, mit gesichtslosen Gespenstern bevölkert, die durch geheimnisvolle Räume geisterten. Aber dieser eine war anders und mir im Moment des Träumens außerordentlich wichtig erschienen, so als handle es sich um eine Botschaft aus den Tiefen meines Unterbewußtseins; doch so sehr ich mich jetzt bemühte, ich konnte ihn mir nicht ins Gedächtnis zurückrufen. Ich erinnerte mich undeutlich, daß er etwas mit dem Tumor zu tun gehabt hatte, und daß ich mich unverzüglich um eine bestimmte Sache, die damit zusammenhing, kümmern mußte. Aber der Traum war jetzt vergessen und ließ sich nicht zurückholen.
Unten im kleinen Salon saß der Pastor bei Anna und versuchte, ihr Trost zuzusprechen, während Theo schweigend ihre Hand hielt. Martha saß zu meiner Überraschung ganz gelassen in einem Sessel und stickte, als wäre nichts geschehen. Ihr Gesicht war zwar blaß und angestrengt, aber sie schien sich einfach in eine eigene, unantastbare Welt zurückgezogen zu haben.
Colin saß drüben im großen Salon am Klavier. Die wilden Klänge schallten durch das ganze Haus. Er spielte mit einer Leidenschaft, als wäre er der zornigste Mensch auf Erden. Ich ging nicht zu ihm, obwohl ich es gern getan hätte. Aber mein Platz war jetzt an der Seite Annas und ihres Sohnes.
«Auf so schreckliche Weise sterben zu müssen!«jammerte Anna, die Hände auf ihr Gesicht gedrückt.»Es ist so ungerecht. So entsetzlich ungerecht.«
Ich sah Theo an. Ich konnte mir vorstellen, wie ihm zumute sein mußte. Wir hatten unsere Väter auf die gleiche Weise verloren, und wir wußten, daß uns ein ähnliches Schicksal bevorstand.
Als Theo auf mich aufmerksam wurde, stand er auf und setzte sich zu mir aufs Sofa. Nach einem Augenblick des Überlegens sagte er:»Ich hatte noch keine Gelegenheit, dir zu danken, Leyla. Du hast mir wahrscheinlich das Leben gerettet.«
Ich dachte an meinen Vater, der meinen Bruder Thomas getötet hatte. Ich stellte mir vor, wie ich, fünf Jahre alt, im Gebüsch gekauert und es mitangesehen hatte.
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