«Ich habe blind gehandelt, Theo, nicht mutig.«

«Trotzdem.«

Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander und lauschten den aufgewühlten Klängen der Musik, die aus dem großen Salon kamen. Ich stellte mir Colin vor, wie er mit wildem Blick und fliegendem Haar am Klavier saß. Ich beneidete ihn um diese Möglichkeit, sich Erleichterung zu verschaffen.

«Vater wird morgen in East Wimsley in der Familiengruft begraben.«

«Da werden auch wir eines Tages enden, Theo.«

«Leyla, alle Menschen müssen sterben.«

«Ja, aber nicht auf so grauenvolle Weise. Dein Vater hatte wenigstens dich als Stütze. Sir John hatte einen Sohn und Enkel, die ihn betrauerten. Wir aber haben uns geschworen, keine Kinder in die Welt zu setzen. Wer wird um uns trauern, Theo? Wenn wir krank werden, und das Fieber uns packt, wer wird uns dann stützen und trösten?«

Ich brach ab. Das Fieber. Thomas Willis hatte darüber geschrieben — was war es nur, was ich nicht zu fassen bekam? Was sich mir so beharrlich entzog? Etwas in dem Traum der letzten Nacht.

In diesem Moment kam Dr. Young ins Zimmer. Er teilte dem Pastor mit, daß Henry jetzt aufgebahrt werden und die Vorbereitungen für die Beerdigung getroffen werden können.

«Ich habe übrigens Mr. Horton in East Wimsley benachrichtigen lassen«, sagte er zu Theo gewandt.»Er kommt heute abend hierher.«

«Danke, Doktor«, antwortete Theo.»Sie sind uns eine große Hilfe. «Dr. Young nickte nur und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf mich.»Mr. Horton wird das Finanzielle mit Ihnen erledigen«, bemerkte Theo, sich auf den Anwalt der Familie beziehend.

Doch Dr. Young reagierte nicht darauf. Seine blauen Augen zeigten einen seltsamen Ausdruck, und er sagte beinahe unhörbar:»Wenn Sie mich in irgendeiner Sache brauchen sollten, können Sie mich zu Hause erreichen.«

«Danke, Doktor«, sagte Theo, obwohl mir schien, als hätte Dr. Young nur mich angesprochen.

«Es ist klug, daß Sie Ihren Vater nicht hier im Haus aufbahren lassen«, bemerkte Dr. Young zu Theo gewandt.»Die Leute von East Wimsley können in der Kirche ebensogut von ihm Abschied nehmen.«

«Das war genau mein Gedanke. Es werden ja sehr viele sein. Die Arbeiter und ihre Familien, die Vertreter der Gemeinde. «Er schüttelte den Kopf.»Unvorstellbar, sie alle hier durch das Haus ziehen zu lassen. «Nein, dachte ich, auf keinen Fall dürfen Fremde in unsere Abgeschlossenheit eindringen. In diese klösterliche Stille und Einsamkeit. Ich stand ruckartig auf. Der Salon wurde mir zu eng, drohte mich zu ersticken.»Ich mache jetzt meinen Spaziergang«, sagte ich.»Gib auf dich acht«, mahnte Theo.

Ein leichter Regen fiel, aber das störte mich nicht. Ich war viel zu tief in Gedanken, um es überhaupt wahrzunehmen. Der Traum der vergangenen Nacht war es, der mich beschäftigte, eine Offenbarung, die mir zuteil geworden war und deren Inhalt ich beim Erwachen vergessen hatte. Im Schlaf war mir der Traum ungeheuer bedeutsam erschienen, und auch jetzt, wo er vergessen war, blieb dieses Gefühl drängend. Er hatte mit Thomas Willis’ Buch zu tun gehabt.

Der Regen tropfte von meinem Hut und rann meine Wangen hinunter. Einzelne Tropfen blieben an meinen Wimpern hängen und verschleierten mir die Sicht. Unablässig kreisten meine Gedanken um die Frage, was es gewesen war, das mir durch den Traum entdeckt worden war. Der Spaziergang half mir nicht zur Lösung des Problems. Nach zwei Stunden unverdrossenen Marschierern durch den Regen konnte ich mich immer noch nicht erinnern. Schließlich mußte ich umkehren, weil mein Umhang und meine Stiefel durchnäßt waren. Durchfroren kam ich im Haus an und beschloß, zum erstenmal ein Bad vor dem Kamin in meinem Zimmer zu nehmen. Danach, erfrischt und aufgewärmt, zog ich ein braunes Samtkleid an, bürstete mein Haar und ging hinunter, um mit der Familie das Abendessen einzunehmen.

Ich trat etwas beklommen, weil ich nicht wußte, was für eine Stimmung mich empfangen würde, ins Speisezimmer und sah mit Erleichterung, daß Colin lächelnd zu mir aufblickte. Er schien sich ausnahmsweise Mühe gegeben zu haben, den allgemeinen Vorstellungen vom eleganten jungen Gentleman zu entsprechen. Sein dunkelgrünes Jackett und die schwarze Hose waren vom neuesten Schnitt, seine Stiefel blank poliert — sein Haar war offensichtlich gekämmt.»Wie geht es dir, Leyla?«fragte er und stand auf.»Ach, ganz gut. Und dir?«

Er ließ mich nicht aus den Augen, während ich durch das Zimmer ging und mich auf meinen Platz neben Martha setzte. Sie nickte nur kurz und vertiefte sich gleich wieder in ihre Stickerei.

«Du siehst jedenfalls heute entschieden besser aus«, stellte Colin fest. Ich dachte daran, wie ich in der Nacht im Morgenrock und mit wallendem Haar durch die Gänge gelaufen war und wurde rot. Theo saß still vor seinem Gedeck und starrte auf den Stuhl, auf dem sein Vater gesessen hatte. Anna war nicht erschienen.

Wir aßen schweigend wie immer, jedoch ohne großen Appetit. Dafür sprachen wir alle dem Wein um so mehr zu — sogar Martha trank zwei Gläser und bekam davon einen roten Kopf.

Gertrude meldete uns, daß Mr. Horton, der Anwalt, eingetroffen sei und im Arbeitszimmer auf uns warte.

Colin begleitete seine Schwester, während ich mit Theo in das Zimmer ging, das ich noch nicht kannte. Es war, nicht unähnlich der Bibliothek, ein behaglicher Raum, in dem es nach dem Leder der schweren Sessel roch, ganz mit dunklen Möbeln eingerichtet. Im Unterschied zur Bibliothek jedoch stand hier ein großer Mahagonischreibtisch mit vielen Fächern und Schubladen, zweifellos der Ort, wo die Geschäfte der Firma Pemberton erledigt wurden.

An diesem Schreibtisch saß ein ungewöhnlich kleiner, schmächtiger Mann, mit glänzendem, kahlem Kopf und schmalen kleinen Augen. In dem großen Sessel hinter dem Schreibtisch wirkte er noch unscheinbarer, aber ich merkte bald, daß die äußerliche Unscheinbarkeit durch einen scharfen Geist mehr als ausgeglichen wurde.

Anna war schon da, in einem schwarzen Seidenkleid und mit einem schwarzen Schleier über dem Haar. Sie sah blaß aus. Steif und kerzengerade saß sie auf dem Rand ihres Sessels. Wir anderen verteilten uns im Halbkreis um den Schreibtisch und warteten.

Mr. Horton war ein Mann, der von höflichem Geplauder nichts hielt. Ohne uns anzusehen, die Augen auf die Papiere gerichtet, die vor ihm lagen, begann er ruhig und sachlich zu sprechen.

«Mr. Theodore Pemberton und Mr. Colin Pemberton, meine Herren, es ist meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß Mr. Henry Pemberton kein Testament hinterlassen hat. Unter diesen Umständen können im Rahmen des Gesetzes verschiedene Schritte unternommen werden — «

«Was soll das heißen, Sir«, unterbrach Theo plötzlich so heftig, daß wir alle zusammenfuhren.»Was soll das heißen, mein Vater hat kein Testament hinterlassen?«

«Eben das, Mr. Pemberton.«

«Ja, natürlich, das habe ich schon verstanden. Aber ich möchte wissen, wieso er kein Testament hinterlassen hat. Ich weiß, daß er eines gemacht hat. Das weiß ich ganz genau.«

«Bei mir hat er es nicht hinterlegt, Sir, und ich betreue nun die Angelegenheiten Ihrer Familie seit zwölf Jahren.«

«Dann muß es im Safe liegen. Ja, er hat es sicher in den Safe gelegt.«

«Da haben wir nachgesehen, Mr. Pemberton. Es ist kein Testament vorhanden.«

Theo, der halb von seinem Stuhl aufgestanden war, setzte sich langsam wieder.»Was sind das dann für Schritte, die man, wie Sie eben sagten, in einem solchen Fall unternehmen kann?«fragte er ruhiger.»Das Gesetz hat für solche Fälle Vorsorge getroffen, um die Erbberechtigten zu schützen. Unser Fall jedoch ist insofern etwas anders gelagert, als der Vorgänger Ihres Vaters, Ihr Großvater also, für die Situation, die jetzt eingetreten ist, vorgesorgt hat. Damit will ich sagen, daß das Testament Ihres Großvaters eine Klausel enthält, die den Nachlaß regelt für den Fall, daß Ihr Vater kein Testament hinterlassen sollte.«

«Und Sie haben eine Abschrift dieses Testaments?«

«Selbstverständlich, Sir. «Mr. Horton raschelte bedeutsam mit den Papieren, obwohl er ihren Inhalt gewiß auswendig wußte. Während wir warteten, musterte ich noch einmal meine Verwandten. Anna hielt geistesabwesend die rotgeränderten Augen auf den Teppich gerichtet. Ich bezweifelte, daß sie auch nur ein Wort von dem, was bisher gesprochen worden war, gehört hatte. Martha strickte, ohne den Kopf von den klappernden Nadeln zu heben. Nur Colin und Theo zollten Mr. Horton ungeteilte Aufmerksamkeit, wobei Theo im Gegensatz zu Colin angespannt und verkrampft wirkte.

«Die betreffende Klausel im Testament Ihres Großvaters bestimmt, daß, für den Fall, daß Ihr Vater, Henry Pemberton, bei seinem Tod kein Testament hinterlassen sollte, das gesamte Vermögen samt allen Ländereien und Gebäuden sowie das Geschäftsunternehmen an seinen Enkel — «Theo beugte sich vor —» — Colin Pemberton fallen soll.«

«Das ist nicht möglich!«rief Theo und sprang auf. Mit einer blitzschnellen Bewegung riß er dem Anwalt das Testament aus der Hand. Colins Gesicht wurde bleich. Sonst zeigte er keine Regung.»Das ist unmöglich!«rief Theo erneut und beugte sich drohend über Mr. Horton.»Davon haben wir nichts gewußt.«

«Es ist völlig rechtmäßig, Mr. Pemberton«, versicherte Horton unerschrocken. Zweifellos waren ihm derartige Ausbrüche von anderen Testamentseröffnungen her bekannt.»Wenn Sie nicht davon wußten, dann nur, weil niemand es für nötig hielt, es Ihnen vorzulesen. Keiner dachte ja daran, daß Ihr Vater sterben würde, ohne ein Testament gemacht zu haben.«

«Sir John scheint sehr wohl daran gedacht zu haben«, fauchte Theo, während er das Papier überflog.

«Bitte, Sir, sehen Sie es sich nur an. Ich kann Ihnen versichern, daß es völlig in Ordnung ist. Da sehen Sie das Datum und darunter mein Siegel.«

Theo las einen Moment schweigend, dann legte er das Dokument auf den Schreibtisch zurück. Der Blick, den er auf Colin richtete, war voller Haß.

«Du — du hinterhältiger Schurke«, zischte er mit zusammengebissenen Zähnen.»Du hast es die ganze Zeit gewußt. Du hast das getan, meinen Großvater gegen uns aufgehetzt, während wir weg waren. Aber glaub ja nicht, daß du damit durchkommst.«

Colin erhob sich. Mühsam die Fassung bewahrend sagte er:»Ich versichere Ihnen, Sir, daß ich davon nichts wußte.«

«Ach was! Natürlich wußtest du es!«schrie Theo ihn an.»Du hinterhältiger, gerissener — «

«Das reicht!«unterbrach ihn plötzlich eine scharfe Stimme.

Wir drehten uns alle dem Kamin zu und sahen zum erstenmal, daß eine sechste Person sich im Zimmer befand. In einem tiefen Lehnstuhl verborgen, der mit dem Rücken zu uns stand, hatte meine Großmutter alles mitangehört.

Allein durch ihre Anwesenheit gelang es ihr jetzt, dem Streit zwischen Theo und Colin ein Ende zu machen. Mit ihren knochigen Händen umfaßte sie energisch die Armlehnen ihres Sessels und richtete sich unsicher auf. Sie war groß und mager. Das schwarze Seidenkleid hing viel zu groß an ihrem Körper. Das schlohweiße Haar stand in hartem Kontrast zu den zornig blitzenden schwarzen Augen.

«Mr. Horton spricht die Wahrheit«, sagte sie kalt.»Bei der Eröffnung seines Testaments vor zehn Jahren habt ihr alle gehört, daß er das gesamte Vermögen seinem einzigen überlebenden Sohn Henry vermacht hatte. Aber er hatte in meinem Beisein eine Klausel angefügt, die die Erbfolge regeln sollte für den Fall, daß Henry ohne Testament sterben sollte — er wußte, wie plötzlich der Tod zu den Pembertons kommt. Nun, und so war es ja auch. Immer schon war es der Wunsch meines Mannes, daß Richards Sohn, nicht Henrys, sein Nachfolger werden sollte. Immer schon wollte er Colin als seinen Erben. Nun ist es so gekommen.«

Ihre Stimme verriet nichts darüber, was sie selber dachte. Ob sie nun die Wahl ihres verstorbenen Mannes guthieß oder nicht, sie zeigte es nicht.

«Ein Fluch lastet auf unserer Familie. Mein Mann ist ihm zum Opfer gefallen. Meine drei Söhne sind ihm zum Opfer gefallen. Und auch meine beiden noch lebenden Enkel werden ihm zum Opfer fallen. «Wenn dies ein Versuch war, unser Mitgefühl zu wecken, so mißlang er. Ihre Stimme war ohne

Wärme, ihr Gesicht so regungslos, daß keiner Mitleid empfinden konnte. Statt dessen war ich zutiefst verwundert über ihre eisige Ruhe, ihre unbeugsame Härte unmittelbar nach dem Verlust ihres letzten Sohnes. Wenn sie trauerte, so zeigte sie es nicht.»Wir werden Sir Johns letzten Wunsch achten«, fuhr sie in gebieterischem Ton fort, und ihre schwarzen Augen richteten sich auf Colin. War das Zorn in ihnen? Haß? Oder war es vielleicht Triumph? Dann wandte sich meine Großmutter dem Anwalt zu.»Mr. Horton?«

Er räusperte sich.»Aus uns unbekanntem Grund versäumte es Henry Pemberton, ein Testament zu machen. Vielleicht war es Nachlässigkeit, vielleicht ein Versehen. Wie dem auch sei, es ist nichts Ungewöhnliches, daß jemand diese Dinge bis zur letzten Minute aufschiebt und ihm das Schicksal dann keine Zeit mehr läßt, seine Angelegenheiten zu regeln. Wie ich schon sagte, im allgemeinen werden dann solche Fälle vor Gericht verhandelt, in unserem besonderen Fall jedoch ist das nicht notwendig. Wir haben eine rechtlich gültige Regelung. «Nach einer kurzen Pause fuhr er fort:»Sir John Pemberton hat auch für die weiblichen Mitglieder der Familie Vorsorge getroffen. Das heißt, für sie wird immer in dem Rahmen gesorgt sein, den sie selbst wünschen, solange sie unter diesem Dach leben. Sollten sie Pemberton Hurst verlassen, so steht ihnen keinerlei Unterstützung oder finanzielle Abfindung zu. «Marthas Nadeln standen einen Augenblick still, und plötzlich herrschte für einen Augenblick erdrückendes Schweigen. Dann, ohne eine Veränderung in Miene oder Haltung, begann sie wieder zu stricken.»Das ist alles, meine Damen und Herren. Eine Abschrift des Testaments liegt hier zu Ihrer Einsichtnahme aus. Wenn Mr. Colin Pemberton im Laufe der nächsten Woche in meiner Kanzlei vorsprechen möchte, werde ich ihn über alle Einzelheiten unterrichten. Gibt es sonst noch Fragen?«»Nein«, antwortete meine Großmutter stellvertretend für alle. Sie maß uns alle noch einmal mit kaltem Blick, dann wandte sie sich um und ging aus dem Zimmer.