Dr. Young sah mich etwas verblüfft an.»Ich sagte Ihnen ja, daß mir von Thomas Willis vor allem seine eigenwillige Rechtschreibung im Gedächtnis geblieben ist. Beim Abdruck seines Werks hat man wohl das falsch geschriebene Fieber übernommen, aber hier auf dieser Seite versehentlich einen Stilbruch begangen und die richtige Schreibung eingesetzt. Das kann am Drucker gelegen haben. So etwas kommt vor. Was ist, Miss Pemberton, das scheint Sie nicht zufriedenzustellen?«
«Ich weiß nicht, Dr. Young, ich kann es nicht genau sagen. Es ist wie eine Vorahnung. Wahrscheinlich ist es vollkommen überflüssig, aber könnten wir uns nicht Ihr Buch einmal ansehen?«
Er zog die Brauen hoch.»Aber sicher, wenn Sie das möchten. Sie werden nur einen Moment Geduld haben müssen. Ich muß es erst heraussuchen — ah, da kommt Mrs. Finnegan mit dem Tee.«
Ich bemühte mich, die argwöhnische Haushälterin mit einem liebenswürdigen Lächeln zu gewinnen, aber sie blieb streng und unzugänglich. Nun ja. Ich würde mir von ihr diesen gemütlichen Nachmittag nicht verderben lassen.
Dr. Young schenkte mir galant den Tee ein, bot mir Biskuits an, plauderte mit mir, und ich lehnte mich in meinem Sessel zurück, genoß die Wärme des Feuers, die Freundlichkeit meines Gastgebers und vergaß für eine Weile sogar Thomas Willis’ Buch.
«Was sagten Sie da eigentlich vorhin von einer Testamentseröffnung, Miss Pemberton?«fragte Dr. Young interessiert.
«Ach, gestern abend kam Mr. Horton, der Anwalt der Familie, und teilte uns mit, daß mein Onkel kein Testament hinterlassen hat. Für diesen Fall hatte jedoch mein Großvater, Sir John, in seinem Testament eine Klausel eingesetzt, die das Erbe regelte. Sonst, sagte Mr. Horton, hätte die Angelegenheit vor Gericht geregelt werden müssen.«
«Ah, ich verstehe. Sir John hatte Vorsorge getroffen.«
«Ja, und Sie können sich nicht vorstellen, was für eine Aufregung es daraufhin gab. Er hat nämlich alles Colin vermacht, und Theo bekommt gar nichts.«
«Wie bitte?«Dr. Young stellte seine Tasse nieder und starrte mich verblüfft an.»Sagten Sie, Colin hat geerbt? Er ist Alleinerbe?«
«Ja, Theo, als der älteste Enkel, hätte wahrscheinlich auch bedacht werden müssen, aber Sir John scheint Colin für den Geeigneteren gehalten zu haben. Oh, wenn Sie erlebt hätten, wie außer sich Theo war. «Ich sah den merkwürdigen Ausdruck auf seinem Gesicht und fragte:»Ist etwas, Dr. Young?«
«Ich finde es nur höchst überraschend. «Er nahm wieder seine Tasse und trank einen Schluck.»Unbegreiflich fast, wenn man bedenkt.«
«Wenn man was bedenkt, Doktor?«
«Wenn man bedenkt, daß Colin gar kein Pemberton ist.«
Ich war fassungslos.»Was?«
«Wußten Sie das nicht? Ihr Onkel Richard heiratete Colins Mutter, als dieser noch sehr klein war. Gerade zwei Jahre alt, glaube ich. Richard adoptierte den Jungen, er ist also von Rechts wegen ein Pemberton; der Geburt nach stammt er jedoch aus einer anderen Familie. Gott, wie war doch gleich der Name?«
«Woher wissen Sie das alles, Doktor?«
«Dr. Smythe war nicht nur ein guter Arzt, sondern auch ein Mann, der akribische Aufzeichnungen, machte. Mir liegen die Geschichten sämtlicher Familien im Umkreis von zwanzig Meilen vor, darunter auch alle Daten über die Pembertons. Wenn ich mich recht erinnerte, heiratete der Bruder Ihres Vaters im Jahr 1825 eine Witwe mit einem kleinen Sohn. Das war Colin. Einige Monate nach der Hochzeit wurde Dr. Smythe ins Haus gerufen, weil die junge Mrs. Pemberton sich unwohl fühlte. Es stellte sich heraus, daß sie ein Kind erwartete. Im selben Jahr wurde Martha geboren.«
Dr. Young berichtete weiter, aber ich hörte nicht mehr zu.»Miss Pemberton?«
Ich blickte verwirrt auf.»Oh, verzeihen Sie, Doktor, ich war ganz in Gedanken.«
Ja, tausend Gedanken waren mir durch den Kopf gegangen. Warum hatte Colin mir nie erzählt, daß er kein Pemberton war und deshalb nicht vom schrecklichen Erbe der Familie bedroht? Ich begriff jetzt, warum Theo so erbittert gewesen war, als er von Sir Johns Regelung des Erbes erfahren hatte. Und jetzt war mir auch klar, warum Colin keine Ähnlichkeit mit uns anderen hatte.
«Die Nachricht scheint Sie sehr getroffen zu haben, Miss Pemberton. Sie sind ganz blaß. Wieso nimmt Sie das so mit?«
Weil ich Colin liebe, hätte ich am liebsten geschrien, und weil die Tatsache, daß er mir nichts gesagt hat, einer Lüge gleichkommt.
«Es — es nimmt mich nicht mit, Dr. Young. Ich bin nur sehr überrascht. Ich dachte Colin sei mein Vetter, ein Blutsverwandter. Aber dem ist nicht so. Und er braucht den Tumor natürlich nicht zu fürchten.«
«Nein, das ist richtig. Wobei mir einfällt — «Dr. Young leerte seine Tasse und stand auf —»wollen wir uns jetzt einmal meine Ausgabe von Cadwalladers Buch ansehen?«
Mit seinem Gespür für andere hatte er gesehen, wie erschüttert ich war, und versuchte nun, mich abzulenken. Ich war ihm dankbar dafür. Ich brauchte Zeit, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß Colin nicht einer von uns war.
Dr. Young blieb nicht lange weg. Jedenfalls schien es mir so. Ich riß mich aus meinen Gedanken, als er sich wieder zu mir setzte, diesmal neben mich, und das Buch auf den Tisch legte.
«So, schauen wir einmal. Das war Seite. «Er warf einen Blick in mein Buch und blätterte dann in seinem.»Da haben wir es schon. Ach nein, stimmt nicht. Falsche Seite.«
Aus dem Augenwinkel sah ich die weißen Seiten flattern, doch vor mir sah ich nur Colins Gesicht. Eigentlich hätte ich froh und glücklich sein müssen, daß er unser Schicksal nicht teilte.
«Augenblick mal«, hörte ich Dr. Young murmeln.»Was ist das denn? Die Seitenzahlen stimmen überein, aber der Text ist ein anderer.«
«Wie bitte?«Ich beugte mich über den Tisch.»Haben Sie in Ihrem Buch die gleichen Fehler?«
«Nein, es ist etwas anderes. Nehmen Sie Ihr Buch, Miss Pemberton, und lesen Sie mir vor, was vor der Passage über die Pemberton Krankheit steht.«»Gut. «Ich nahm das Buch zur Hand und las:»>Es gibt jedoch noch eine andere Fiberkrankheit, die in ihren Symptomen von der Pest abweicht; sie ist nämlich nicht seuchenartiger Natur — <«
«Gut. Das stimmt überein. Jetzt lesen Sie auf der nächsten Seite weiter.«
«Als dieses Fieber das erstemal auftrat, zeigte sich, daß es nicht zu heilen ist und unweigerlich zum Tode führt. Die Geschichte beweist — «
«Halt!«sagte Dr. Young und schob mir wortlos sein eigenes Buch hin. Es enthielt einen ganz anderen Text.»Das verstehe ich nicht.«
«Ich auch nicht. Würden Sie mir bitte einmal Ihr Buch geben, Miss Pemberton?«Dr. Young legte beide Bücher aufgeschlagen nebeneinander, um die Seiten zu vergleichen. Nur mein Buch enthielt die Passage über den Pemberton Tumor.
«Aber die Seitenzahlen stimmen doch überein«, sagte ich verwirrt.»Was ist da passiert? Ich verstehe das nicht.«
Dr. Young nahm mein Buch vom Tisch, drehte es um und sah sich genau an, wie es gebunden war. Plötzlich blickte er auf.»Da haben wir es!«
«Was denn?«
«Die Seite hier gehört gar nicht hinein. Sehen Sie? Man hat die Original sei te, die bei mir noch vorhanden ist, vorsichtig entfernt und durch eine andere ersetzt. Der Originaltext geht dann auf der nächsten Seite weiter.«
«Aber was soll das? Ich verstehe das nicht?«
«Jemand hat die Seiten in diesem Buch ausgetauscht, um die Behauptung der Pemberton Krankheit zu untermauern.«
«Ist das wahr?«rief ich.»Soll das heißen, daß es das Gehirnfieber gar nicht gibt? Daß der Tumor eine Erfindung ist?«
«Nun, Thomas Willis hat jedenfalls nie darüber geschrieben.«
«Dr. Young — «
«Schauen Sie, Miss Pemberton, wenn man genau hinsieht, erkennt man, daß diese Seite nachträglich eingeheftet wurde. Da gibt es für mich keinen Zweifel. Und wenn wir uns das unter meinem Mikroskop anschauen, werden wir es noch genauer erkennen. Aber was mich vor allem an der Sache interessiert, ist die Frage, warum die Seiten ausgetauscht wurden.«
«Warum?«Meine Stimme klang gepreßt.
«Was würden Sie vermuten, Miss Pemberton? Denken Sie in die gleiche Richtung wie ich?«
Mein Blick wanderte zwischen den beiden Büchern hin und her. Jetzt, da ich wußte, worauf ich zu achten hatte, war offensichtlich, daß die Seite mit der Abhandlung über die Krankheit der Pembertons eine Fälschung war. Es war ebenso offensichtlich, daß sie mit großer Sorgfalt eingeheftet worden war, um als echt zu erscheinen. Aber warum die ganze Mühe?» Nein, Doktor, ich habe überhaupt keine Erklärung. Ich bin nur völlig durcheinander.«
«Ich muß zugeben, mir geht es ähnlich. Derjenige, der diese Seite ausgetauscht hat, war ein Künstler oder zumindest ein Mensch, der sehr aufs Detail achtete. Diese Abhandlung ist, abgesehen von dem Versehen, daß das mit dem Wort Fieber passiert ist, eine hervorragende Fälschung. Willis’ Stil ist beibehalten, der Druck ist identisch, selbst das Papier scheint das gleiche zu sein. Irgendwer wollte der Geschichte von der Erbkrankheit eine feste, unerschütterliche Grundlage geben und suchte sich als Mittel dazu Thomas Willis’ Buch aus. Mit anderen Worten, es scheint, daß die Pemberton Krankheit aus irgendeinem Grund von jemandem erfunden wurde, der dann keine Mühe scheute, Beweise dafür zu erdichten, die alle Welt überzeugen mußten.«
«Aber das ist doch unmöglich! Wenn Ihre Theorie zutrifft, und es gar keinen Tumor gibt, woran sind dann mein Vater, mein Großonkel und mein Großvater gestorben?«Ich hielt einen Moment inne und sah Dr. Young erschrocken an. Ich sah ihm an, daß er die gleichen Gedanken hatte wie ich.»Woran ist denn mein Onkel Henry gestorben?«
«Miss Pemberton«, sagte Dr. Young und legte mir leicht die Hand auf den Arm.»Gestatten Sie mir, daß ich Sie ein Weilchen allein lasse. Ich möchte in meinem Laboratorium eine Untersuchung vornehmen. Ist Ihnen das recht?«
«Ja, natürlich, aber — «
«Ich werde Ihnen nachher alles erklären, falls sich als wahr herausstellen sollte, was ich vermute. Sollte ich mich geirrt haben, so werden Sie weiterhin an die Existenz des Tumors glauben müssen. Sind Sie damit einverstanden? Ich bleibe nicht lange weg, und Sie können jederzeit Mrs. Finnegan läuten, wenn Sie etwas brauchen.«
«Ja.«
Stocksteif saß ich da und sah ihm nach, als er hinausging. Ich mußte ihm jetzt vertrauen. Ganz gleich, was er jetzt dort unten in seinem geheimnisvollen Laboratorium tat, ganz gleich, welche Antwort er mir zurückbringen würde, ich würde sie bedingungslos annehmen dürfen.
Der Regen war stärker geworden, und das Feuer mußte in der folgenden Stunde mehrmals von Mrs. Finnegan geschürt werden, aber mir wurde die Zeit nicht lang. Ich war in Gedanken bei Colin, den ich liebte, trotz seiner Launen und seiner unberechenbaren Stimmungen. Ich liebte ihn immer noch, obwohl er mir nicht die Wahrheit über sich gesagt hatte. Er mußte einen guten Grund dafür gehabt haben, sonst. Als Dr. Young zur Tür hereinkam, fuhr ich zusammen und bekam beinahe einen Schrecken bei seinem Anblick. Das war nicht mehr der elegante alte Herr, der mich empfangen und bewirtet hatte. Er hatte den grauen Gehrock abgelegt und stand in Hemdsärmeln, wie ein Arbeiter, vor mir. Und auf seiner Weste waren zu allem Überfluß auch noch undefinierbare Flecken. Aber noch mehr als sein Aussehen erschreckte mich der Ausdruck seines Gesichts. Es verriet unverkennbar tiefes Entsetzen.
Ich sprang auf.
«Miss Pemberton«, begann er stockend.»Bitte setzen Sie sich.«
«Was ist denn?«
«Bitte, ich — «Er kam durch das Zimmer auf mich zu und nahm meine Hände.»Miss Pemberton, bitte setzen Sie sich. «Wir setzten uns beide auf das Sofa. Er ließ meine Hände nicht los.»Wie Sie wissen«, begann er,»habe ich mich hierher aufs Land zurückgezogen, um in Ruhe meiner Forschungsarbeit nachgehen zu können. Ich kann mir vorstellen, daß Sie über wissenschaftliche Forschung nicht viel wissen, lassen Sie mich darum nur sagen, daß man zu solcher Arbeit ein Laboratorium, gute Geräte, bestimmte Chemikalien und gewisse — andere Substanzen braucht. Bei meiner Forschungsarbeit brauche ich insbesondere menschliches Blut, um die notwendigen Untersuchungen und Versuche durchführen zu können. Mit meinen Chemikalien — ach, es ist ein kompliziertes Verfahren, Miss Pemberton, bei dem ich mit dem Blut gesunder und dem Blut kranker Personen experimentiere, weil ich hoffe, auf diesem Weg der Ursache und dem Wesen bestimmter Leiden auf die Spur zu kommen. Denn erst wenn diese mir bekannt sind, kann ich vielleicht ein Heilmittel entwickeln. Es ist nicht einfach, die für meine Untersuchungen nötigen Blutproben zu bekommen. Im Rahmen des neuen Post Mortem-Gesetzes kann ich mir zwar aus den Londoner Krankenhäusern Blut liefern lassen, aber es kommt in der Regel in schlechtem Zustand hier an. Darum bemühe ich mich, auch hier an Ort und Stelle Blutproben zu bekommen, von den Spinnereiarbeitern zum Beispiel, die ich wegen eines Unfalls oder einer Krankheit behandle. Nach dem Tod Ihres Onkels, Miss Pemberton, erlaubte ich mir, Ihre Tante zu fragen, ob ich eine Blutentnahme vornehmen dürfte, und sie war so liebenswürdig, es mir zu gestatten. Ich hatte also in meinem Laboratorium in einem mit Äther gekühlten Behälter eine Phiole mit Blut Ihres Onkels. «Er hielt einen Moment inne.
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