«Bitte fahren Sie fort, Dr. Young«, sagte ich ruhig.»Ich falle nicht in Ohnmacht.«

«Gut. Als wir vorhin miteinander sprachen, stellten Sie eine durchaus berechtigte Frage. Woran ist Ihr Onkel gestorben? Dabei kam mir der Gedanke, daß ich das bei mir vorrätige Blut untersuchen könnte. «Ich drückte mir die Hand auf die feuchte Stirn.»Bitte, Dr. Young, sagen Sie mir doch, was Sie gefunden haben.«

«Ihr Onkel, Miss Pemberton, ist nicht an einem Gehirntumor gestorben.«

Ich sah den Mann, der immer noch fest meine Hände hielt, ungläubig an. Das Zimmer schien mir zu schwanken, und mir wurde plötzlich unerträglich heiß.

«Er ist nicht an einem Gehirntumor gestorben?«wiederholte ich benommen.»Onkel Henry ist nicht an einem Gehirntumor gestorben? Aber — aber wissen Sie dann, Doktor, woran er wirklich gestorben ist?«

«Ja. Und es gibt keinen Zweifel an meinem Befund. Erinnern Sie sich unseres Gesprächs in Ihrem Zimmer, als wir über die Symptome Ihres Onkels sprachen? Ich sagte Ihnen damals, daß sie völlig atypisch seien. Jetzt weiß ich, warum das so war. Kopfschmerzen, Übelkeit, Leib schmerzen, Delirium und Schüttelkrämpfe gehören zum Krankheitsbild eines Leidens, das von völlig anderer Art ist als ein Gehirntumor. Und hätte ich in meiner Praxis mehr Umgang damit gehabt, so hätte ich es viel eher erkannt. Ich habe zu bereitwillig die Diagnose des Gehirntumors akzeptiert.«

«Bitte sagen Sie mir, Doktor, was Sie entdeckt haben.«

«Miss Pemberton, das Blut Ihres Onkels enthielt eine hohe Menge Digitalis. Extrakt des Fingerhuts. Da ich selten mit Patienten zu tun hatte, die an Herzkrankheiten litten, bin ich den Symptomen, die für eine Digitalisvergiftung so typisch sind, auch selten begegnet. Aber wenn ich jetzt zurückblicke, die Kopfschmerzen, die Übelkeit — «

«Dr. Young! Warum hat mein Onkel dieses Medikament genommen?«

Einen Moment lang sah Dr. Young mich schweigend an, dann antwortete er ernst:»Die Mengen Digitalis, die Ihr Onkel im Blut hatte, dienten nicht der Behandlung eines Herzleidens. Man hat ihm das Mittel gegeben, um ihn zu vergiften. «Mir wurde eiskalt.»Man hat ihn vergiftet?«

«Ja. Die Medizin wurde ihm in zunächst kleinen Mengen eingegeben, die langsam gesteigert wurden, und er versuchte, sich mit Laudanum von den Symptomen zu befreien. Es ist schwer zu sagen, was ihn letzten Endes tötete — das Digitalis oder das Morphium. Sein Blut enthielt große Mengen von beidem.«

«Und Sie sagen, es wurde ihm eingegeben?«

«Er hat es zweifelsohne nicht selbst genommen. Digitalis ist ein Herzmittel, und Ihr Onkel hatte am Herzen keinerlei Beschwerden. Das hätte er mir sonst gewiß gesagt, als ich ihn das erstemal untersuchte. Im übrigen enthalten auch Dr. Smythes Aufzeichnungen keinen Hinweis auf ein Herzleiden Ihres Onkels.«

«Sie glauben also, daß mein Onkel ermordet wurde.«

«Ja, Miss Pemberton, das glaube ich.«

Fassungslos sank ich in mich zusammen. Mir war, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Erst die Sache mit Colin, dann das Buch, dann Henry. Mein Kopf begann wieder zu schmerzen.»Wir müssen zur Polizei gehen, Miss Pemberton.«

«Zur Polizei?«

«Ich werde Ihnen beistehen. Wir haben unumstößliche Beweise, daß Ihr Onkel ermordet wurde — «

«Nein!«sagte ich hastig.»Was könnte denn die Polizei schon tun? Soll sie vielleicht die ganze Familie verhaften? Man würde lediglich einen nach dem anderen verhören, und dann alle wieder gehen lassen. Und dann wären wir beide in Gefahr, Dr. Young, Sie und ich. «Noch während ich sprach, kam mir ein neuer Gedanke.»Dr. Young, Sie sagten neulich bei unserem Gespräch, daß Dr. Smythes Aufzeichnungen zufolge, mein Vater und mein Großvater auf die gleiche Weise erkrankten wie mein Onkel.«

«Ja, das ist richtig.«

«Dann müssen sie auch ermordet worden sein. «Ich richtete mich kerzengerade auf.»Dann hatte ich also die ganze Zeit recht. Mein Gefühl hatte mich nicht getrogen. Mein Vater wurde tatsächlich ermordet.«

«Ich kann das nicht beurteilen, Miss Pemberton. Ich kann nur zum Tod Ihres Onkels aussagen. Die anderen — das liegt in der Vergangenheit. Dahin können wir nicht mehr zurückkehren.«

Ich kniff die Augen zusammen.»O doch, das können wir!«erklärte ich beinahe triumphierend. Es gab einen Weg, in die Vergangenheit zurückzukehren und zu sehen, was damals wirklich geschehen war. Der Weg führte über die Erinnerungen eines kleinen Mädchens namens Leyla Pemberton.

«Meiner Ansicht nach gehen Sie mit dieser Geschichte nicht richtig um, Miss Pemberton. Wenn Sie jemanden aus Ihrer

Familie des Mordes verdächtigen, sollten Sie sich an die Polizei wenden. Sie dürfen diese Sache nicht selbst in die Hand nehmen. Das ist zu gefährlich. Miss Pemberton, bitte, gehen Sie zur Polizei. Ich müßte sonst bedauern, Sie eingeweiht zu haben.«

«Ich wäre der Wahrheit früher oder später sowieso auf die Spur gekommen, Dr. Young. Wenn nicht durch Ihren klaren Beweis durch das Blut, dann doch aufgrund von Mutmaßungen über die gefälschte Buchseite. Die Tatsache, daß der Tumor Erfindung ist, führt doch zwangsläufig zu der Frage, woran mein Onkel denn wirklich gestorben ist. Und ob nicht die Person, die die gefälschte Seite einfügte, den Tod meines Onkels wünschte oder gar herbeiführte. Ungewiß ist nur, wer es tat und warum. Die gefälschte Seite muß vor langer Zeit gedruckt worden sein, vielleicht schon vor dem Tod meines Vaters. Ich verstehe das nicht. Derjenige, der ihn und meinen Großvater getötet hat, muß auch Onkel Henry getötet haben. Das geht aus der Todesart klar hervor. Hat die Polizei dafür nicht ein bestimmtes Wort?«

«Modus operandi«, antwortete Dr. Young und schüttelte resignierend den Kopf.

«Ich muß nachdenken. Ich bin völlig durcheinander. Wer, um alles in der Welt, kann Onkel Henrys Tod gewünscht haben? Und warum? Zu welchem Gewinn? Ganz gewiß nicht Anna und Martha. Sie haben durch seinen Tod nichts gewonnen. Es heißt immer, Gift wäre die Waffe der Frau. Wenn das stimmt, wer von den Frauen in unserer Familie hatte dann einen Grund, Onkel Henry zu töten? Etwa seine eigene Mutter, meine Großmutter? Oder könnte es eines der Mädchen gewesen sein, das einen Groll gegen ihn hegte? Oder Theo und Colin? Was hatten sie zu gewinnen — «

Das Wort blieb mir im Hals stecken, und Dr. Young hob mit einem Ruck den Kopf.

«Colin!«rief er.»Der hatte in der Tat etwas zu gewinnen und nichts zu verlieren.«

«Dr. Young!«

«Etwa nicht? Das gesamte Vermögen der Pembertons. Die Fabriken und das Haus.«

«Nein! Nein!«rief ich.»Das glaube ich nicht. Niemals. «Er versuchte, mich zu beruhigen, indem er wieder meine Hände umfaßte.»Ich habe den Eindruck, Miss Pemberton, daß Sie für Colin mehr empfinden als verwandtschaftliche Neigung. Aber diese Gefühle dürfen Ihren klaren Blick und Ihr Urteil nicht trüben. Sie mögen ihn lieben, aber das heißt nicht, daß er des Mordes nicht fähig ist. Haben Sie mich verstanden, Miss Pemberton?«

«Aber es wußte doch niemand, daß es kein Testament von Henry gab«, sagte ich leise.»Theo war sogar sicher, daß sein Vater eines gemacht hatte. Alle glaubten das. Und da Theo ganz bestimmt ein großes Erbe erwartete, könnte man ebensogut annehmen, daß er den Mord begangen hat. Wenn Sie hätten sehen können, wie außer sich er gestern abend war, als er erfuhr, daß er nichts bekommen würde! Und Colin behauptet, von Sir Johns Testament keine Ahnung gehabt zu haben!«

Ich sah Dr. Young beschwörend an. Nein, ich wollte es nicht einmal denken. Colin war unschuldig. Ganz bestimmt. Am vergangenen Abend hatte er immer wieder erklärt, nichts davon gewußt zu haben, daß Henry kein Testament gemacht und Sir John verfügt hatte, daß er zum Alleinerben eingesetzt werden sollte.

«Außerdem«, sagte ich mit festerer Stimme,»glaube ich, daß alle drei Morde von derselben Person begangen wurden: Mein Vater, Sir John und mein Onkel Henry. Und wenn das zutrifft, kann es Colin gar nicht gewesen sein. Er war zu der Zeit, als mein Vater ums Leben kam, gerade vierzehn.«

Dr. Young schwieg nachdenklich. Dann sagte er zu meiner Erleichterung:»Da haben Sie recht. Das spricht gegen Colins Schuld. Wenn er die Wahrheit sagt und wirklich nicht wußte, daß Ihr Onkel kein Testament gemacht hatte, dann ist der Verdacht, daß Theodore der Schuldige ist, in der Tat nicht von der Hand zu weisen. Er war damals, als Ihr Vater starb, immerhin achtzehn Jahre alt, rein körperlich des Mordes durchaus fähig.«

Ich fühlte mich schwach und elend. Wie schrecklich war das alles! Hier saß ich in diesem behaglichen Wohnzimmer, meine Röcke über dem weichen Sofa ausgebreitet, vor mir Tee und feine Biskuits und versuchte, mir vorzustellen, wer von meinen Verwandten ein Mörder war. Dr. Young, der wohl spürte, was in mir vorging, sagte:»Hätte ich gewußt, was für Enthüllungen dieser Nachmittag bringen würde, ich hätte Ihnen Brandy statt Tee angeboten.«

Ich lächelte, dankbar für sein Verständnis und dankbar dafür, daß er da war. Hätte ich all diese Entdeckungen allein gemacht, so wären sie noch viel schwerer zu ertragen gewesen.»Was haben Sie jetzt vor, Miss Pemberton?«

«Das weiß ich selbst noch nicht. Ich muß auf jeden Fall sehr vorsichtig sein und mir alles gründlich überlegen. Ich bin überzeugt, daß einer meiner Verwandten ein Mörder ist, und ich bin fest entschlossen herauszufinden, wer.«

Nun stand ich wieder ganz am Anfang. Die vergangene Woche war ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben. Es war wieder wie am dritten Abend nach meiner Ankunft auf Pemberton Hurst, als ich am großen Tisch im Speisezimmer stand und erregt rief:»Ich glaube, daß der Pemberton-Fluch eine Erfindung ist, ein Schauermärchen, das jemand sich ausgedacht hat, um meinem Vater die Schuld zuzuschieben und den wahren Mörder zu decken!«

Der Beweis aus Thomas Willis’ Buch hatte jetzt keine Bedeutung mehr, da er nun als Lüge enttarnt worden war. Die alte Entschlossenheit erwachte wieder in mir. Die alte Wut und die alte Bitterkeit kehrten dahin zurück, wo eben noch Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und Ergebenheit in die Macht des Schicksals gewesen waren.

Und noch etwas regte sich in mir; etwas Neues, das vorher nicht dagewesen war. Es war Zorn, rasender Zorn darüber, daß durch einen gemeinen Betrug alle Freude und alles Glück aus diesem Haus vertrieben worden waren. Diese eine Seite in Cadwalladers Buch hatte einer ganzen Familie die Hoffnung und die Zukunft genommen. Diese niederträchtige Fälschung hatte Colin, Martha und Theo dazu getrieben, ein einsames Leben zu führen, ein Leben ohne Liebe, ohne Kinder und ohne Zukunft. Sie hatte meine Familie aller Kraft beraubt.

Darum war ich um so fester entschlossen, das Geheimnis von Pemberton Hurst zu lüften.

«Miss Pemberton, draußen ist es schon dunkel geworden«, hörte ich Dr. Youngs gedämpfte Stimme.

«Mir geht so viel durch den Kopf, Dr. Young. Ich muß das alles erst einmal ordnen. «Meine Gedanken überschlugen sich: Tante Sylvias Brief, Theos Ring, die Vernichtung meines Briefes an Edward. Edward, an den ich seit Tagen nicht mehr gedacht hatte. Die alten Fragen stürzten wieder auf mich ein. Wer hatte den Ring gestohlen und warum? War er gestohlen worden, weil er mit den Vorkommnissen im Wäldchen zu tun hatte? Und was war wirklich im Wäldchen geschehen? Wie sollte ich es schaffen, mir ins Gedächtnis zu rufen, was sich an jenem Tag vor zwanzig Jahren dort abgespielt hatte? Wer hatte meinen Brief an Edward verbrannt? Wer hatte meiner Mutter unter dem Namen Tante Sylvias geschrieben?

Ich spürte die Berührung einer Hand auf meinem Arm. Ich hörte eine freundliche Stimme, die behutsam auf mich einsprach, aber ich achtete nicht auf ihre Worte.

Ich zitterte innerlich vor Zorn. Dieser Mörder hatte nicht nur drei Menschen umgebracht, er hatte auch den Lebensmut der Pembertons getötet. Arme Martha! Armer Colin, zornig und bitter. Arme Großmutter, die schon vor ihrem Tod wie in einer Gruft lebte. Und arme Mutter, die in dem Elendsviertel von Seven Dials ein Leben in Armut gefristet hatte, weil sie geglaubt hatte, ihre Tochter sei das Opfer einer bösartigen, heimtückischen Krankheit. Soviel Elend und soviel Unglück durch einen einzigen verbrecherischen Menschen, der sich die Geschichte von der Erbkrankheit der Pembertons ausgedacht hatte.

Die leise Stimme drängte von neuem. Der Sturm des Zorns legte sich, und ich sah endlicher. Young ins Gesicht.»Verzeihen Sie«, sagte ich leise.

«Sie machen ein so seltsames Gesicht, Miss Pemberton. Sagen Sie mir doch, warum Sie das alles auf sich nehmen wollen.«

«Weil ich in gewisser Weise die Verantwortung trage. Ich bin eine Außenstehende; ich habe nicht jahrelang in klösterlicher Zurückgezogenheit gelebt wie die anderen. Ich allein kann die Ereignisse mit objektivem Blick sehen und der Wahrheit auf den Grund gehen. Die anderen werden es nicht tun.«