«Und Martha?«

«Sie war damals erst zwölf, Leyla.«

«Und was ist mit Großmutter?«

«O ja, sie dürfen wir nicht vergessen. Sie ist eine harte Frau, und ich könnte mir denken, daß sie unter gewissen Umständen vor einem Mord nicht zurückschrecken würde. Aber warum sollte sie ihre eigenen Söhne töten? Alle drei? Sie liebte deinen Vater sehr, das wußte jeder. Und sie hatte auch deine Mutter gern. Großmutter wünschte, daß das Erbe gleichmäßig zwischen ihren drei Söhnen aufgeteilt werden würde. Ich kann da keinen Grund sehen, auch wenn wir sie natürlich nicht außer Acht lassen können.«»Mein Gott, Colin, wer kann es nur gewesen sein?«fragte ich.»Ja, wer kann es gewesen sein, Leyla? Und was ist der Grund für die Morde?«

«Ich wollte, ich könnte mich erinnern.«

«Geh noch einmal ins Wäldchen, Leyla. Geh bald, ich bitte dich. Ich habe große Angst um dich.«

Er kam zu mir und nahm mich wieder in seine Arme. Den Kopf an seinem Hals, wünschte ich aus tiefster Seele, daß dieser Alptraum endlich enden möge, damit ich mein gemeinsames Leben mit Colin beginnen konnte. Und es gab für mich nur einen Weg, dem Alptraum ein Ende zu bereiten: Noch einmal das Wäldchen aufsuchen.

Kapitel 14

Nach einer fast schlaflosen Nacht war ich froh, als endlich das erste graue Licht in mein Zimmer fiel. Aufgeregt und ungeduldig begrüßte ich den neuen Tag, dessen Beginn ich kaum erwarten konnte und vor dem ich gleichzeitig so große Angst hatte.

Colin vor allem galten meine Gedanken, den Stunden, die wir oben im dunklen Turmzimmer miteinander verbracht hatten. Während ich aus dem Fenster in das kalte Grau des Morgens hinausblickte, gab ich mich schönen Erinnerungen hin, an seinen Kuß, seine leidenschaftliche Umarmung, die Worte, mit denen er mir seine Liebe erklärt hatte. Nur Stunden war es her, daß wir uns getrennt hatten, aber mir schien es eine Ewigkeit zurückzuliegen.

Beim Ankleiden dachte ich daran, was ich mir für diesen Tag vorgenommen hatte. Noch einmal würde ich heute ins Wäldchen zurückkehren und versuchen, mir die Geschehnisse ins Gedächtnis zu rufen, deren Zeugin ich vor zwanzig Jahren geworden war. Diesmal jedoch würde es anders sein als beim erstenmal; diesmal wußte ich mit Sicherheit, daß damals ein Mord verübt worden war. Und diesmal war es noch wichtiger für mich, meiner Erinnerungen habhaft zu werden, denn nun war auch mein Leben in Gefahr. Solange ich mich nicht erinnerte, mußte ich um mein Leben bangen, und die Gefahr wurde mit jedem Tag größer. Ich mußte mich retten.

Ich betrat das Frühstückszimmer mit großer Beklommenheit. Martha und Theo saßen allein am Tisch. Ich setzte mich an meinen gewohnten Platz und nahm mir Toast und Marmelade. Unser Gespräch war oberflächlich und belanglos; wir sprachen über Annas Kummer, fragten uns, wann endlich der Frühling kommen würde, wann wir das letztemal einen so langen und kalten Winter gehabt hatten. Als Colin eintrat, tat mein Herz einen Sprung. Würde ich mich niemals an ihn gewöhnen, an seine Nähe, sein plötzliches Erscheinen? Nein, hoffentlich nicht, dachte ich, denn dieses Herzklopfen, dieses Prickeln ist etwas Herrliches. Er setzte sich mir gegenüber, lächelte höflich und schenkte sich Tee ein.

Ich hatte den meinen bisher nicht angerührt.

Das Gespräch, etwas gezwungen jetzt, wandte sich dem Geschäft zu, einem neuen Reformgesetz, über das im Parlament entschieden werden sollte.

«Ja, wir leben in einer schnellebigen Zeit, Theo. Vorbei ist es mit Ruhe und Beschaulichkeit. Dies ist das Zeitalter der Gaslampen, der Dampfmaschine und der Heißluftballons. «Colin unterstrich seine Worte mit weit ausholenden Gesten.»Nie zuvor ist der Mensch so schnell so weit gereist.«

Plötzlich schlug sein Arm versehentlich an meine Teetasse. Sie kippte um, und der Tee ergoß sich über das Tischtuch.»Oh, entschuldige vielmals, Leyla. Wie ungeschickt von mir. «Er tupfte den vergossenen Tee mit seiner Serviette auf.»Hier«, sagte er mit einem verlegenen Lächeln und reichte mir seine Tasse.»Nimm meinen.«

Jetzt begriff ich. Ich dankte ihm mit einem Lächeln und nahm die dargebotene Tasse.

«Es ist ein Zeitalter beständigen Fortschritts, dem wir folgen müssen, wenn wir nicht den Anschluß verlieren wollen. Du wirst mit den anderen Spinnereien in Wettbewerb treten müssen, Theo. Sie fangen schon an, die neuen Webstühle zu kaufen, und nach dem, was ich gehört habe, wird durch diese neuen Maschinen die Produktion unglaublich beschleunigt.«

Das ganze Gespräch bestand im Grunde aus einem Monolog Colins, der sich nicht darum zu kümmern schien, daß Martha stumm blieb, während Theo allenfalls hin und wieder eine geringschätzige Bemerkung machte. Ich saß unruhig auf dem Rand meines Stuhls und dachte, sie würden niemals gehen. Erst als Theo und Martha endlich aufstanden und hinausgingen, seufzte ich erleichtert und entspannte mich ein wenig.

Colin beugte sich über den Tisch und nahm meine Hand.»Und du gehst heute ins Wäldchen, Leyla?«

«Ja, so bald wie möglich. Aber ich möchte allein gehen, Colin. Es ist lieb von dir, daß du mir angeboten hast, mich zu begleiten, aber ich glaube, ich muß allein sein.«

«Wenn du mir zu lange ausbleibst, komme ich nach und hole dich. «Ich lachte ein wenig. Nichts als Liebe und Zärtlichkeit war in Colins Augen, und doch, erinnerte ich mich jetzt, hatte es am vergangenen Abend einen Moment gegeben, in dem er angespannt und beunruhigt gewirkt hatte. Als ich ihm von meiner flüchtigen Erinnerung an den Rubinring erzählt hatte.

«Colin«, sagte ich,»was kann es bedeuten, daß mir die Erinnerung an den Rubinring nur im Zusammenhang mit dem Wäldchen gekommen ist und sonst überhaupt nicht?«

Da, da war es wieder, und diesmal saßen wir in einem hellen Zimmer, durch dessen Fenster das Morgenlicht strömte. Diesmal sah ich, wie Colin sich bei der Erwähnung des Ringes veränderte. Aber er bemühte sich, seine Reaktion zu verbergen.»Ich habe keine Erklärung dafür.«

«Theo hat ihn doch von Sir John geerbt, nicht wahr? Warum hat der ihn nicht zuerst Onkel Henry vermacht?«

«Tatsächlich war es so — «Colin räusperte sich, und ich hatte den Eindruck, daß er seine Worte sorgfältig abwog —»daß zuerst mein Vater den Ring bekam. Er bekam ihn schon als kleiner Junge von seinem Vater und hatte ihn viele Jahre getragen. Nach seinem Tod nahm Sir John den Ring wieder an sich und trug ihn bis zu seinem eigenen Tod zwei Jahre später.

Dann bekam Theo ihn, weil Onkel Henry ihn nicht haben wollte.«

«Und was glaubst du, warum er gestohlen wurde?«Er strich Butter auf seinen Toast.»Ich weiß es nicht. Es war wohl irgend jemand von den Angestellten, nehme ich an.«

Seine Mimik war etwas zu unbeteiligt, zu beiläufig, aber ich ließ es dabei bewenden. Wenn Colin nicht über den Ring sprechen wollte, sollte es mir recht sein. So wichtig konnte die Sache nicht sein.»Ich breche jetzt auf, Colin. Ich will zuerst noch einen Spaziergang machen, und dann gehe ich ins Wäldchen. Wenn ich mich an irgend etwas erinnern sollte, erzähle ich es dir heute abend.«

Zu meiner Überraschung sprang er auf und kam um den Tisch herum zu mir. Sein Gesicht war angespannt, als er sagte:»Versprich mir eines, Leyla: daß ich es als erster erfahre, wenn du dich an irgend etwas erinnerst.«

«Aber natürlich!«

«Ich meine, ganz gleich, was du entdeckst, du mußt zuerst zu mir kommen. Versprichst du mir das?«

Sein ungestümes Drängen beängstigte mich.»Ja, Colin, ich verspreche es dir.«

Er lächelte beruhigt.»Ich habe Angst um dich, Leyla. Ich wünschte, ich könnte dich dazu bewegen, von hier fortzugehen. Nein, schüttle nicht den Kopf; deine Manieren sind ja so schlecht wie meine. Wie du willst, so soll es sein. Ich beuge mich.«

Der Tag erschien mir ungewöhnlich kalt und finster, und als ich vom Haus wegging, hatte ich das Gefühl, daß jemand mich beobachtete. Nur einmal drehte ich mich um und blickte zurück. Die Fenster waren dunkel, zum Teil hinter geschlossenen Läden verborgen. Ich sah niemanden, keine

Bewegung, nichts, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, wer mich beobachten sollte. Theo und Martha hatten kaum reagiert, als meine Teetasse umgekippt war, schienen an meinem körperlichen Befinden überhaupt nicht interessiert. Das konnte natürlich Tarnung sein. Wenn einer der beiden mich langsam vergiftete, ging er dabei sehr geschickt zu Werke.

Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Das war vermutlich auch der Grund, warum ich mir einbildete, heimliche Blicke auf mir zu spüren. Auch der Spaziergang konnte mich nicht beruhigen. Ich hatte nur den Wunsch, dies alles endlich hinter mich zu bringen, und ich wußte, daß das nur geschehen konnte, wenn meine Erinnerungen wiederkehrten.

Während ich dastand und zum Wäldchen hinuntersah, überfiel mich ein merkwürdiges Gefühl. Es war beinahe so, als wüßte ich, daß dort unten etwas geschehen würde, daß ich nicht wieder und wieder würde zurückkehren müssen, um das Geheimnis aufzudecken. Es gab jetzt keine Umkehr mehr. Ich war entschlossen, mir meine Vergangenheit zurückzuholen. Die kahlen Akazien, denen ich mich jetzt langsam näherte, hüteten ein Geheimnis, das mir gehörte, und ich würde es ihnen entreißen. Ich wurde wieder zu der kleinen Bunny, als ich mit flatterndem Umhang am Rand des Wäldchens stand. Ich war ein neugieriges kleines Mädchen auf der Suche nach Vater und Bruder, die Minuten zuvor hier zwischen den Bäumen verschwunden waren. Während ich mit meinen Blicken das Gewirr der Baumstämme und Äste zu durchdringen suchte, spürte ich, wie ich mich langsam, unmerklich beinahe, zu verwandeln begann. Abwartend stand ich unbewegt im Wind und starrte in die Bäume. Es geschah. Ich begann mich zu erinnern.

Auf kleinen Füßen trippelte ich über die weiche Erde und achtete sorgsam darauf, daß ich nirgends mit meinem Kleidchen hängenblieb. Mutter würde schimpfen, wenn ich es schmutzig machte oder gar zerriß. Aber Vater und Thomas waren dort drinnen, und ich möchte mit ihnen spielen.

Ich ging hinein. Meine Augen sahen alles anders, groß wie Riesen die dunklen Bäume, Wächter über ein Märchenland, das in meiner Phantasie mit Elfen und Kobolden bevölkert war. Vor mir hörte ich etwas. Vater? dachte ich.

Mutig marschierte ich weiter. Ferne Geräusche drangen an mein Ohr — das Gelächter eines kleinen Mädchens, der Schrei eines Vogels hoch in den Bäumen. Ich befand mich jetzt in einer anderen Welt — der Welt eines fünfjährigen Kindes. Ich erinnerte mich.

Plötzlich blieb ich stehen. Da war der faulende Baumstumpf. Dort der glatt geschliffene Felsbrocken. Die moosgrüne alte Mauer. Und Geräusche — Geräusche, die nicht hierher gehörten, Kampfgeräusche. Vor einer Kulisse dichtstehender Bäume und feuchter Erde sah ich schattenhafte Gestalten. Zwei Erwachsene waren es und ein kleiner Junge. Ich lächelte. Ich kannte sie alle drei. Jetzt wurden sie klarer. Plötzlich hatte ich ein deutliches Bild meines Vaters — groß und imposant, Henry sehr ähnlich, aber jünger, mit schwarzem Haar und den markanten Gesichtszügen der Pembertons. Er zeigte Thomas eine Kröte. Die dritte Person stand im Verborgenen, unsichtbar für die beiden anderen.

Wie in Trance stand ich unter den Bäumen und starrte auf die Bilder, die nur ich sehen konnte. Die Zeit lief rückwärts, ein Fluß, dessen Strömung sich vor einem Damm strudelnd umkehrt. Unter dem wirbelnden Wasser sah ich klar gezeichnet die Gesichter dieser drei Menschen. Ich hörte ihre Stimmen, als sprächen sie wahrhaftig in diesem Augenblick. Ich sah die unsichtbare dritte Person. Ich wußte jetzt, wer die

Morde begangen hatte, doch ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Bis zu dem schrecklichen Ende mußte ich warten und zusehen, ehe ich aus der Vergangenheit heraustreten und in die Gegenwart zurückkehren durfte. Ich sah, wie die dritte Person plötzlich aus den Büschen rannte und sich auf meinen Bruder stürzte. Ehe ich meine Stimme fand, sauste blitzend ein Messer durch die Luft und traf Thomas’ Hals. Ich war wie gelähmt. Mein Vater drehte sich blitzartig um, schrie auf, taumelte rückwärts, als das Messer seine Brust traf. Etwas Rotes, der vertraute Rubinring, fiel zu Boden, nein, wurde zu Boden geworfen, rot wie das Blut, das in der Erde versickerte.

«Mein Gott!«schrie ich plötzlich und schlug die Hände vor mein Gesicht. Schmerz, Entsetzen und nackte Angst schüttelten mich. Alles war wieder da, bis in jede Einzelheit, und es war so grauenvoll wie damals, wie vor zwanzig Jahren. Nur konnte ich diesmal weinen.»Colin!«schluchzte ich.»Oh, Colin, Colin!«

Ich hörte die Schritte erst, als es zu spät war. Starke Arme schlangen sich um meinen Hals, eine mörderische Hand schwang das Messer.»Du bist verdammt wie sie alle!«flüsterte es heiser an meinem Ohr. Ich wehrte mich, schlug um mich, aber es half nichts. Ich hatte das Gleichgewicht verloren.»Du mußt sterben wie sie sterben mußten, damit das Übel nicht mehr weitergegeben werden kann.«