«Es kommt ganz darauf an, ob den Südstaaten Menschlichkeit wichtiger ist als Profit.«

«Und wer soll die Baumwolle pflücken, wenn die Sklaven befreit werden? Hier geht es nicht um Moral und Menschlichkeit, Theo. Hier geht es um wirtschaftliche Interessen. Die gesamte Industrie der Südstaaten steht und fällt mit der Sklaverei. Wenn sie die aufgeben, erwartet sie wirtschaftlicher Niedergang. Die Baumwollpreise werden in die Höhe schnellen. Jeder Geschäftsmann weiß, daß man keine Gewinne machen kann, wenn man auf die Forderungen der Arbeiter Rücksicht nehmen muß.«

«Aber als vor elf Jahren das Gesetz über den Zehn-StundenTag erlassen wurde — «

Während Vater und Sohn sich unterhielten, beobachtete ich heimlich Colin. Ein- oder zweimal nahm er Anlauf, etwas zu sagen, und überlegte es sich dann anders. Und während Henry und Theo über die Geschäfte des Familienunternehmens sprachen, fragte ich mich, welchen Platz Colin in der Firma einnahm. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch seine Gesten wirkten ein wenig verärgert.

Mit der Zeit jedoch begann ich ungeduldig zu werden. Waren diese Erörterungen von Familienangelegenheiten in meinem

Beisein ein Hinweis darauf, daß man bereit war, mich in die Familie aufzunehmen? Oder wollte man mit dieser Diskussion nichts weiter als meine Anwesenheit ignorieren?.

Das Essen war ausgezeichnet gewesen, der Wein erlesen, die Umgebung angenehm. Nur die Gesellschaft hatte meinen Erwartungen nicht entsprochen. Aber was hatte ich denn erwartet? Schließlich war ich für diese Menschen zwanzig Jahre verschollen gewesen! Hatte ich wirklich geglaubt, man würde mich lachend und weinend in die Arme schließen?

Aber plötzlich fiel mir wieder ein, was mich getrieben hatte, nach Pemberton Hurst zurückzukehren: Tante Sylvias Brief. Ich hätte vielleicht nie den Mut aufgebracht, hierher zu kommen, wäre es zufrieden gewesen, Edward zu heiraten und mein neues Leben zu beginnen, ohne meine Familie wiedergesehen zu haben, wenn nicht der Brief gewesen wäre. Als ich Tante Sylvias warme, besorgten Worte gelesen hatte, ihre Mitteilung, daß sie uns erst jetzt in London ausfindig gemacht und große Sehnsucht nach uns hätte, da hatte ich geglaubt, die ganze Familie wünsche unsere Rückkehr.

Wie sehr hatte ich mich getäuscht, denn meinen Verwandten war dieses Schreiben unbekannt.

Ich schaute zu dem Platz hin, an dem das unberührte Gedeck lag, und der Wunsch, meine Tante zu sehen, wurde übermächtig.»Bitte entschuldigt«, sagte ich laut,»aber darf ich jetzt hinaufgehen und Tante Sylvia besuchen?«

Annas Kopf flog herum. Die anderen schwiegen, als hätte ich ihnen das Wort abgeschnitten, und an dem Ausdruck auf ihren Gesichtern sah ich, daß ich etwas absolut Unpassendes gesagt hatte.

«Ach, Leyla«, sagte Martha schließlich, und in ihren Augen sah ich wieder dieses tiefe Mitleid.»Hat es dir denn keiner gesagt?«

«Was denn?«fragte ich erschrocken.»Tante Sylvia ist tot. Sie ist vor vier Wochen gestorben.«

Kapitel 3

Ich weiß nicht, warum diese Nachricht mich so heftig erschütterte. Ich hatte meine Tante ja nie gekannt, ich hatte keinerlei Erinnerungen an sie, nichts, was mich mit ihr verband. Und doch war ich wie vor den Kopf geschlagen; alle meine Hoffnungen hatten auf Sylvia Pemberton geruht.

Mit jeder neuen Begegnung in diesem Haus war mein Bedürfnis, sie zu sehen, stärker geworden, als werde sie die einzige sein, die sich ehrlich freuen würde, mich wiederzusehen. Aber nun war sie tot.

«Es tut mir leid, Leyla«, sagte Anna.»Ich hätte es dir sagen sollen. Jetzt habe ich dir das Abendessen verdorben.«

«Warum so niedergeschmettert, Cousine?«fragte Colin.»Du hast sie doch kaum gekannt.«

«Entschuldigt mich. «Ich sprang so heftig auf, daß mein Stuhl umkippte.

«Ach Gott!«sagte jemand; und Henry eilte um den Tisch herum zu mir.

«Es ist zuviel für sie«, sagte Anna.»Erst ihre Mutter, jetzt Sylvia. Das arme Ding braucht Ruhe. Bring sie hinauf, Henry. Ich schicke Gertrude mit einer Tasse Tee.«

Ich fühlte mich wie von Schleiern eingehüllt, als Henry mich aus dem Speisezimmer führte. Bis zu diesem Augenblick war ich mir nicht bewußt gewesen, wie sehr ich mich auf Tante Sylvias herzlichen Empfang verlassen hatte.

Henry schob seine Hand unter meinen Ellbogen und half mir die Treppe hinauf.

Der Geruch seines Haaröls stieg mir betäubend in die Nase, und die dunklen Wände schienen um mich herum zusammenzurücken. Ich würde nicht ohnmächtig werden, das war mir noch nie passiert, und doch schien es mir, als wäre ich nahe daran. In meiner Enttäuschung über Sylvias Tod war ich wütend auf die anderen. Jeder hatte die Gelegenheit gehabt, mir die traurige Wahrheit zu sagen, doch keiner hatte es getan. Warum nicht? Sie war doch nur eine fünfundsiebzigjährige unverheiratete Großtante gewesen, an die ich mich nicht erinnern konnte. Warum hatten sie geglaubt, ihr Tod könne mir etwas bedeuten? Warum hatten sie es nicht fertiggebracht, mir die Wahrheit zu sagen? Vor meiner Zimmertür blieben wir stehen. Durch die Nebelschwaden, die mich zu umgeben schienen, konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Dabei wünschte ich mir verzweifelt, ihn eingehend betrachten zu können. Immer wieder hatte ich beim Essen versucht, an Anna vorbeizusehen, um einen Blick auf das Gesicht zu erhaschen, das das meines Vaters hätte sein können.

Henry redete mit leiser, beschwichtigender Stimme auf mich ein. Hatte ich diese Stimme als Kind gehört, wenn mein Vater mich getröstet hatte? Brüder sind sich häufig sehr ähnlich. War Henry ein Abbild meines Vaters?

Die Zimmertür ging auf, und ich wankte hinein. Der Schock und die Enttäuschung über Sylvias Tod setzten mir sehr zu. Ich fand zum Bett und ließ mich jetzt weinend darauf niederfallen. Ich spürte Henrys Nähe. Er stand besorgt über mich geneigt.

Ich weinte und ließ die ganze Enttäuschung aus mir herausströmen, ehe ich schließlich nach meinem Taschentuch kramte, mir die Augen trocknete und aufstand. Henry stand immer noch an meinem Bett, ein gutes Stück größer als ich, und betrachtete mich schweigend.

«Verzeih mir«, sagte ich stockend.»Es tut mir leid, daß ich so unhöflich war.«

«Es ist nicht unhöflich, um eine Tote zu trauern, Bunny. «Er nannte mich bei diesem Namen, als hätten meine Mutter und ich Pemberton Hurst erst gestern verlassen. Indem er mich Bunny nannte, überbrückte er die Kluft von zwanzig Jahren.

Als ich meine Tränen getrocknet hatte, sah ich endlich zu ihm auf. Ein Bild blitzte auf. Es war, als hätte sich flüchtig ein Vorhang geöffnet, um mir eine Szene auf der anderen Seite zu zeigen, und sei sogleich wieder zugefallen. Nein, keine Szene eigentlich, kein Bild, das ich festhalten konnte. Es war mehr ein Gefühl. Als ich in Henrys ausdrucksloses Gesicht sah, überkam mich ein tiefer Schmerz, Qual beinahe, die an etwas anderes grenzte, das ich in diesem Moment nicht benennen konnte. Die dichten Wimpern hingen schwer über seinen Augen. Die Nase war eine Spur zu groß, das Kinn kaum eingekerbt. Und die Ausstrahlung, die mir in dieser Sekunde bewußt geworden war, war eine Ausstrahlung tödlichen Verhängnisses. Ich sah in Henrys Gesicht und spürte, wie eine tiefe Niedergeschlagenheit sich meiner bemächtigte, ein Gefühl der Aussichtslosigkeit. Aber warum dieses Gefühl?

Und war dies das Gesicht meines Vaters? Henry, sicherlich Ende fünfzig, war ein stattlicher Mann, auch wenn sein Haar von Grau durchzogen war und sein Gesicht von den Jahren gezeichnet. Er war immer noch schlank und beweglich und hielt sich kerzengerade. Ich stellte mir vor, daß mein Vater, hätte er damals die Cholera-Epidemie überlebt, jetzt ähnlich aussehen müßte.

«Morgen wirst du dich besser fühlen, Bunny. Du brauchst jetzt vor allem Schlaf.«

«Ja«, sagte ich leise. Das Gefühl der Niedergeschlagenheit begann zu weichen, mir wurde wohler. Gewiß hatte mich nur die unerwartete Nachricht von Sylvias Tod so aus der Fassung gebracht.»Ich bin froh, daß ich wieder hier bin«, sagte ich, mehr um mich selbst als ihn zu überzeugen. Er musterte mich aufmerksam mit forschendem Blick. Forschend. Das gleiche Wort war mir gekommen, als Anna mich gemustert hatte. Und genauso hatten Theo und Colin mich angesehen, so, als suchten sie noch etwas.

«Bunny«, sagte Henry, und seine Stimme klang weich und tröstlich,»warum bist du eigentlich zurückgekommen? Ich meine, warum bist du erst jetzt gekommen und nicht schon viel, viel früher?«

Ich wußte nicht, wie ich diese Frage beantworten sollte. Das beharrliche Schweigen meiner Mutter über dieses Haus und diese Familie hatte auf mich die Wirkung eines unausgesprochenen Gebots gehabt, Pemberton Hurst zu vergessen. Bis dieser Brief gekommen war. Der Brief von Tante Sylvia.

«Ich werde bald heiraten, Onkel Henry, und ich wollte vorher

— «Er wich einen Schritt zurück.»Du willst heiraten!«

«Ja. Und ehe ich diesen neuen Abschnitt beginne, wollte ich wenigstens einmal noch meine Familie sehen und das Haus, wo ich geboren bin, und — «

«Bunny, wer ist der Mann?«

«Du kennst ihn nicht, Onkel. Er ist Architekt in London. Ein Schüler von Charles Barry. Er ist wohlhabend, Onkel, und aus guter Familie. Und er ist sehr gebildet. Ich lernte ihn — «

«Habt ihr den Tag schon bestimmt?«

«Wir wollen im nächsten Frühjahr heiraten. Er arbeitet an den Plänen für den Victoria-Bahnhof. Er hofft, daß man seinem Entwurf den Vorzug vor den anderen geben wird — «

«Wir müssen ihn kennenlernen, Leyla«, sagte mein Onkel mit, wie mir schien, übertriebenem Ernst.

«Aber natürlich. «Ich sah Henry an. Irgend etwas stimmte nicht. Als er meine Verwirrung bemerkte, wurde er wieder weicher.»Bunny, Kind, du bist noch so jung, und es gibt eine Menge Dinge, von denen du nichts weißt. Als du vor zwanzig Jahren mit deiner Mutter von hier fortgingst, fürchteten wir, daß wir dich niemals wiedersehen würden. Du warst unser

Sonnenschein. Wir gehören alle einer Familie an, in unseren Adern fließt Pemberton Blut. Ich sehe es in deinem Gesicht. Du hast viel von Jenny, aber noch mehr von meinem Bruder Robert. Du und Theo, ihr ähnelt einander, ist dir das nicht aufgefallen? Ich bin einzig um dein Wohl besorgt. Und ich möchte, daß du dich hier zu Hause fühlst. Wir alle wünschen das.«

Aber das stimmt nicht, hätte ich am liebsten gerufen. Ich wünschte mir verzweifelt, ich könnte so tun, als wäre dieser Mann mein Vater; ich könnte mich ihm in die Arme werfen. Aber das ging nicht. Er mochte mit mir verwandt, er mochte mir ähnlich sein, er blieb ein Fremder.»Bis morgen legt sich dieser schreckliche Wind bestimmt, dann kann ich dir das Grundstück zeigen. Es beschränkt sich nicht auf den Hügel, weißt du; es reicht viel weiter.«

«Ja, ich weiß. Das Wäldchen.«

Ich weiß nicht, was mich veranlaßte, das zu sagen; die Wirkung jedenfalls, die es auf meinen Onkel hatte, war völlig unerwartet. Sein Gesicht veränderte sich, wurde hart und verschlossen.»Du erinnerst dich also an das Wäldchen?«

«Nein. Colin hat mir davon erzählt.«

«Ach so. Und was hat er dir erzählt?«

«Nur, daß wir dort gespielt haben.«

«Ja, wir haben große Ländereien. Fast der ganze Grund zwischen dem Haus und East Wimsley gehört uns. Du wirst mit der Zeit alles kennenlernen. Ich hoffe, du bleibst lange bei uns, Bunny. Ich hoffe es von Herzen.«

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür.

«Ah, da kommt Gertrude mit dem Tee. Schlaf gut, Bunny, morgen sieht alles ganz anders aus.«

Gertrude wartete, bis er gegangen war, dann kam sie mit dem Tablett leise herein. Vielleicht bildete ich es mir ein, aber ich hatte den Eindruck, daß sie, als sie das Tablett auf den kleinen

Tisch vor dem Kamin stellte und dann zum Bett ging, um das Kissen aufzuschütteln, verstohlen zu mir herüberblickte, als wage sie es nicht, mich offen anzusehen. Viel zu müde, um lange Umschweife zu machen, fragte ich unverblümt:»Erinnern Sie sich an mich, Gertrude?«

Sie hielt augenblicklich in ihrer Tätigkeit inne.»Ja, Miss Leyla, ich erinnere mich.«

«Es tut mir leid, aber ich kann mich an Sie nicht erinnern. «Ich ging um das Bett herum und stellte mich ihr gegenüber.»Sind Sie schon lange bei der Familie Pemberton, Gertrude?«

«Fast dreißig Jahre.«

Noch immer sah sie mich nicht an. Noch immer stand sie regungslos da, wie auf dem Sprung. Ich fand dieses Verhalten bei einer Frau, die mich wahrscheinlich versorgt hatte, als ich noch ein kleines Kind gewesen war, ausgesprochen sonderbar. Sie schien beinahe Angst vor mir zu haben.»Danke für den Tee, Gertrude. Sonst brauche ich jetzt nichts mehr. «Schlurfenden Schrittes, das eine Bein etwas nachziehend, ging sie zur Tür. Der Schein des Feuers glänzte auf ihrem krausen Haar. Hatte dieser seltsame Gang nicht etwas Vertrautes? Hatte ich als Kind Gertrude beobachtet und mich gefragt, warum sie hinkte? Als sie die Tür öffnete, ergriff mich ein Gefühl — das Gefühl, diese Frau schon früher gekannt zu haben.»Haben Sie mich vermißt, als ich fort war, Gertrude?«