Sie saßen schweigend über dem Kaffee, wobei Angie ständig aus dem Fenster blickte und nach Regen Ausschau hielt, während Ben an die nächste Rolle dachte.
Als er seinen schwarzen Kaffee umrührte, schweifte er in Gedanken ab, bis er schließlich ein Gesicht vor sich sah, daß er sich schon lange nicht mehr vergegenwärtigt hatte: die große Nase und die langwimprigen Augen von Salomon Liebowitz. Damals war Salomon ein gutaussehender junger Mann gewesen, mit einem muskulösen Körper und markantem Gesicht. Er hatte lockiges, schwarzes Haar gehabt, einen recht dunklen Teint und einen sinnlichen, vollen Mund. Die Leute hatten die beiden Jungen oft wegen ihrer äußeren Erscheinung aufgezogen: der eine ein dunkelhäutiger, semitischer Typus und der andere ein blasser, blauäugiger Blondschopf. Vom Aussehen her waren sie so verschieden wie Tag und Nacht, doch was ihre Gesinnung und Einstellung anbetraf, hatten sie gut zusammengepaßt. Beide verfügten sie über einen außergewöhnlichen Ideenreichtum und waren bei ihren Streifzügen durch Brooklyn unzertrennlich. In der Jeschiwa waren sie ausgezeichnete Schüler gewesen, die miteinander um das Lob der Lehrer wetteiferten. Sie saßen häufig bis spät in die Nacht beieinander, lernten zusammen und trafen später gemeinsame Verabredungen mit Mädchen.
Welch eine Überraschung war es da gewesen, daß sie, als sie nach Beendigung der Jeschiwa auf eigenen Füßen standen, so entgegengesetzte Wege eingeschlagen hatten.»Ben?«
Er konzentrierte seinen Blick auf Angie.
«Ben? Du hast kein Wort von dem, was ich sagte, mitbekommen. Denkst du über die Rollen nach?«Er nickte.
«Willst du mir davon erzählen?«Angie legte ihren Kopf zur Seite. Ben konnte sich nicht genau erklären, warum Angie ihn heute morgen so reizte. Wahrscheinlich lag es daran, daß sie Interesse an den Rollen heuchelte, damit er sich besser fühlte. Der Ausdruck in ihren Augen sagte:»Es wird vorübergehen. Der kleine Ben wird darüber hinwegkommen, und dann können wir spielen gehen.«
«Das verstehst du doch nicht!«antwortete er und wandte seinen Blick von ihr ab. Im Morgenlicht fiel es Ben trotz des trüben Wetters auf, daß Angie zuviel Make-up trug. Und dieses verdammte Parfüm, das sie immer an sich hatte, verdarb ihm den Geschmack an seinem Kaffee.
«Du kannst es mir trotzdem erklären.«
«Oh, um Himmels willen, Angie, versuch doch nicht künstlich, dich mir anzupassen. «Er stieß seinen Stuhl zurück und stand mit den Händen in den Hosentaschen auf. Ein leichter Sprühregen tröpfelte ans Fenster.
«Was ist nur los mit dir, Ben? Ich habe dich niemals so erlebt. Mal bist du nett und fröhlich und im nächsten Augenblick launisch und gereizt. Du warst doch sonst nie so unausgeglichen.«
«Es tut mir leid«, murmelte er und entfernte sich ein paar Schritt von ihr. Himmel noch mal, dachte er, alles, was ich will, ist doch nur, daß du mich alleine läßt! Damit ich in Ruhe nachdenken kann. Und du platzt hier herein in deiner feenhaften Aufmachung und mit deinem Kindergartenstimmchen und.
«Diese Rollen nehmen mich mehr und mehr gefangen, Angie. Ich kann nichts dagegen tun. Sie sind. sie sind. «Was? Was sind sie? Sind sie im Begriff, mich völlig zu beherrschen?
Er roch, wie der Duft ihres Parfüms näher an ihn herankam. Dann fühlte er ihre schlanken Hände auf seinen Schultern.»Laß mich lesen, was du bis jetzt übersetzt hast. «Ben drehte sich um, damit er sie ansehen konnte. O Angie, Liebes, dachte er unglücklich, ich weiß ja, daß du versuchst, mich zu verstehen. Ich weiß, daß du das alles nur meinetwegen tust. Bitte, tu’s nicht.»Darf ich?«
«Sicher, warum nicht? Setz dich.«
Sie streifte ihre Schuhe ab, sank auf die Couch und zog die Füße aufs Polster. Als er ihr das Heft reichte, überflog sie die Seiten und meinte dann:»So viel! Ist ja toll!«
Er ging ins Wohnzimmer zurück und nahm seinen Kaffee. Er schmeckte jetzt besser.
Nach einer beachtlichen Weile warf Angie das Übersetzungsheft auf den Couchtisch und urteilte:»Das war interessant. «Ben schaute sie an.
«Ich denke, du hast ein ganzes Stück Arbeit geleistet. Ich hoffe, daß Weatherby sie dir großzügig honoriert.«
Bens Augen weiteten sich ungläubig.»Was denkst du über David Ben Jona?«
«Was ich über ihn denke? Oh. «Sie zuckte die Schultern.»Eigentlich gar nichts. Wenn er jetzt noch Jesus erwähnt, dann hast du wirklich das große Los gezogen.«
Ben setzte seine Kaffeetasse ab.»Angie«, begann er leiser, wobei er jedes Wort mit besonderer Sorgfalt abwägte,»David Ben Jona. wenn du seine Worte liest. fühlst du dann nicht etwas?«Sie hielt den Kopf schief und fragte:»Was meinst du?«
«Nun«, er wischte sich seine feuchten Hände an seiner Hose ab,»wenn ich zum Beispiel seine Worte lese, dann fühle ich mich ganz stark mit einbezogen. Weißt du, was ich meine? Ich werde darin eingeschlossen und kann mich nicht daraus befreien. Es ist, als spräche er wirklich zu mir.«
«Ben.«
Er sprang auf und fing an, mit einem auffällig hinkenden Gang durch das Zimmer zu gehen. Kann es sein, daß nur ich davon betroffen bin? überlegte er verstört. Bekomme ich als einziger diese Gefühle, wenn ich Davids Worte lese? Was ist es nur? Was ist die Ursache dafür?
Das ist lächerlich! Schau sie nur an. Wie kann sie so verdammt desinteressiert an der ganzen Sache sein, während ich zum Nervenbündel werde!
«Ben, was ist los mit dir?«
Er beachtete sie nicht, sondern hing seinen Gedanken nach. Jona, der Vater von David, und Jona Messer, der Vater von Ben, und beide sagten:»Denn der Herr behütet den Weg der Gerechten; doch der Weg der Sünder führt in den Abgrund. «Du bist einer aus dem Stamme Benjamins. Der Fluch Mose wird über dich kommen, und der Herr wird dich mit Wahnsinn schlagen.»Ben!«
Er hielt plötzlich inne.»Angie, ich möchte für eine Weile allein sein.«
«Nein!«Mit einem Satz sprang sie auf.»Schick mich nicht fort. «Ben wich zurück und fühlte sich eingesperrt.»Bis die Post kommt, dauert es noch Stunden«, fuhr sie fort.»Laß uns einen Ausflug machen und das alles für ein Weilchen vergessen.«
«Nein!«schrie er.»Zum Teufel noch mal, Angie, das einzige, was du willst, ist, mich von meiner Arbeit wegzubringen. >Vergiß es für ein Weilchen.< >Mach dich davon frei.< Ist es dir je in den Sinn gekommen, daß ich mich vielleicht gerne damit beschäftige?«
«Ich verstehe«, antwortete sie ruhig.
«Nein, das tust du nicht. Und ich mache dir deswegen auch keine Vorwürfe. Ich will nur allein sein.«
«Ich werde dich nicht stören.«
Er wandte sich von ihr ab und tat so, als ob er den Thermostat kontrollierte.»Es ist kalt hier drinnen«, stellte er ruhig fest. Doch, du wirst mich stören. Du kannst ja nicht länger als fünf Minuten sitzen bleiben, ohne dich zu unterhalten.
Ben drehte sich zu Angie um. Sie saß auf der Couch, ganz das elegante Model aus den Werbeaufnahmen in den Hochglanzzeitschriften, ihre hohen Backenknochen rot geschminkt, ihre Lippen und ihre spitzen Fingernägel blutrot. Wie seltsam, daß ihm gerade jetzt diese Dinge auffielen, die er vorher nie bemerkt hatte. Dies alles war doch greifbare Wirklichkeit. Diese schöne Frau mit dem Kameengesicht und dem wilden, kastanienbraunen Haar, die da gelassen auf der Couch saß, war der Traum eines jeden Mannes. Sie lachte viel, kleidete sich geschmackvoll, hatte einen anschmiegsamen Körper und verstand es, sich jederzeit angeregt zu unterhalten. Ben hatte es immer genossen, daß andere Männer ihr nachschauten, wo immer sie auch hingingen. Angie am Arm war wie eine Medaille am Revers. Doch als er sie jetzt anschaute — und irgendwie war es, als sähe er sie zum erstenmal —, kamen Ben Gedanken, die ihm völlig neu waren.»Ich werde dich nicht stören«, beteuerte Angie.»Und was willst du tun? Während ich im Dunkeln sitze und Bachmusik höre, was willst du tun?«
«O Ben!«Sie sah ihn beunruhigt an.»Also gut, ich gehe. Wenn es das ist, was du wirklich willst. Ich komme morgen früh wieder. Okay?«Sie nahm ihren Handkoffer an sich.»Und bitte, leg den Hörer nicht neben das Telefon. Du hast es gestern abend wieder getan, nicht wahr, denn immer, wenn ich es probiert habe, hörte ich nur das Besetztzeichen.«
«Ich werde es nicht wieder tun.«
Vor der geöffneten Wohnungstür zögerte sie, als sei sie sich unschlüssig, was sie als nächstes sagen sollte.»Ich halte die Rollen wirklich für interessant, Ben.«
«Gut.«
«Aber du darfst nicht vergessen, daß ich mit jüdischen Dingen nicht vertraut bin.«
«Bist du mit mir etwa nicht vertraut?«
«Benjamin Messer!«Angie war aufrichtig überrascht.»Das ist das erste Mal, daß du zugibst, Jude zu sein! Gewöhnlich versuchst du mit allen Mitteln, es zu leugnen.«
«Nicht zu leugnen, mein Schatz. Ich versuche lediglich, es zu vergessen. Da ist ein Unterschied.«
Ben lief den Rest des Vormittags und den ganzen Nachmittag ziellos durch die Wohnung. Er erinnerte sich daran, Poppäa zu füttern. Fand einige Wörter im Los Angeles Times-Kreuzworträtsel heraus. Hörte ein paar Platten, stopfte ein Käsebrot in sich hinein und ging wieder auf und ab. Der Postbote mußte jetzt bald kommen. Er hatte fast ein ganzes Paket Pfeifentabak verbraucht, als er sich um Punkt vier Uhr entschloß, zu den Briefkästen hinunterzugehen. Er hatte auf das Klopfen an der Tür gewartet, denn für eine Einschreibesendung mußte er ja eine Unterschrift leisten. Da sich aber bis jetzt noch nichts getan hatte, fragte er sich, ob der Briefträger wohl schon dagewesen war. Er war dagewesen.
In den anderen Briefkästen lag Post, in seinem eigenen eine Gasrechnung und im Zeitungskasten neue Zeitschriften. Doch kein kleiner gelber Zettel.
Ben bemerkte erst in diesem Augenblick, mit welcher Begierde er die fünfte Rolle erwartet hatte. Und jetzt war er buchstäblich am Boden zerstört. Während ein leichter Regen von einem grauen Himmel herabfiel und die Gehsteige von West Los Angeles sauber wusch, stand Ben da wie ein Schwachsinniger und glotzte die Briefkästen an. Es gab nichts Schlimmeres in der Welt, als seine ganzen Hoffnungen auf etwas zu setzen und es dann nicht zu bekommen. Ihm war zum Heulen zumute.
«Ich halte das nicht länger aus«, murmelte er immer wieder, während er zu seiner Wohnung hinaufstieg. Warum kamen die Rollen nicht schneller? Warum wurde ihm diese quälende Zeit des Wartens auferlegt?
Oben angelangt, drehte Ben die Heizung noch mehr auf, schenkte sich ein Glas Wein ein und ließ sich auf dem Sofa nieder. Im Handumdrehen war Poppäa auf seinem Schoß. Sie schnurrte und tapste auf seinem Bauch herum, als wollte sie ihm ihre Freude über seine Gesellschaft kundtun.
«Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, Poppäa«, flüsterte er ihr sanft zu.»Ich war vorher noch nie so. Es wird zu einer fixen Idee. Warum? Worin liegt die Ursache? Ist es David? Wie kann jemand, der seit zweitausend Jahren tot ist, eine solche Kontrolle über mich ausüben?«
Langsam schlürfte Ben den Wein und spürte, wie die Zimmertemperatur anstieg. Es war, als würde er von einer
Wärmedecke umgeben, von einer behaglichen Hülle, in der er sich entspannte und seinen Kopf schläfrig zurücklegte.
Sogleich strömten die Erinnerungen an die Tage mit Salomon Liebowitz in sein Gedächtnis zurück. Es schien, als wären sie viele Jahre lang hinter einer verschlossenen Tür zurückgehalten worden, bis er jetzt aus einem unbekannten Grund den Schlüssel zu dieser Tür gefunden hatte. Und Erinnerungen, die Ben längst vergessen hatte, überschlugen sich nun in seinem Geiste.
Es kamen ihm auch andere Bilder, die weniger heiter waren als die von der Jeschiwa und von Salomon. Es waren Momentaufnahmen von seiner Kindheit in Deutschland, von seiner Auswanderung in die Vereinigten Staaten, von der schmerzvollen Zeit seines Heranwachsens unter der Obhut seiner Mutter.
Ben hatte keine Geschwister gehabt. Und auch keinen Vater. Soweit er sich zurückerinnern konnte, waren da immer nur er selbst und seine Mutter gewesen. Und seine Mutter — sein einziger Elternteil und seine einzige Bezugsperson — war ein schwieriger Mensch gewesen.
Dann flackerte ein anderes Bild kurz in seinem Gedächtnis auf: das Handgelenk seiner Mutter. Irgend etwas stimmte damit nicht. Sie trug immer lange Ärmel, um es zu verbergen. Doch einmal hatte er es zu Gesicht bekommen. Er hatte darauf gedeutet und gefragt:»Was ist das, Mama?«
Ein Ausdruck des Entsetzens war über das Gesicht seiner Mutter gehuscht. Sie hatte schnell ihre Hand über die Verstümmelung gelegt und war aus dem Zimmer gestürzt. Und sie hatte noch Stunden danach und lange in die Nacht hinein geweint.
Als Ben dreizehn Jahre alt war, hatte seine Mutter am Tag seiner Bar-Mizwa, als er in die jüdische Glaubensgemeinschaft eingeführt wurde, ihren Ärmel aufgerollt, um ihm ihr
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