Denke stets an folgendes Gleichnis: Vorzeiten wuchs eine starke und mächtige Eiche, die eines Tages ein Samenkorn auf die Erde fallen ließ. Daraus entstand ein neuer Schößling. Eines Tages schlug der Blitz in die große Eiche ein und zerstörte sie, bis nichts von ihr übrigblieb. Der neue Schößling, der nicht getroffen worden war, wuchs weiter. Doch wächst er unabhängig vom Elternbaum und entwickelt sich auf eine andere Weise.

Eines Tages, wenn der Sproß zu stattlicher Größe emporgewachsen ist, wird ein Mann vorüberkommen und sagen:»Hier steht eine mächtige Eiche«, und er wird nicht wissen, daß dicht daneben einst eine mächtigere stand.

Höre, Israel, der Herr unser Gott ist ein einziger Gott! Kann es sein, daß noch ein wenig Würde in David Ben Jona übrig ist, die ihm die Gnade des Gottes Abrahams sichert? Gewiß träume ich! Sicherlich ist dies der Tag der Tage! Bin ich verrückt geworden, oder habe ich heute morgen tatsächlich mit meinem alten Freund Salmonides gesprochen, der wie ein Geist aus der Vergangenheit vor mir auftauchte? Und die unglaubliche Geschichte, die er mir erzählte! So glücklich war der alte Grieche, mich zu sehen, daß er sich diesem gemeinen Menschen vor die Füße warf und beteuerte, er habe mich gesucht.

In, meiner äußersten Verblüffung sagte ich ihm, daß ich ein verachtenswerter Mensch sei und daß ich den Urteilsspruch des Herrn erwarte, der meinen Tod bedeute.

Darauf meinte dieser anmaßende Bursche:»Dann habt Ihr Euren Gott wohl falsch eingeschätzt, Meister, oder ist er vielleicht zu beschäftigt damit, Jerusalem zu zerstören, und hat Euch vergessen? Denn Ihr werdet nicht sterben, und Ihr seid auch kein verachtenswerter Mensch. Es gibt Leute, die Euch lieben. «Und er fuhr fort mit seiner unglaublichen Geschichte, wie er des Nachts aus Jerusalem geflohen war, wie er das Vermögen, das er in all den Jahren an mir verdient hatte, dazu benutzt hatte, sich durch Bestechung freies Geleit durch die feindlichen Linien zu verschaffen, und wie er außer seinem eigenen noch zwei andere Leben gerettet hatte.

Und ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen, als ich im nächsten Augenblick Sara und Jonathan vor mir stehen sah.

Ben stieß einen Schrei aus, fiel vom Stuhl und landete krachend auf dem Fußboden. Sein Körper bebte heftig und zuckte, wie von einem Anfall ergriffen. Als Judy, die sofort auf den Knien neben ihm war, versuchte, ihn aufzurichten, murmelte er:»Nein. es gibt noch mehr. Ich. muß lesen.«

Der Schweiß rann an seinem aschfahlen Gesicht herunter. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten ins Leere. Er schien die junge Frau, die sich mit ihm abmühte, vergessen zu haben und schien sich auch gar nicht bewußt zu sein, daß er irgendwie wieder auf die Beine kam und sich Halt suchend auf den Schreibtisch stützte. Bens Hemd war durchnäßt. Er atmete schwer, als wäre er meilenweit gerannt.»Muß zum Schluß kommen. muß lesen.«

«Du mußt ein wenig aussetzen, Ben, du machst dich krank!«Der Klang ihrer Stimme ließ ihn aufhören zu zittern. Er wandte sich zu ihr um und schaute sie auf höchst seltsame Weise an.»Judy«, flüsterte er. Dann fiel er auf seinen Stuhl zurück und verbarg sein Gesicht in den Händen.

Judy kniete vor ihm und wischte ihm den Schweiß ab, der ihm von Gesicht und Nacken strömte. Auch sie selbst war schwach, blaß und erschöpft. Zusammen hatten sie das Martyrium Jerusalems miterlebt.

«Judy.«, murmelte er in seine Hände.»Ich erinnere mich daran. Ich erinnere mich an alles.«

«Du erinnerst dich woran?«

Schließlich blickte er zu ihr auf. Seine Augen waren von einem eisigen Blau und voller Verwunderung.»Ich erinnere mich daran, daß ich dachte, ich sei David. Ich erinnere mich daran, daß ich wirklich David war. O Gott, was ist nur mit mir geschehen? Was ist mit uns geschehen?«

Ihre Lippen bewegten sich, doch sie brachte kein Wort heraus. Dann, nach einem langen Stillschweigen, meinte Ben ein wenig traurig:»Es ist alles vorbei. David ist weggegangen.«

«O Ben. «Sie zitterte vor Erleichterung.

«Ich weiß nicht, woran ich es erkenne, aber ich erkenne es. Ich kann es dir nicht erklären. Vielleicht werden wir eines schönen Tages das Rätsel lösen. Ich frage mich. «Ben ergriff ihre Hände und schaute ihr lange in die Augen.»Welche Rolle spieltest du dabei, Judy? Wäre das alles geschehen, wenn ich dich nicht getroffen hätte? Warst du die Ursache dafür oder nur ein Katalysator?«

Sie blickte erstaunt zu ihm auf. Jetzt waren sie wieder am Ausgangspunkt angelangt, wo sie vor vier Wochen begonnen hatten.

«Ist David je wirklich hier gewesen?«murmelte Ben.»Oder war ich es die ganze Zeit? Aber diese merkwürdigen Übereinstimmungen. «Er nahm Judys Gesicht in seine Hände, küßte ihren Mund und flüsterte:»Ich liebe dich. «Sie lächelte und erwiderte seinen Kuß.

«Ich möchte das herausfinden, Judy. Ich will verstehen, was passiert ist. Später setzen wir uns hin und gehen die ganzen Rollen noch einmal durch. Dann werden wir sehen, ob wir nicht irgendeinen Anhaltspunkt, irgendeinen Schlüssel zu dem Ganzen finden. Ich. ich bin nicht mehr derselbe Mensch wie früher. David hat mich verändert. Meinst du, daß es irgendwann ohnehin passiert wäre.?«

«Ich weiß es nicht, Ben.«

«Ich muß noch einmal ganz von vorn anfangen, um zu mir selbst zu finden, Judy. Aber diesmal kannst du mir dabei helfen. «Er küßte sie abermals sehnsüchtig.»Und nun. gibt es noch ein wenig mehr zu lesen. Und dann.«

«Und dann?«

«Dann können wir eine ordentliche Übersetzung tippen und sie Weatherby schicken. Die Ereignisse werden sich bald überstürzen, und dann wollen wir vorbereitet sein. Komm, laß uns jetzt sehen, was Davids letzte Worte waren. «So lasen sie gemeinsam die letzten Zeilen des letzten Teilstücks.

Jetzt, da ich Jonathan die Geschichte persönlich erzählt habe, kann ich mich nicht dazu überwinden, diese Schriftrollen zu zerstören oder den Papyrus rein zu waschen, denn sie sind noch immer ein Teil von mir und noch immer mein Vermächtnis. Doch an wen? An künftige Generationen?

Und ebenso, wie ich meine ersten zwölf Schriftrollen sicher verwahrt habe, werde ich nun auch diese letzte verpacken und sie zusammen mit den übrigen sorgfältig verbergen. Und wenn ein Jude sie eines fernen Tages finden sollte, ist er im Grunde nicht auch mein Sohn?