Saul starb in meinen Armen, noch immer mit demselben Lächeln auf den Lippen, und von diesem Augenblick an beneidete ich ihn. Aber der Tod kommt niemals zu dem, der ihn sucht, und obgleich ich unbewaffnet und ohne nach links und rechts zu sehen durch die Straßen lief und immer noch ein Stück Brot in meinem Gürtel trug, wurde ich nicht behelligt.

Als ich zu Miriams Haus — oder zu dem, was davon übrig war — zurückkehrte, stand ich davor, wie ein Mensch, der den Untergang miterlebt. Ich empfand überhaupt nichts mehr und zeigte beim Anblick des völlig zertrümmerten Hauses keinerlei Gefühlsregung. Oh, welch ein Gemetzel! Wie können Unschuldige zu Opfern eines solchen Überfalls werden? Wer wäre imstande, wehrlose Frauen und Kinder abzuschlachten, sie derart zu verstümmeln und sie so widerlich zu schänden?

Wäre ich in diesem Moment bei vollem Verstand gewesen, hätte mich eine rasende Wut gepackt. Doch jetzt geschah nichts dergleichen. Die letzten paar Stunden hatten mich so abgestumpft, daß ich zu nichts anderem mehr fähig war, als dazustehen und die Grausamkeit und die Zerstörung um mich her zu betrachten. Diese freundlichen, sanften Juden, deren einziges Verbrechen darin bestand, daß sie auf ihren Heiland gewartet hatten, waren wegen ihrer paar Stücke Brot niedergemetzelt worden. Und nicht der römische Feind hatte dies verbrochen, sondern jüdische Glaubensbrüder.

Meine liebe Rebekka lag unter dem Leichnam von Matthäus, der wohl versucht haben mußte, sie kämpfend zu verteidigen, und ihr rotes Haar mischte sich mit dem roten Blut, das ihr aus einer klaffenden Wunde am Kopf strömte.

Und warst du nicht derjenige, lieber Matthäus, der oft sagte, daß jene, die mit dem Schwert leben, auch durch das Schwert sterben werden?

Wie unrecht du damit hattest! Wie unrecht ihr alle hattet! Ich stolperte blind durch den Gesteinsschutt und über die Leichen meiner lieben Brüder und Schwestern, aber Sara und Jonathan fand ich nicht unter ihnen. Wenn sie geflohen waren, wohin mochten sie wohl gegangen sein? Denn nirgends in der Stadt war man mehr sicher. So kniete ich nieder und sprach ein einfaches Gebet. Es gab nichts, was ich hier noch hätte tun können. Die Schlacht war verloren. Und während ich zum letztenmal auf die Leichname meiner Frau und meiner Freunde blickte, fühlte ich, wie eine Flut von Haß und Wut in mir aufwallte, die einen Geschmack, so bitter wie Gift, in meinem Mund hinterließ. So stand ich auf diesem Massengrab, schüttelte meine Faust himmelwärts, und mit einer

Entschlossenheit, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte, verfluchte ich den Gott Abrahams für alle Zeiten.

Die nächsten Stunden, die Stunden vor Tagesanbruch, verbrachte ich damit, nach Sara und Jonathan zu suchen. Doch ich konnte sie nirgends finden.

Wer weiß was ihnen zugestoßen war? Welches ruchlose Schicksal sie ereilt hatte? Ich konnte nur beten, daß sie jetzt tot waren und dies alles nicht länger miterleben mußten.

Und so ergab es sich, daß ich in der letzten Stunde vor Tagesanbruch, als Titus’ Truppen ihre letzten Anstrengungen unternahmen, über die Stadtmauern hereinzubrechen, an das Haus eines Mannes kam, den ich kannte.

Ich hatte ihn oft bei Miriam gesehen. Er war ein guter Jude und ein Pharisäer, der an die Rückkehr des Messias glaubte. Drinnen in seinem Haus hatten sich viele Menschen versammelt, die mit vor Angst geweiteten Augen in der Dunkelheit kauerten. Als er mich erkannte, lud er mich ein, hineinzukommen. Er sagte:»Wir haben für uns alle noch eine Scheibe Brot und ein wenig Opferwein übrig, den wir versteckt hielten. Wir werden jetzt das Abendmahl abhalten und beten. Willst du dich zu uns gesellen?«

Ich nahm die Einladung an, und weil ich einst Schüler im Tempel gewesen war, bot ich ihnen an, sie beim Gebet anzuleiten. Ich brach die kleine Scheibe Brot in winzige Stückchen und verteilte sie an die Versammelten mit den Worten:»Dies Brot ist der Leib des Messias, der eines Tages das Abendmahl mit uns teilen wird.«

Dann schenkte ich den letzten Wein in ein paar Becher, und als ich dies tat, schaute ich in die Gesichter der Anwesenden. Es waren jämmerliche, verhungernde Gestalten, die aus verwirrten Augen vor sich hin starrten. Und als ich sie so anblickte, sah ich wieder die Leichname von Rebekka und Jakobus und Philippus und all der anderen vor mir, die einst so hoffnungsvoll gewesen waren wie diese. Dann erinnerte ich mich an den Beutel mit dem weißen Pulver, den ich eigentlich Saul zugedacht hatte und den ich noch immer in meinem Gürtel trug. Und in einem unbeobachteten Augenblick schüttete ich das ganze Pulver in die Becher. Dann reichte ich den Wein herum, so daß jeder von ihnen trinken konnte und sprach:»Dieser Wein ist das Blut des Erlösers, der eines Tages das Abendmahl mit uns teilen wird.«

Und nachdem der Besitzer des Hauses das Gift getrunken hatte, fragte er mich:»Willst du nicht mit uns vom Blute des Messias trinken?«

Und ich erwiderte:»Ich werde aus dem Becher meines Meisters trinken.«

Er richtete einen verwirrten Blick auf mich, und einen Augenblick später verschied er friedlich.

Es befanden sich ihrer neunundachtzig in diesem Haus, von einem steinalten Greis bis zu einem sechsjährigen Kind. Und alle waren sie tot, bevor ich an die kühle Morgenluft heraustrat. Wie lange ich durch die Straßen irrte, über Leichen stolperte und im Dreck ausrutschte, vermag ich nicht zu sagen. Auch weiß ich nicht, wie ich es schaffte, unversehrt durchzukommen, außer daß dies vielleicht die Strafe war, die der Herr für mich ausersehen hatte. Und so lautete der Urteilsspruch für mein Verbrechen, daß ich bis ans Ende meiner Tage mit der Last des Schuldgefühls für die Missetat leben sollte, die ich begangen hatte. In der reinen, schneidenden Morgenluft gingen mir plötzlich die Augen auf. Und als ich erkannte, was mein wahres Verbrechen in dieser Nacht gewesen war, wußte ich, daß ich ein zur Vergessenheit verdammter Mann war.

Denn mein Verbrechen hatte nicht darin bestanden, jene neunundachtzig Menschen in dem Haus zu töten, sondern darin, sie der letzten Möglichkeit beraubt zu haben, den

Messias zu sehen. Ich fiel auf den Pflastersteinen auf die Knie, zerriß meine Kleider und heulte laut.

Weil ich, David Ben Jona, eine Nacht lang aufgehört hatte, an das Kommen des Messias zu glauben, hatte ich diesen gütigen Menschen ihre letzten paar Stunden der Hoffnung genommen! Während sie noch lebten, hätte er kommen können. Nur weil ich den Glauben verloren hatte, bedeutete dies nicht, daß der Messias niemals käme.

Und dies, mein Sohn, war deines Vaters scheußliches Verbrechen, die niederträchtige Tat, die ihn aus der Gemeinschaft der Menschheit ausgestoßen hat.

Ich trommelte mit den Fäusten auf den Boden, bis sie bluteten, und schlug mit Steinen gegen mein Gesicht und meine Brust. Doch David Ben Jona war es nicht vergönnt, zu sterben. Nicht nach dem unverzeihlichen Verbrechen, das er an neunundachtzig Nazaräern verübt hatte.

Im nächsten Augenblick wußte ich, was ich zu tun hatte, denn es war, als wäre ich nicht mehr länger Herr meiner selbst, sondern folgte den Weisungen einer unsichtbaren Kraft. Ich mußte Jerusalem verlassen. Es stand mir nicht zu, schon jetzt zu sterben, denn derselbe Gott, den ich kurz zuvor verflucht hatte, wollte nun an mir Rache nehmen.

Mir kam der Gedanke, wie ich fliehen konnte. Es war Gottes Plan, und ich befolgte ihn widerspruchslos.

Um aus Jerusalem zu entkommen, mußte ich den Weg durch eines der Stadttore nehmen, vor denen die römischen Streitkräfte lagen. Und nur auf eine Art konnte man unversehrt durch die feindlichen Lager gelangen, welche die Stadt umringten: als Aussätziger. Der Plan eröffnete sich mir wie in einem Traum, denn ich war in keiner Weise um meine Sicherheit oder um mein Leben besorgt — ich sehnte den Tod sogar herbei —, und doch erkannte ich, daß ich auf diese Weise aus der Stadt entkommen sollte. Daher wußte ich, daß es Gottes Plan war.

Gemäß dem dreizehnten Kapitel des dritten Buches Mose zerriß ich meine Kleider, entblößte mein Haupt und verhüllte meinen Bart. Dann ging ich durch die Straßen und rief aus:»Unrein! Unrein!«wie es im Gesetz geschrieben steht.

Als ich mich dem Joppe-Tor näherte und mich nicht weit vom Palast des Herodes befand, bemerkte ich, daß die Menschen vor mir die Flucht ergriffen. Ich lief wie im Traum, ohne Hast und völlig achtlos, denn alles Leben war von mir gewichen, und mein Körper war wie aus Holz. Dennoch machte man mir den Weg frei. Niemand wagte es, mich aufzuhalten, und das Tor wurde mir von den Zeloten, die es bewachten, geöffnet. Sie waren ein roher, abgezehrter Pöbelhaufen mit ungekämmten Bärten und blutgetränkter Kleidung. Sie musterten mich geringschätzig und machten unflätige Bemerkungen, als ich vorüberging.

Als das Tor sich hinter mir schloß, sah ich vor mir die furchterregenden Lager der Römer, Zeltreihen und frühmorgendliche Feuer, soweit das Auge reichte. Ich rief:»Unrein! Unrein!«und ging mitten hindurch. Als ich auf die Straße nach Damaskus zuschritt, begegnete ich zwei widerlich anzusehenden Söldnern, die mit ihren frisch geschliffenen Schwertern herumfuchtelten und mich argwöhnisch betrachteten. Da sie einen gängigen griechischen Dialekt sprachen, konnte ich verstehen, was sie sagten. Der eine wollte mich aufschlitzen und meine Gedärme nach Gold durchsuchen, doch der andere hatte Angst, sich mir zu nähern. Der erste meinte, ich könne mich ja nur verkleidet haben, doch der andere hielt dagegen, daß er das Risiko nicht eingehen wolle. Und so kam es, daß ich die Straße nach Damaskus unversehrt erreichte, denn nicht einmal Römer sind gewillt, einen Aussätzigen zu berühren.

Wie lange ich unterwegs war, kann ich nicht sagen, aber es ist ein langer Weg von Jerusalem nach Galiläa, und ich sah die Sonne viele Male auf- und untergehen. Weil ich Nahrung brauchte, legte ich meine Verkleidung als Aussätziger nach einer Weile ab und zog als Bettler durchs Land. Ein wenig Getreide hier, eine Brotrinde da und Wasser, wenn ich gelegentlich auf einen Brunnen stieß. Und allenthalben sah ich die durch die Römer verursachte Zerstörung. Und als ich so dahin wanderte, kam ich zu der Erkenntnis, daß ich ein noch geringeres und noch verachtenswerteres Geschöpf war, als ich bisher geglaubt hatte, denn über meine leichtfertige Flucht aus Jerusalem und meine ziellose Wanderung nach Norden hatte ich Sara und Jonathan völlig vergessen. Und damit hatte ich das einem sterbenden Freund gegebene Versprechen gebrochen. Welche Greuel Sara und Jonathan auch immer erleiden mußten, es war meine Schuld, denn hätte ich zu meinem Wort gestanden, hätte ich sie zusammen mit mir gerettet.

Irgendwie schlug ich mich bis Magdala durch — wie, das werde ich wohl niemals erfahren. Es gab da eine nicht zu mir gehörende Kraft, die mich lenkte, denn wenn es allein nach mir gegangen wäre, hätte ich mich am Wegrand niedergelegt und wäre wohl schon lange tot. Doch mein Überleben entsprach weder meinem eigenen Wunsch, noch war es dem Schicksal zuzuschreiben. Und trotzdem erreichte ich schließlich das leere Haus meines Vaters und ein Dorf, das von Krieg und Plünderung gezeichnet war. Aus der verlassenen Synagoge nahm ich diese Schriftrollen, denn plötzlich wußte ich, welchem Zweck ich dienen sollte. Gott der Herr hatte mich nur aus einem Grund gerettet: Ich sollte alles, was geschehen war, nieder schreiben. Warum ich dies tun sollte, weiß ich auch nicht. Doch ebenso wie es der Plan des Herrn war, daß du mein Sohn sein solltest, Jonathan, so muß es auch sein Plan gewesen sein, daß du das Leben deines Vaters in allen Einzelheiten erfahren solltest. Und so habe ich alles für dich aufgeschrieben. Wenn Sara dir die Wahrheit sagt, wirst du vielleicht kommen und nach mir suchen. Und auf der Suche wirst du diese Schriftrollen finden. Und erinnere dich, mein Sohn: Nicht dir obliegt es, zu richten, sondern Gott allein. Und Gott war es auch, der das Schicksal vorherbestimmte, das Jerusalem widerfuhr. Denn wie schon der Prophet Jesaja sagte:»Siehe, der Herr leert und verheert die Erde, er kehrt ihr Angesicht um und zerstreut ihre Bewohner. Die Erde wird entleert und völlig ausgeplündert; denn so hat der Herr Wort gesprochen. Nur Verödung ist in der Stadt zurückgeblieben, in Stücke ist das Tor zerschlagen. «Sei dir stets eingedenk, mein Sohn, daß du ein Jude bist, so wie ich ein Jude bin, so wie mein Vater ein Jude war. Du wirst auch weiterhin auf den Messias warten. Ich weiß, daß Sara es dich lehren wird. Und an dieser Stelle muß ich dich noch einmal eindringlich warnen: Schaue nicht nach Rom. Wir in Jerusalem waren diejenigen, die den Meister zu seinen Lebzeiten kannten, doch mit uns ist es jetzt vorbei. Simon ist tot, Jakobus ist tot, und von den Zwölfen sind auch alle tot. Es lebt heute niemand mehr, der ihn kannte. In deiner jugendlichen Unschuld, fürchte ich, wirst du deinen Blick auf die Heiden richten, denn auch sie benutzen das Wort Messias. Aber halte dir stets vor Augen, mein Sohn, daß sie uns nur nachgeahmt haben. Während Jerusalem auf einen Mann wartete, wartet Rom auf ein Traumbild.