Handgelenk zu zeigen.»Weil du nun ein Mann bist«, hatte sie ihm in Jiddisch gesagt.»Weil du jetzt über solche Dinge Bescheid wissen solltest. «Und sie hatte ihm die fleckigen Narben gezeigt, die von den Bissen wilder Hunde an einem Ort namens Majdanek herrührten.

Als das Telefon klingelte, sprang Ben mit einem Satz auf und vertrieb Poppäa von seinem Schoß. Er taumelte auf steifen Beinen zum Telefon und rieb sich das Gesicht, bevor er abnahm. Überrascht bemerkte er, daß ihm eine Träne über die Wange lief.»Hallo, Schatz! Nun, wie lautet der Urteilsspruch?«Für einen Moment wußte er nicht, wer am Apparat war, doch dann antwortete er schwerfällig:»Keine Rolle, Angie.«

«O toll!«freute sie sich.»Dann also San Diego?«

«Na ja. San Diego. Aber erst morgen früh. Jetzt bin ich zu müde.«

«Großartig. Bis morgen also. Tschüß, Liebling. «Seine Lippen formten das Wort» Auf Wiedersehen«, aber seine Stimme versagte ihm. Ben stand lange am Telefon und starrte vor sich hin wie unter Hypnose. Dann kam er langsam wieder zu sich und erkannte, daß er eine Zeitlang auf der Couch geschlafen haben mußte. Es war fast sieben Uhr abends.

Im Augenblick wollte er nur eines, und zwar diese Erinnerungen aus seinem Gedächtnis vertreiben. Den Schrecken und die Qual des Konzentrationslagers vergessen. Die Trübsal seiner Kindheit wegwischen. Und Rabbi Salomon Liebowitz hinter die verschlossene Tür zurückdrängen. Es war nicht gut, die Vergangenheit wieder auszugraben. Es machte einen nur unglücklich und trieb einem die Tränen in die Augen.

Er schaltete eine Menge Lichter an und legte eine BeethovenPlatte auf. So gelang es ihm, die Schwermut und die Stille ein wenig zu vertreiben. Als er die Gedanken an die Gesichter von seiner Mutter und Salomon Liebowitz jedoch nicht verdrängen konnte, wurde ihm bewußt, daß er den Abend nicht allein verbringen wollte. Er wählte die drei ersten Ziffern von Angies Nummer, legte dann aber wieder auf. Er dachte einen Augenblick nach und holte schließlich auf gut Glück das Telefonbuch hervor, um nachzusehen, ob sie darin aufgeführt war. Überraschenderweise fand er sie. Das heißt, wenn die Judith Golden aus dem Telefonbuch die war, nach der er suchte.»Hallo?«

«Judy? Hier ist Ben Messer.«

«Ach, hallo, wie geht es Ihnen?«

«Prima. Hören Sie, ich weiß, es ist Samstagabend, und wahrscheinlich haben Sie schon etwas vor. Aber ich könnte Ihre Hilfe gebrauchen.«

Sie antwortete nichts.

«Es geht um die Schriftrollen«, fuhr er weniger zuversichtlich fort.»Weatherby hat mich um einen Tätigkeitsbericht gebeten, und ich fürchte, wenn ich meine Aufzeichnungen selbst tippe, würde ich eine Woche dazu brauchen. Und so habe ich mich gefragt, ob Sie nicht.«

«Aber mit Vergnügen. Ihre Schreibmaschine oder meine?«

«Nun, ich habe eigentlich eine sehr gute. Sie ist elektrisch und.«

«Wunderbar! Um wieviel Uhr soll ich vorbeikommen?«

Ben seufzte erleichtert.»Ist in einer halben Stunde zu früh?«

«Nein, das paßt ausgezeichnet.«

«Ich werde Sie natürlich dafür bezahlen.«

«Nicht nötig. Lassen Sie mich nur am Ruhm teilhaben. Und vergewissern Sie sich bitte, daß Sie meinen Namen richtig buchstabieren. Bis gleich, Dr. Messer.«

«Bis gleich und vielen Dank.«

Nachdem er aufgelegt hatte, war er nicht sicher, ob er das Richtige getan hatte. Eigentlich war er sich nicht einmal sicher, warum er es getan hatte. Wie so oft in letzter Zeit, war er einer plötzlichen Eingebung gefolgt, und nun war es zu spät, um alles rückgängig zu machen.

Ben begab sich langsam ins Wohnzimmer. Er befand sich in einem Zwiespalt, mit dem er sich abfinden mußte: Einerseits wollte er allein sein, andererseits verspürte er gleichzeitig das Bedürfnis nach Gesellschaft. Poppäa war nicht genug, und Angie war zuviel. Vielleicht würde Judy irgendwo dazwischen liegen. Wenn sie am Wohnzimmertisch tippte und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerte und er selbst im Arbeitszimmer saß, dann könnte vielleicht ein vernünftiges Gleichgewicht gefunden werden.

Ben wollte sich nicht eingestehen, daß das Tippen des Tätigkeitsberichts nur ein Vorwand war, um Judy bei sich zu haben. Tief in seinem Innern keimte ein unerklärliches Bedürfnis nach Judy Goldens Gesellschaft, so daß er Gründe und Entschuldigungen erfand, um in ihrer Nähe zu sein.

Ben konnte nur noch daran denken, daß er diesen Abend nicht allein verbringen wollte. Denn Salomon Liebowitz würde niemals freiwillig in seinen Verschlag zurückgehen. Und genausowenig würde Rosa Messers Stimme schweigen.»Sie folterten deinen Vater, Benjamin! Sie folterten ihn zu Tode!«

Ben drehte den Plattenspieler auf — Beethovens siebte Symphonie — und summte mit. Geräuschvoll spülte er in der Küche ein paar Tassen aus und setzte eine frische Kanne Kaffee auf.

«Und was sie mir angetan haben!«schrie Rosa Messers Stimme aus der Vergangenheit.»Eine Mutter sollte das ihrem Sohn nicht erzählen. Aber ich bin damals mit deinem Vater zusammen gestorben. Ich bin an dem gestorben, was die

Deutschen deinem Vater und mir antaten! Ich bin nicht mehr lebendig, Benjamin! Eine Frau sollte nicht durchmachen müssen, was ich durchgemacht habe! Du lebst mit einer Toten, Benjamin!«

Judy Golden mußte sehr laut klopfen, um gehört zu werden. Ben begrüßte sie mit gezwungener Begeisterung. Und zu seiner Überraschung war sie trief endnaß.

«Draußen schüttet es!«erklärte sie.»Wußten Sie das nicht?«

«Nein, ich hatte keine Ahnung. Sie kommen genau richtig, der Kaffee ist gerade fertig.«

Er half ihr aus der dicken Jacke, die er an einen Türrahmen hängte, damit sie schneller trocknete. Dann ging er in die Küche, wobei er ihr auf dem Weg etwas über die Schulter hinweg zurief.»Ich kann Sie nicht hören, Dr. Messer. «Judy sah zum Plattenspieler hinüber.»Donnerwetter«, bemerkte sie leise. Er kehrte um und drehte die Lautstärke herunter.»Entschuldigung.«

«Ich wette, Ihre Nachbarn lieben Sie.«

«Ich habe nur einen auf demselben Stockwerk, und der ist selten zu Hause. Nehmen Sie doch Platz. Sie trinken Ihren Kaffee schwarz, nicht wahr?«

Judy ließ sich auf die luxuriöse Couch fallen und legte ihre Füße auf den Diwan. Die Musik auf der Schallplatte war nun in den zweiten Satz übergegangen — diese langsame, klagende Melodie, die selbst den teilnahmslosesten Zuhörer in ihren Bann schlug. Ben holte aus der Küche Kaffee und ein paar Kuchenstücke, die er zuvor aus dem Tiefkühlfach genommen hatte.

«Sie haben hoffentlich schon zu Abend gegessen. Ich dachte nicht.«

«O ja.«

«Sie haben keine Verabredung oder irgend etwas abgesagt, um herzukommen.?«Seine Stimme wurde schwächer. Judy sah ihn belustigt aus den Augenwinkeln an.

«Ich bin eigentlich nicht der Typ, der sich ständig verabredet. Ich habe genug an meinen Büchern und an Bruno, danke.«

«Bruno?«

«Mein Zimmergenosse.«

Er griff nach einem Stück Kuchen und hatte es schon fast zum Mund geführt, als die eine Hälfte abbrach und in seinen Schoß fiel. Er schaute einen Augenblick verdutzt drein, brach aber gleich darauf in schallendes Gelächter aus. Als sie gemeinsam versuchten, alle Krümel von der weißen Couch und dem weißen Vorleger aufzuklauben, meinte Ben:»Ich wette, daß Sie mit Bruno als Zimmergenossen keine Verabredungen mehr brauchen.«

Judy schaute auf.»Was?«Dann lachte sie noch lauter.»Oh, Dr. Messer! Bruno ist ein Schäferhund!«Ben sagte:»Ach so «und lachte ebenfalls.

Sie hatten sich schnell wieder gefangen und lehnten sich zurück, um Beethovens Klängen aus dem Plattenspieler und dem Regen am Fenster zu lauschen. Ben erlaubte sich, den Kopf zurückzulegen, um sich zu entspannen, und nach einer kurzen Weile hatte er vergessen, daß Judy Golden hier war.

Unzählige Gedanken gingen ihm durch den Kopf, hauptsächlich über seine Liebe zur deutschen klassischen Musik, die er in Kalifornien entdeckt hatte. Damals in Brooklyn hatte er kaum von Beethoven gehört, und allenfalls im Zusammenhang mit etwas Unheilvollem, Hassenswertem. In seiner Jugend war alles, das aus Deutschland kam, schlecht. Volkswagen, Sauerkraut, Bach und Glockenspiele galten allesamt als verabscheuungswürdige Dinge. Sie trugen das Mal des Todes und stanken nach bestialischer Grausamkeit und Unglück.

Nur Jüdisches war gut. Jüdisches war vollkommen, heilig und rein. Und zwischen den zwei Polen — den abscheulichen Deutschen und den geheiligten Juden — war die übrige Welt angesiedelt. Es hatte etwas mit Rosa Messers verzerrtem Bild von den Völkern der Welt zu tun und der Rangfolge, die sie einnahmen. Kein Volk war geringer einzustufen als die Deutschen, denn diese lagen gerade unterhalb der Hölle.»Dr. Messer?«

«Hm? Ah!«Er schnellte mit dem Kopf nach vorn.»Die Platte ist zu Ende.«

«Ach ja, richtig. Ich glaube, ich war in Gedanken. Hören Sie, Sie können jederzeit anfangen zu tippen. Ich weiß nicht, wie lange Sie brauchen werden.«

Sie standen beide auf. Ben ging ins Arbeitszimmer, um die Schreibmaschine zu holen, die in einem Koffer unter seinem Schreibtisch stand. Dann legte er wieder den Telefonhörer neben die Gabel. Mittlerweile dachte er sich gar nichts mehr dabei. Im Wohnzimmer hob er die Schreibmaschine aus dem Koffer, schloß das Stromkabel an und drückte auf den EinSchalter. Die Maschine begann zu summen.

«Sehr schön«, urteilte Judy.»Meine eigene ist eine von diesen alten, schwarz-goldenen mechanischen, die einem brutale Gewalt abverlangen, um eine Taste herunterzudrücken. Das hier ist wie sterben und in den Himmel kommen.«

Er lief nochmals ins Arbeitszimmer und kam mit Schreibmaschinenpapier, Kohlepapier und dem Übersetzungsheft zurück, das er aufgeschlagen auf den Tisch legte. Stirnrunzelnd betrachtete er die erste Seite.»So ein Geschmiere«, murmelte er,»ein fürchterliches Gekritzel. Es sieht fast so aus, als müßten Sie eine ebenso schwere Arbeit beim Entziffern leisten wie ich beim Übersetzen. Und ich habe mich über David Ben Jonas unordentliche Schrift beschwert! Schauen Sie nur das an!«

Judy lächelte, setzte sich vor die Schreibmaschine und begann, mit der Umschalttaste zu spielen. Ben beugte sich über sie und schaute beim Anblick seiner Handschrift noch finsterer drein.»An dieser Stelle habe ich richtig schnell geschrieben, so daß ich einige Wörter zusammenzog. Wissen Sie, David tat das ebenfalls. Beim Übersetzen kann einen das an den Rand der Verzweiflung bringen. Er war ein gebildeter Mann und ein ausgezeichneter Schreiber, doch manchmal, wahrscheinlich wenn er aufgeregt oder vielleicht in Eile war, schrieb er nachlässig — wie ich hier. Nun, das ist das eine, was David und ich miteinander gemeinsam haben. Zuweilen fügte er Wörter zu dicht aneinander, und es kostete mich eine halbe Stunde, um sie zu entziffern. Der geringfügigste Irrtum kann die gesamte Bedeutung eines Satzes verändern. Wie zum Beispiel.«, Ben nahm einen Bleistift und kritzelte eine Folge von Buchstaben oben auf die Seite: Godisnowhere.»Das ist natürlich Englisch, aber es vermittelt Ihnen einen Eindruck von den Schwierigkeiten, auf die ich beim Übersetzen von Davids Aramäisch stoße. Lesen Sie es einmal laut vor. «Judy musterte das Geschriebene eine Sekunde lang und las dann:»God ist nowhere.«(Gott ist nirgendwo.)

«Sind Sie ganz sicher? Sehen Sie nochmals hin. Könnte es nicht auch heißen: God is now here!« (Gott ist jetzt hier.)»Oh, ich begreife, was Sie meinen.«

«Und das verändert die Bedeutung erheblich. Wie dem auch sei, wenn Sie irgendwelche Probleme mit meinem Gekrakel haben sollten, dann brauchen Sie nur zu rufen. Die Abschnitte, die sich Ihnen als wildes Gekritzel präsentieren, sind Stellen, wo ich eine ebensolche Unleserlichkeit in Davids Handschrift antraf.«

«Ich denke, das wird lustig werden.«

«Wenn Sie irgend etwas brauchen, die Küche ist dort drüben, und das Badezimmer finden Sie, wenn Sie da hinten durchgehen. Ich bin im Arbeitszimmer, in Ordnung?«

«Alles klar. Viel Spaß.«

Ben war eben dabei, seine Regale nach einem entspannenden Lesestoff durchzusehen, als es an der Tür klopfte. Es war sein Nachbar, der Musiker, bekleidet mit einem triefendnassen gelben Regenumhang.

«Hallo, Nachbar«, grüßte er,»ich habe da etwas für Sie. Ich war heute nachmittag unten, gerade als der Briefträger wieder einen gelben Zettel in Ihren Kasten stecken wollte. Ich glaubte, Sie seien nicht zu Hause, und wenn es ein Einschreiben ist, könnte es ja wichtig sein. So quittierte ich dafür. «Er zog den schwarzen Umschlag unter seinem Arm hervor.»Andernfalls hätten Sie bis Montag warten müssen, richtig?«

Ben antwortete nicht, sondern starrte nur auf die vertraute Handschrift und die israelischen Briefmarken.