Abschiedsworte zu finden. Es war kein x-beliebiger Besuch gewesen — viel war gesagt und viel offengelegt worden. Jetzt teilte Judy Golden Bens Geheimnisse. Sie stand nicht mehr außerhalb seines Lebens.
Er war einen Kopf größer als sie und mußte deshalb nach unten sehen, um ihr zuzulächeln. Tröpfchen sammelten sich auf seinen Brillengläsern und behinderten seine Sicht, aber er konnte erkennen, daß sie zurücklächelte. Sie verstanden sich wortlos.
Schließlich murmelte sie:»Gute Nacht «und stieg ins Auto. Er trat zurück, als sie den Motor anließ, und winkte ihr nach, als sie abfuhr. Während er ihre Rücklichter allmählich verschwinden sah, flüsterte Ben:»Schalom «und ging langsam in seine Wohnung zurück.
Kapitel Neun
Ben fühlte sich elend, als er am nächsten Morgen erwachte. Er war noch lange, nachdem Judy gegangen war, aufgeblieben und hatte den Rest des Weines ausgetrunken. Dann hatte er sein Gesicht in den Händen vergraben und lange Zeit geweint. Als es ihm irgendwann nach Mitternacht einfiel, daß er in sechzehn Jahren nicht eine Träne mehr vergossen hatte, während er heute gleich zweimal geweint hatte, sank Ben in einen unruhigen Schlaf. Wieder verfolgten ihn merkwürdige Träume, in denen er wechselnde Rollen spielte: zuerst sich selbst, dann David, anschließend seinen toten Vater und zum Schluß seinen toten Bruder. Immer neue schreckliche Erinnerungen kamen in ihm hoch. Je mehr ihm davon in den Sinn kamen, desto schneller folgten andere auf dichtem Fuß nach. Die ganze Strategie des Verdrängens seiner schmerzlichen Vergangenheit war jetzt plötzlich zunichte gemacht. Aus irgendeinem Grund konnte Ben die Vergangenheit nicht länger daran hindern zurückzukommen. Um zehn Uhr hielt er eine Vorlesung über klassisches Griechisch als Hilfe für den Archäologen. Ben zeigte Dias und sprach dazu mit eintöniger Stimme. Die meiste Zeit war er völlig geistesabwesend. Er dachte fortwährend an David zu Eleasars Füßen in Salomons Tempel; an David, der für die Witwe Wasser trug; an Eleasars tiefe Zuneigung zu seinem jüngsten Schüler; an Rebekka.
Später in seinem Büro dachte Ben hinter verschlossener Tür inmitten einer Wolke aus Pfeifenrauch an seine Vergangenheit. Vor einundzwanzig Jahren, als er und Salomon durch den braunen Schneematsch von Brooklyn gestapft waren, hatten ihnen die halbwüchsigen Söhne polnischer Einwanderer nachgerufen:»Wir werden’s euch zeigen, ihr Jesus-Mörder!«
An jenem Abend, als sie am Küchentisch ihr einfaches Mahl einnahmen, hatte Ben seine Mutter gefragt, was die polnischen Jungen damit gemeint hatten. Seine Mutter hatte Gabel und Messer sinken lassen und ihren Sohn müde angeschaut.»Die Gojim verehren einen toten Juden als Gott, Benjamin, und sie sagen, wir hätten ihn umgebracht.«
«Wo ist das passiert? In Polen?«
Ein schmerzliches Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht.»Nein, Benjamin. In Polen waren es die Juden, die von den Gojim ermordet wurden. Der Mann, von dem sie sprechen, lebte vor vielen hundert Jahren. Die Römer haben ihn gekreuzigt, weil er die Stimme gegen Cäsar erhoben hatte. Aber irgendwie«, sie schüttelte traurig den Kopf,»wurde die Geschichte im Laufe der Zeit verdreht, und den Juden wurde statt dessen die Schuld zugeschrieben. «Ben hatte die JesusGeschichte nie zuvor gehört und fragte sich, was eigentlich so Besonderes an ihm sei, daß Millionen von Christen daran glaubten. Rosa Messers Kenntnis war spärlich, und sie sah diese Dinge ohnehin verzerrt. Da Ben keine nichtjüdischen Freunde hatte und da seine eigenen Freunde von Jesus ebensowenig wußten wie er, hatte er versucht, sich aus anderen Quellen Klarheit zu verschaffen.
«Benjamin Messer, du solltest dich nicht selbst beflecken, indem du auf die Worte der Nichtjuden hörst«, hatte ihn einer seiner Jeschiwa-Lehrer ermahnt.»Es genügt schon, zu wissen, daß sie den Bund, den Abraham mit Gott schloß, entweihten und durch einen eigenen, falschen ersetzten. Die Lügen der Gojim kann man nur dadurch bekämpfen, daß man die Thora studiert und ihre heiligen Gesetze einhält.«
Nirgends war Ben imstande gewesen, seinen Wissensdurst über den Jesus der Christen zu stillen. Und so hatte er beschlossen, in der Bibel zu lesen. Im verborgensten Winkel, den er ausmachen konnte, uneinsehbar für jegliche Juden, die vielleicht zufällig vorbeikommen mochten, hatte Ben mit der vor sich aufgeschlagenen Bibel in der öffentlichen Bibliothek gesessen.
Seine Lehrer und Rabbiner hatten ihn gelehrt, daß die Thora nur gegen die Gojim verteidigt werden konnte, wenn man sie auswendig lernte, ihre Gesetze streng einhielt und die Verunreinigung durch christliche Worte vermied. Aber das hatte Ben nicht zufriedengestellt, und seine Neugierde hatte ihn dazu getrieben, eine Tat zu begehen, die seine Lehrer entsetzt hätte. Ben hatte in seinem Innern gespürt, daß er wissen mußte, was die Gojim überhaupt sagten und woran sie glaubten. Der Feind mußte ebenfalls studiert werden.
So hatte Ben in seiner Neugierde und seinem Drang, zu verstehen, was Juden von Christen trennte, an einem winterlichen Tag das Neue Testament gelesen.
Es klopfte an der Tür, und eine vertraute Stimme fragte:»Dr. Messer? Sind Sie da drinnen?«
Er sprang auf und öffnete die Tür. Davor stand Judy Golden.»Dr. Messer, es ist vierzehn Uhr fünfzehn. Ich dachte mir, daß ich Sie vielleicht hier antreffen würde.«
«Was?«Er schaute hinaus zur Uhr.»Ach du lieber Himmel, wo bin ich gewesen?«
«Der ganze Kurs wartet schon.«
«Gehen wir. «Er schnappte seine Aktentasche, und sie eilten durch die Halle davon.
Nachdem er sich bei den Studenten in fast übertriebener Weise entschuldigt hatte, begann er unbeholfen mit seiner Vorlesung. Er war völlig unvorbereitet, war aber durch seine Erfahrung in der Lage, der Stunde den Anschein einer organisierten Vorlesung zu geben. Sein Blick ruhte ständig auf Judy Golden, die ihn ebenfalls nicht aus den Augen ließ. Und während er sprach, achtete er genau auf die Uhrzeit.
Die Post würde bald kommen. Rolle Nummer sechs würde eintreffen und auf dem Postamt darauf warten, daß er sie mit dem gelben Zettel abholen käme. David Ben Jona würde wieder einmal zu ihm sprechen.
David Ben Jona. Ben hatte letzte Nacht viel von ihm geträumt. Er hatte sich als David im alten Jerusalem gesehen, wie er mit Saul und Rebekka durch die Straßen schlenderte. An warmen Sommerabenden saß er in Magdala bei Rosa Messer, die über einem offenen Feuer Fisch briet. Im Traum hatte er viele Geschwister und eine glückliche Kindheit. So wohltuend war diese Vorstellung gewesen, daß Ben traurig war, als er beim Erwachen feststellte, daß er nur geträumt hatte.
Nach zwei Stunden, die Ben wie eine Ewigkeit erschienen, neigte sich die Vorlesung ihrem Ende entgegen. Es war ihm wirklich nicht leichtgefallen, sich zu konzentrieren, denn immer wieder hatte er sich dabei ertappt, wie er von David oder seiner Mutter oder seiner Kindheit in Brooklyn träumte. Es kostete Ben viel Kraft, in der Gegenwart zu bleiben. Und als die Stunde schließlich um war, packte er seine Aktentasche und eilte hinaus zu seinem Auto, noch bevor einer seiner Studenten aufgestanden war.
So hatte der vierzehnjährige Benjamin Messer in seinem Bemühen, zu verstehen, warum die Gojim ihn haßten, ohne ihn überhaupt zu kennen, das Neue Testament gelesen.
Am Anfang war es sehr verwirrend gewesen, denn die ersten vier Abschnitte, die als Evangelien bezeichnet wurden, stimmten nicht genau überein. Sie schienen sich in vielen
Punkten zu widersprechen. Der Teil, der den Titel» Die Apostelgeschichte «trug, war ihm als eine interessante Geschichtsdarstellung erschienen. Doch die daran anschließenden Briefe, die zur Offenbarung führten, beinhalteten keine weitergehende Auskunft über den Mann, den man Jesus nannte. Und so mußte sich Ben einzig und allein auf die vier Evangelien verlassen, in denen er aber trotz seines ernsthaften Bemühens die Grundlage für eine der größten Religionen der Welt nicht erkennen konnte. Daß Jesus ein guter Jude gewesen war, lag auf der Hand. Daß er wahrscheinlich auch Rabbiner gewesen war, erschien Ben ebenfalls einleuchtend. Doch daß sich sein Gerichtsverfahren genauso abgespielt haben sollte, wie es dort geschrieben stand, kam ihm unbegreiflich vor. Irgend etwas paßte nicht zusammen: die nächtliche Zusammenkunft des Synedriums, des Hohen Rats der Juden; die Tatsache, daß ein römischer Statthalter einen Haufen zusammengerotteten Pöbels um seine Entscheidung gebeten haben soll, und die Hinrichtung durch Kreuzigung statt der üblichen Steinigung. Er hatte die vier Evangelien wieder und wieder gelesen und konnte sie inzwischen auswendig. In ihrem Kern, das wußte Ben, lag der Ursprung des unter den Christen verbreiteten Antisemitismus. Denn laut diesen heiligen Büchern hatten sich die Juden des Mordes an ihrem Heiland schuldig gemacht.
Und doch konnte es nicht so sein. Der junge Ben hatte zwar gespürt, daß der Prozeß und die Tötung Jesu unlogisch waren. Doch damals hatte er noch nicht genau ausmachen können, wo das Problem lag. Erst Jahre später auf dem College hatte Ben endlich verstanden. Es war wirklich zu einfach. Die Darstellung in den Evangelien war voll von Irrtümern und falschen Angaben. Zunächst war da das Synedrium, der Hohe Jüdische Rat, der angeblich bei Nacht zusammengetreten sein sollte, was er jedoch nie tat. Zweitens, wenn die jüdischen
Führer Jesus der Gotteslästerung angeklagt und verurteilt hätten (wie sie es laut Markus 14,64 getan hatten), dann wäre die Strafe Tod durch Steinigen gewesen. Drittens, Pilatus stellte ihn allem Anschein nach wegen politischer Vergehen unter Anklage, während der Hohe Rat ganz andere Motive dafür hatte (Markus 15,1-10). Viertens war der Charakter von Pilatus durch die Überlieferung alter Geschichtsschreiber hinreichend bekannt. Daß ein so eigensinniger, überheblicher Mann einen jüdischen Mob bei seinen Entscheidungen zu Rate gezogen und vor dem Pöbel Schwäche gezeigt haben sollte, war wirklich absurd. Und der fünfte Punkt war, daß es sich bei der Kreuzigung um eine Bestrafungsart handelte, die nur von Römern und nur bei dem Verbrechen des Hochverrats angewandt wurde; und an den Querbalken über seinem Kopf war ein Schild genagelt worden, auf dem das Verbrechen Jesu beschrieben wurde — er hatte den Anspruch erhoben, König der Juden zu sein. Ganz klar ein Tatbestand des Verrats.
So stellte sich nun folgende Frage: Wie kam es, daß man mit einemmal die Juden der Ermordung Jesu bezichtigte? Wenn man die Lösung des Problems in den Evangelien vermutete, suchte man vergebens, denn diese waren unlogisch und voll verwirrender Widersprüche. Dennoch konnte man die Antwort leicht herausfinden, wenn man die Erzählung aus den Evangelien in Bezug zum geschichtlichen Rahmen setzte.
Das Markus-Evangelium war kurz vor der Zerstörung Jerusalems verfaßt worden, als in Rom eine heftige antijüdische Stimmung geherrscht hatte. Da Markus nicht imstande gewesen wäre, die dortigen Heiden zum neuen Christentum zu bekehren, wenn die römischen Statthalter für die Ermordung des Messias verantwortlich gewesen wären, hatte er einfach die Schuld von Pilatus auf die Juden abgewälzt— eine einfache Lösung, um zu erreichen, daß sein Evangelium in Rom akzeptiert würde. Als Ben sich langsam von seinem
Wagen entfernte, schüttelte er traurig den Kopf. Soviel zu dem Jesusmörder!
Ein Fetzen Papier war an dem großen, etwas mitgenommenen Umschlag befestigt, der Ben entgegenfiel, als er seinen Briefkasten öffnete. Darauf hatte sein Nachbar eine kurze Notiz gekritzelt. Der Postbote war wieder mit einem Einschreibebrief dagewesen und hatte eben den gelben Abholzettel in Bens Kasten werfen wollen, als der Musiker zufällig vorbeigekommen war. Er hatte wieder dafür quittiert.
In unermeßlicher Dankbarkeit drückte Ben den Umschlag an sich. Er würde diesem Burschen die teuerste Flasche Wein kaufen, die er finden konnte.
Dann hastete er so schnell er konnte die Treppe hinauf, stürmte in die Wohnung und in sein Arbeitszimmer, wo er sich auf seinen Stuhl fallen ließ und den Umschlag hastig aufriß. Obenauf lag die übliche schlecht getippte Mitteilung von Weatherby, und darunter befand sich ein weiterer versiegelter Umschlag. Er war dick und fühlte sich an, als enthielte er eine Menge Fotografien. Ohne die Notiz auch nur zu lesen, warf Ben sie vor sich auf den Schreibtisch, riß den zweiten Umschlag auf und zog liebevoll die Bilder daraus hervor. Vor ihm lag die vertraute Handschrift von David Ben Jona.
Rebekka war ein scheues, stilles Mädchen, das sich in meiner Gegenwart oft schüchtern hinter seinem Schleier versteckte. Ich weiß nicht, wann ich zum erstenmal spürte, daß ich sie liebte, aber es war ein Gefühl, das immer stärker wurde. Ich weiß nicht, was Rebekka für mich empfand, denn sie schlug oft die Augen nieder, wenn ich sie ansah. Für mich war sie wie ein zerbrechliches, kleines Vögelchen, so zart und kostbar. Sie hatte winzige Hände und Füße und kleine Sommersprossen im Gesicht. Und wann immer sie mich aus ihren schönen blaßgrünen Augen ansah, glaubte ich, das Entzücken selbst zu sehen.
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