Als Eleasars Tür hinter mir zufiel, war es, als hätte Gott selbst mir den Rücken zugekehrt. Ohne Eleasar und die Schule, beladen mit Schande und im Bewußtsein, daß ich jetzt weder als Ehemann für Rebekka noch für ein Leben unter Juden in Frage kam, erwägte ich ernstlich, mir das Leben zu nehmen.

Ben fühlte etwas an seiner Wange, und als er daran rieb, fand er eine Träne. Die Wirkung von Davids Worten, den tiefen Eindruck, den sie beim Lesen auf ihn machten, setzten Ben in Erstaunen. Als würde sich die Verzweiflung des alten Juden auf ihn übertragen, fühlte Ben sich innerlich krank und furchtbar elend. Er mußte fortfahren. Er mußte die letzten beiden Teilstücke von Rolle sechs lesen. Doch sein Blick war von Tränen verschleiert, und seine Nase fing an zu laufen. Er brauchte ein Taschentuch.

Ben stand vom Schreibtisch auf und drehte sich um.»Liebe Güte!«entfuhr es ihm.

Angie stand im Türrahmen.»Hallo, Ben«, begrüßte sie ihn mit sanfter Stimme.

«Mensch, was fällt dir eigentlich ein, dich so klammheimlich heranzuschleichen?«Er faßte sich an die Brust.

«Es tut mir leid, aber ich klopfte und klopfte. Ich habe Licht bei dir gesehen. So dachte ich mir, daß du zu Hause sein mußt. Ich bin mit meinem Schlüssel hereingekommen.«

«Wie lange hast du da gestanden?«

«Lange genug, um mich ein paarmal zu räuspern und keine Antwort von dir zu bekommen.«

«Mensch.«, wiederholte er und schüttelte den Kopf.»Für eine Weile war ich wieder in Jerusalem. «Ben nahm das Blatt

Papier, auf das er seine Übersetzung gekritzelt hatte.»Ich erinnere mich nicht einmal daran, das hier geschrieben zu haben. Alles, woran ich mich erinnere, ist, daß ich in Jerusalem war.«

«Ben.«

Er wandte sich zu ihr um.»Ben, wo warst du letzte Nacht?«

«Letzte Nacht?«Er rieb sich das Gesicht. Letzte Nacht, wann war das?» Laß mich nachdenken. Letzte Nacht war ich.. ich war hier. Warum?«

Angie wandte sich ab und ging langsam in das dunkle Wohnzimmer. Eine sternklare Nacht schien durch die offenen Vorhänge hinein, und rundum herrschte eine frostige Stille. Ben wollte ihr folgen, doch dann spürte er, daß er wie magisch an den Schreibtisch zurückgezogen wurde. Als er über die Schulter sah, fiel sein Blick auf den noch unübersetzten Teil von Rolle Nummer sechs im Schein der Leselampe. Er fühlte eine kalte Leere in seinem Innern. Davids Worte hatten ihn völlig niedergeschmettert. Er wollte sich mit Angie auf keine Diskussion einlassen. Er mußte wieder nach Jerusalem zurück.»Ben. «Angie wirbelte herum.»Ich habe dich gestern nacht angerufen, und eine Frau nahm den Hörer ab.«

«Was? Das ist unmöglich. Du hast sicher die falsche Nummer gewählt.«

«Sie meldete sich mit: >Bei Dr. Messer.< Wie viele Dr. Messers, glaubst du, gibt es in West Los Angeles?«

«Aber das ist doch albern, Angie. «Er unterbrach sich mitten im Satz und runzelte die Stirn.»Warte mal. Jetzt erinnere ich mich. Das war wohl Judy.«

«Judy!«

«Ja. Ich bin nach draußen gegangen, um Pizza zu holen.«

«Was für eine Judy?«Angies Stimme wurde lauter.»Eine Studentin von mir namens Judy Golden, die hier war, um etwas für mich auf der Maschine zu tippen.«

«Wie nett.«

«Ach, jetzt stell dich doch nicht so an, Angie. Eifersucht steht dir nicht. Sie hat etwas für mich abgetippt, nichts weiter. Ich habe weder dir noch irgend jemandem sonst Rechenschaft darüber abzulegen, was ich tue.«

«Ganz recht, das hast du nicht. «Obgleich es ihm nicht möglich war, ihren Gesichtsausdruck im Dunkeln zu erkennen, konnte er ihn sich doch anhand des Klangs ihrer Stimme vorstellen. Sie zitterte und versuchte, sich selbst in der Gewalt zu behalten. Die gute, alte leidenschaftslose, sich stets beherrschende Angie.»Bist du hergekommen, um zu streiten? Ist es das?«

«Ben, ich bin gekommen, weil ich dich liebe. Kannst du das nicht verstehen?«

«Werde doch nicht gleich so melodramatisch. Ich lasse eine Studentin Tipparbeiten für mich erledigen, und schon müssen wir uns gegenseitig unsere Liebe beweisen. Lieber Himmel, Angie, kannst du mir nicht einfach glauben und es dabei belassen?«

Ein lähmendes Stillschweigen herrschte im Raum. Angie war verwirrt, bestürzt. Früher war Ben so berechenbar gewesen. Sie hatte stets gewußt, wie er reagieren oder was er sagen würde. Warum war jetzt alles so anders?

Mit matter Stimme stellte sie fest:»Du hast dich verändert, Ben.«

«Und du ziehst falsche Schlußfolgerungen!«Er lachte nervös.»Wenn irgendjemand sich verändert hat, meine Hübsche, dann bist du es. Ich mußte mich dir gegenüber niemals rechtfertigen. Es bestand nie die Notwendigkeit großartiger Liebesbezeugungen. Was ist denn plötzlich in dich gefahren?«

Sie ging auf ihn zu. Als das Licht der Schreibtischlampe auf ihr Gesicht fiel, konnte Ben den seltsamen Blick in ihren Augen erkennen.

«Es geht nicht darum, was in mich gefahren ist«, erwiderte sie langsam.»Es geht darum, was in dich gefahren ist. Oder vielmehr. «Ihre Augen schweiften von seinem Gesicht ab und blieben an einem Punkt über seiner Schulter haften.»Vielmehr. wer in dich gefahren ist. «Eine kleine Sorgenfalte zeigte sich zwischen ihren Augenbrauen, als sie die Stirn runzelte.»Du bist nicht mehr der alte seit der Entdeckung dieser Schriftrollen. Ich kenne dich seit über drei Jahren, Ben, und ich habe geglaubt, dich besser zu kennen als irgend jemand sonst. Aber in den letzten paar Tagen bist du mir vorgekommen wie ein Fremder. Ich bin dabei, dich zu verlieren, Ben, ich verliere dich schnell, und ich weiß nicht, wie ich dich zurückholen kann. «Als Ben sah, daß Angie Tränen in die Augen schossen, zog er sie plötzlich an sich und preßte ihr Gesicht gegen seinen Hals. Eine unheimliche Furcht schwebte in diesem Moment über ihm, und es war ihm, als stünde er am Rande eines großen, schwarzen Abgrundes. Er schaute hinunter, konnte aber nichts sehen als tiefschwarze Finsternis. Er klammerte sich wie ein Ertrinkender an Angie und schwankte zwischen Vernunft und Wahnsinn, zwischen Wirklichkeit und Alptraum. Ben erkannte in diesem Augenblick, daß er selbst jetzt, da er versuchte, sich an Angie festzuhalten, immer weiter an den Rand des Abgrunds glitt.

«Ich weiß nicht, was es ist, Angie«, murmelte er verwirrt in Angies duftendes Haar.»Ich kann nicht von diesen Schriftrollen lassen. Es ist fast, als ob. als ob.«

Sie wich zurück und schaute mit tränenüberströmtem Gesicht zu ihm auf.»Sag’s nicht, Ben!«

«Ich muß, Angie. Es ist fast, als ob David Ben Jona einen Alleinanspruch auf mich erheben würde.«

«Nein!«schrie sie.»Du kannst davon loskommen. Du kannst, Ben. Ich werde dir dabei helfen.«

«Aber ich will ja gar nicht, Angie. Kannst du das nicht begreifen? Von Anfang an wollte er mich besitzen. Und jetzt hat er mich. Ich will nicht vor ihm davonlaufen, Angie. Er ist nun da, und ich kann ihm nicht entkommen. Ich muß herausfinden, was er versucht, mir mitzuteilen.«

Vor Ben gähnte der schwarze Abgrund, und er wußte, daß er im nächsten Augenblick hineinfallen würde.

«Ich werde nicht länger gegen ihn ankämpfen, Angie. Ich muß mich David völlig hingeben. Die Antwort liegt in diesen Rollen, und ich muß sie finden.«

Als Ben in den Abgrund des Vergessens hinabstürzte und die Wirklichkeit weit hinter sich ließ, hörte er noch, wie Angies Stimme ihm von weither zurief:»Ich liebe dich, Ben. Ich liebe dich so sehr, daß ich sterben könnte. Aber ich bin drauf und dran, dich zu verlieren, und weiß nicht einmal, an wen. Wenn es eine andere Frau wäre, wie diese Person, diese Judy, dann wüßte ich, mit welchen Waffen ich mich zu wehren hätte. Aber wie kann ich gegen einen Geist kämpfen?«Er wandte sich von ihr ab, da die magische Anziehungskraft der verbleibenden Fotos wieder auf ihn zu wirken begann. Er mußte zurück zu David.»Bitte, geh nicht weg von mir!«flehte sie.

Ben war über sich selbst erschrocken. Es war, als hätte er keine Kontrolle mehr über seinen Körper. Zum erstenmal in ihrer Beziehung zeigte Angie wahre Gefühle. Der Anblick ihrer blassen, zitternden Lippen und ihrer von Wimperntusche verschmierten Augen erschreckte ihn. Er hatte noch nie erlebt, daß Angie eine solche Szene machte. Er hatte nicht einmal geglaubt, daß sie dazu imstande wäre. Doch da stand sie nun, flehend und in Tränen aufgelöst. Unter anderen Umständen hätte Angies Auftritt Ben tief bewegt, aber in diesem Augenblick verfehlte er seine Wirkung völlig.»Ich kann es nicht ändern, Angie«, hörte er sich selbst sagen.»Ich kann nicht erklären, was es ist, aber es gibt in meinem Leben keinen Platz mehr für irgend etwas anderes als diese Schriftrollen. Ich muß Davids Worte lesen. Er verlangt nach mir.«

«Und ich verlange auch nach dir, Ben. Mein Gott, was geschieht nur mit dir?«

Doch er mußte von ihr weggehen. Er hatte David Ben Jona am Rande des Selbstmords inmitten von Elend und Hoffnungslosigkeit verlassen, und Ben mußte zu ihm zurückkehren. Das Bedürfnis, immer weiter zu lesen, wurde übermächtig. Er konnte sich Davids Einfluß nicht widersetzen.

Ben ließ sich wieder an seinen Schreibtisch nieder und wandte sich den aramäischen Buchstaben zu. Er hörte nicht mehr, wie Angie leise die Wohnung verließ.

Am oberen Rand des nächsten Fotos stand:»Mein Unglück läßt sich nicht mit Worten beschreiben. «Dann schilderte David seine Einsamkeit und Verzweiflung, als er durch die Straßen Jerusalems irrte, ohne einen Freund, ohne einen Ort, wohin er gehen konnte, und — was das Schlimmste war — von Gott verlassen.

«Wegen eines Augenblicks der Schwäche verlor ich alles, wonach ich gestrebt hatte; brachte Schande über mich und meine Familie, verlor die Frau, die ich liebte, und wurde von Gott verlassen. Konnte es ein erbärmlicheres, verachtenswerteres Geschöpf geben als mich?«

An dieser Stelle legte Ben seinen Kopf auf die Arme und schluchzte. Er weinte, als ob er selbst derjenige gewesen wäre, der einsam und allein, ohne Familie oder Freunde, durch die Straßen Jerusalems irrte, der Schande über den Namen seines Vaters gebracht hatte und von seinen Lieben verstoßen wurde; als ob er, Ben Messer, dafür verantwortlich wäre, daß ihm

Gottes Liebe nunmehr versagt blieb. Es riß ihm Herz und Seele aus dem Leib. Ihm war übel, kalt und hundeelend. Indem er David Ben Jonas Leid auf sich nahm, durchlebte Ben Messer noch einmal jenen schrecklichen Tag vor zweitausend Jahren.

Und als er die Last von Davids Not schließlich nicht mehr länger ertragen konnte, sprang er mit einem Satz auf und stolperte blind zum Telefon. Er wählte, ohne nachzudenken, und als sie antwortete, sagte er in einer Stimme, die nicht seine war:»Judy, kommen Sie bitte. Ich brauche Sie.«

Kapitel Zehn

Mein Unglück läßt sich nicht mit Worten beschreiben. Hatte es je zuvor eine elendere Kreatur als mich gegeben, eine solche Schande für die Menschheit? In meiner Trunkenheit hatte ich der Thora den Rücken gekehrt und ihre Gesetze entweiht. So war es jetzt nur gerecht, wenn Gott sich von mir abwandte. Wie betäubt wanderte ich durch die Straßen und klammerte mich an das kleine Bündel mit meinen Habseligkeiten. Ich war völlig verwirrt und hatte keine Ahnung, wohin ich mich wenden sollte. Nach Magdala konnte ich nicht zurückkehren, da ich sonst die Schmach meiner Familie noch vergrößert hätte. Außerdem wußte ich, daß mein Vater mich ohnehin davonjagen würde. Ich wagte nicht, zu meiner Schwester zu gehen und Schande über ihr Haus zu bringen. Ich hatte weder Geld für ein Zimmer in einem Wirtshaus, noch besaß ich die Mittel, um Judäa zu verlassen. Ich hatte kein Talent, keinen Beruf, um mich selbst zu ernähren. Ich konnte nicht länger die sanfte Rebekka anschauen. Und am schlimmsten von allem war, daß Gott mich verlassen hatte. Wegen eines Augenblicks der Schwäche hatte ich alles verloren, wonach ich gestrebt hatte; hatte Schande über mich und meine Familie gebracht, die Frau, die ich liebte, verloren und wurde von Gott verlassen. Konnte es ein erbärmlicheres, verachtenswerteres Geschöpf geben als mich?

Mir blieben nur zwei Möglichkeiten: entweder in der Stadt zu bleiben und um Almosen zu betteln oder aufs Land zu gehen und darauf zu hoffen, mit Feldarbeit etwas Brot zu verdienen. Keine dieser Aussichten war sehr ermutigend, und ich wünschte mir von ganzem Herzen, ich wäre niemals geboren worden. Ich wanderte den ganzen Tag über durch fremde Straßen und stieß dabei auch in mir unbekannte Teile der Stadt vor. Als ich bei Sonnenuntergang vom vielen Laufen erschöpft war, ließ ich mich an einem Brunnen nieder, wo mehrere Frauen gerade ihr letztes Wasser schöpften. Ihr Anblick erinnerte mich an die Tage, die ich damit verbracht hatte, Eleasars Wasservorräte aufzufüllen, und daran, wie ich es damals eingerichtet hatte, in der gleichen Zeit auch der Witwe das Wasser nach Hause zu tragen. Die Schekel, die sie mir bezahlt hatte, befanden sich unter denen, die ich, völlig kopflos, in der Nacht zuvor Salmonides gegeben hatte. Und der Gedanke daran erfüllte mich mit bitterem Schmerz.