Plötzlich hielt er mitten in seiner Rede inne.»Sie denken, ich bin verrückt, nicht wahr?«

«Nein, das tue ich nicht.«

«Dann sagen Sie mir, was Sie davon halten?«

«Ehrlich?«

«Ehrlich.«

«Nun, ich denke, daß die Rollen bei Ihnen auf die eine oder andere Weise Erinnerungen an Ihre Vergangenheit wachgerufen haben. Erinnerungen, die Sie lieber vergessen wollten und die Sie bis heute verdrängen konnten. Vielleicht sind es sogar Schuldgefühle.«

«Schuld!«

«Sie haben mich doch darum gebeten, ehrlich zu sein. Ja, Schuld.«

«Weswegen?«

«Wegen der völligen Ablehnung Ihrer Vergangenheit und Ihres jüdischen Erbes. Als Kind wurden Ihnen jüdischorthodoxe Verhaltensregeln eingeschärft, und dann, ganz plötzlich, kehrten Sie dem allen den Rücken. Sie haben sich so weit davon entfernt, daß Sie Juden heute beinahe als eine andere Sorte Mensch betrachten und nicht als Ihr eigenes Volk. Haben Sie sich eigentlich nie gefragt, warum Sie Ihr Leben lang danach streben, uralte geistliche Texte zu übersetzen? Sie sind auf der Suche nach Ihren eigenen Ursprüngen. Indem Sie sich mit hebräischen Manuskripten befassen, suchen Sie vielleicht nach Ihren eigenen verlorengegangenen jüdischen Wurzeln«.»Unsinn!«

«Nun, als Sie sich vom Judentum abwandten, gaben Sie es dennoch nicht vollständig auf, oder? Statt dessen gingen Sie es von einer anderen Seite an. Jetzt sind Sie der unbeteiligte Wissenschaftler, der anstelle des Talmudisten die alten Texte liest. In einer etwas verdrehten Art und Weise haben Sie die Hoffnungen erfüllt, die Ihre Mutter in Sie setzte — nämlich ein Rabbi zu werden. Indem Sie als Paläograph arbeiten, dienen Sie zugleich zwei Persönlichkeiten, dem Juden und dem Nichtjuden.«

«Das ist doch wirklich an den Haaren herbeigezogen! Ich befasse mich mit alten Manuskripten, weil ich von der Jeschiwa her gute Voraussetzungen dafür mitbrachte. Ich hätte ein anderes Sachgebiet wählen können, doch damit hätte ich gute Wissensgrundlagen einfach verkommen lassen. Sie haben noch immer nicht meine Frage beantwortet: Weswegen sollte ich Schuldgefühle haben?«

«Also gut, wenn es nicht wegen des jüdischen Glaubens selbst ist, dann vielleicht wegen Ihrer Mutter.«

«O Gott, meine Mutter! Sie haben ja keine Ahnung, wie es war, von ihr erzogen zu werden! Tag für Tag zu hören, daß die Juden die Heiligen auf Erden seien. Daß alle Gojim böse seien. Um Himmels willen, die Juden haben doch keine Monopolstellung bei der Verfolgung. Sie waren nicht die einzigen, die in Konzentrationslager deportiert wurden. Polen und Tschechen und andere Menschen, die die Deutschen als minderwertig ansahen, wurden vernichtet! Warum zum Teufel müssen wir immer die leidenden Diener Gottes sein?«Diesen letzten Satz hatte Ben so kraftvoll ausgestoßen, daß seine Adern an Hals und Schläfen hervortraten. Dann verstummte er plötzlich, atmete schwer und blickte zu Judy.»Es tut mir leid«, murmelte er.

Er ging zurück zur Couch und ließ sich müde darauf fallen.»So bin ich nie gewesen. David fördert wohl alle in mir aufgestauten Gefühle der Ohnmacht zutage. Es tut mir wirklich leid, Judy. «Sie setzte sich neben ihn.»Ist schon gut.«

«Nein, ist es eben nicht. «Ben ergriff ihre Hände und hielt sie ganz fest.»Ich rufe Sie spätabends an, und dann schreie ich Sie an wie ein Wähnsinniger. Ich weiß wirklich nicht, was in mich gefahren ist. Ich bin wohl tatsächlich verrückt geworden.«

Judy schaute auf ihre eng umschlungenen Hände und fühlte, wie eine sonderbare Wärme sie durchströmte.

«Ich bin besessen«, sagte er.»Ich weiß es, aber ich kann nicht dagegen ankämpfen. David würde es nicht zulassen.«

Wieder wurde Ben von merkwürdigen Bildern und entsetzlichen Alpträumen gepeinigt. Gefangen im Schlaf, war er Zeuge der unglaublichen Greuel im Konzentrationslager, mußte mit ansehen, wie sein Vater grausam umgebracht und seine Mutter brutal gefoltert wurde. Die ganze Nacht lang wurde er von Jahrhunderten jüdischer Verfolgung gequält. Er erlebte mittelalterliche Massaker und Pogrome. Er sah, wie Juden in rasenden Ausbrüchen christlichen Glaubenseifers dahingeschlachtet wurden.

An einer Stelle erwachte er zitternd, fiebrig und zugleich eiskalt. Seine Bettwäsche war herausgezerrt und zu einem Knäuel zusammengedreht. Wankend lief Ben auf den Flur hinaus und stellte den Thermostat höher. Dann kroch er wieder ins Bett zurück und zog die Bettdecke über sich. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, und er bebte derart, daß das Bett wackelte.»O Gott!«stöhnte er.»Was ist nur los mit mir?«Als er wieder in Bewußtlosigkeit versank, wurde er nur noch stärker von Alpträumen heimgesucht. Er sah sich unter einem Galgen stehen und auf eine bösartige, johlende Menge herabblicken. Ein Mann ohne Gesicht stand neben ihm und rief aus:»Spricht irgend jemand von euch für diesen Mann?«

Und die Menge brüllte zurück:»Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!«

Als ihm die Schlinge des Henkers um den Hals gelegt wurde, schrie Ben:»Nein, nein, ihr habt es falsch verstanden! Matthäus hat das nur erfunden, um Römer zum Christentum zu bekehren. Die Juden waren nicht verantwortlich!«

Doch die Menge grölte abermals:»Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!«und bekundete mit Gebärden, daß es sie nach seinem Tod gelüstete.

Da kam der gesichtslose Mann ganz dicht an Ben heran und flüsterte ihm ins Ohr:»Kapitel siebenundzwanzig, Vers fünfundzwanzig. «Dann straffte sich das Seil, und Ben spürte, wie der Boden unter seinen Füßen nachgab.

Mit einem erstickten Schrei in der Kehle fuhr Ben im Bett hoch. Sein ganzer Körper war schweißgebadet, und die Laken waren klatschnaß.

«Jahrhundertelanges Leiden«, flüsterte er in die Finsternis hinein,»und alles wegen dieser einen Zeile. O Gott, das hätte doch verhindert werden können!«Und er verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte.

Bei Tagesanbruch war er erschöpft und fühlte sich so, als hätte er überhaupt nicht geschlafen. Erinnerungen an die Alpträume verfolgten ihn hartnäckig, als er sich frischmachte und für den Tag vorbereiten wollte. Unter der heißen Dusche grübelte er über die symbolische Bedeutung seiner Träume nach und fragte sich, warum sie nach all den Jahren ausgerechnet jetzt zu ihm zurückkamen. Er nahm keine Notiz von der Unordnung in seiner Wohnung und achtete nicht auf Poppäa, die um Futter bettelte. Wie in Trance saß er über einer Tasse mit bitterem Kaffee. Vor seinen Augen tanzten Bilder aus seinen Träumen — phantastische, unheimliche Szenen von Tod, Verstümmelung und bestialischer Grausamkeit. Sie widerten ihn an und erfüllten ihn mit Trostlosigkeit und Kälte. Ihm war, als ob er persönlich eine Nacht lang die Schmerzen, Qualen und Erniedrigungen aller Juden in zwei Jahrtausenden Geschichte erlitten hätte.

«Alles wegen einer Zeile in einem Buch«, murmelte er über dem Kaffee.»Warum tust du mir das an, David? Warum muß ich leiden?«Vor seinem trüben, teilnahmslosen Blick tauchte das Bild von David Ben Jona auf, einem dunklen, ansehnlichen Juden mit ernsten, nachdenklichen Augen. Er war keine greifbare Erscheinung, sondern eine nebelhafte, durchscheinende Gestalt wie aus einer Fata Morgana. Ben starrte ihn ohne Gemütsbewegung an und sprach ohne Empfindung:»Wenn ich nur wüßte, warum deine Wahl ausgerechnet auf mich fiel, könnte ich es vielleicht noch ertragen. Aber ich weiß es nicht und habe das Gefühl, den Verstand zu verlieren.«

Ben stand langsam auf und wanderte ins Wohnzimmer hinüber. Er legte sich auf die Couch und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Vielleicht würde er bei Tageslicht besser schlafen können. Doch dies war nicht der Fall. Sobald er eingeschlafen war, gingen die Träume aufs neue los. Genauso lebendig, als ob sie sich wirklich ereigneten. Ben war wieder bei seiner Mutter in Brooklyn und erbrach sich im Badezimmer. Sie hatte wieder angefangen, vom Konzentrationslager zu erzählen — immer und immer wieder wie eine Geistesgestörte. Sie berichtete von Greueltaten, die der vierzehnjährige Ben noch gar nicht verkraften konnte. Es war nicht das erstemal, daß er sich so übergeben hatte. Und die ganze Zeit über Rosa Messers weinerliche Stimme:»Für deinen armen toten Vater mußt du ein Rabbiner werden, Benjamin. Er starb, indem er für Juden kämpfte. Nun mußt du seinen Platz einnehmen und die Gojim bekämpfen. «Daß seine Mutter in Majdanek in mancher Hinsicht verrückt geworden war, hatte Ben immer gewußt. Und daß sie mit jedem Jahr, das verging, unausgeglichener wurde, war ihm ebenfalls bekannt. Doch warum er selbst auf ihr Wehgeschrei so heftig reagiert hatte, warum er ihr das für sie so kostbare Judentum ins Gesicht geschleudert hatte, das konnte er bis heute nicht verstehen.

«Weißt du, Benjy«, hatte Solomon Liebowitz bei ihrer letzten Begegnung gesagt,»du bist dir nur selbst nicht ganz klar darüber, warum du dem jüdischen Glauben den Rücken kehren willst.«

«Ich habe nicht gesagt, daß ich ihm den Rücken kehren wolle. Ich werde trotzdem noch Jude bleiben.«

«Aber kein orthodoxer, Benjy, und damit bist du überhaupt kein Jude mehr. Du hast die Thora und die Synagoge aufgegeben, Benjy, und ich kann einfach nicht verstehen, warum.«

Ben hatte die Ohnmacht in seinem Inneren gespürt. Wie konnte er seinem besten Freund Solomon erklären, wie konnte er ihm begreiflich machen, daß er, um von seiner unglücklichen Vergangenheit loszukommen, sich auch vom Judentum lösen mußte? Weil Judentum und Unglück für Ben unentwirrbar miteinander verflochten waren.

«Es wird deine Mutter ins Grab bringen«, hatte Solomon gewarnt.»Sie hat Schlimmeres durchgemacht.«

«Wirklich, Benjy? Hat sie das?«

Dieser letzte Abschied von Solomon war einer der schmerzlichsten Augenblicke in Bens Leben gewesen. Und jetzt, als er sich in seinen Alpträumen verzweifelt auf der Couch wand, strömten all die quälenden Erinnerungen an Rosa Messer und Solomon Liebowitz zu ihm zurück.

Im letzten Traum stand Ben David gegenüber. Der stattliche, bärtige und fein gekleidete Jude sagte in Aramäisch:»Du bist ein Jude, Benjamin Messer, ein Mitglied von Gottes auserwähltem Volk. Es war falsch, dein eigenes Volk durch deine Feigheit im Stich zu lassen. Dein Vater ist im Kampf für die Würde der Juden gestorben. Doch du würdest davor Reißaus nehmen, als handelte es sich um etwas Unreines.«

«Warum verfolgst du mich?«schrie Ben im Schlaf.»Ich verfolge dich nicht. Du verfolgst dich selbst. Kapitel siebenundzwanzig, Vers fünfundzwanzig.«

Das Klingeln des Telefons riß ihn aus dem Schlaf. Er hob völlig verwirrt ab. Am anderen Ende hörte er Dr. Cox’ Stimme klar und deutlich. Es war Nachmittag, und Ben war schon zum dritten Mal nicht zum Unterricht erschienen. Was stimmte nicht? Ben hörte sich selbst als Entschuldigung irgend etwas von Krankheit murmeln. Dann vereinbarte er mit Professor Cox, sich um fünf Uhr in dessen Büro mit ihm zu treffen. Ob er denn persönliche Probleme habe, ob ein Lehrer als Vertretung nötig sei.»Das sieht dir ja überhaupt nicht ähnlich, Ben.«

«Ja, ja, danke. Bis um fünf dann.«

Ben legte auf und wandte sich ruckartig vom Telefon ab. Ein leichter Schmerz rumorte in seinem Kopf und ein noch größerer in seinem Magen. Ohne richtig darüber nachzudenken, lief er schnurstracks in die Küche und durchstöberte die Schränke nach etwas Eßbarem.

Schließlich fand er eine Büchse mit Suppe, leerte sie in einen Topf, stellte den Topf auf den Herd und verließ die Küche. Ihm war so schlecht wie noch nie zuvor in seinem Leben. Es überstieg körperliches Unbehagen bei weitem, denn die Gründe für diese Übelkeit waren in den Abgründen seiner Seele zu suchen. Ben fühlte sich durch und durch krank, gequält von den gräßlichen Alpträumen, die ihn verfolgten.

Er ließ sich auf die Couch zurückplumpsen und starrte wie betäubt vor sich hin. Er war unglaublich müde. Die Uhr an der gegenüberliegenden Wand zeigte noch etwa eine Stunde bis zur Postzustellung an — noch eine Stunde, bevor er wieder in Jerusalem sein, in Davids Haut schlüpfen und der Gegenwart entfliehen konnte. Eine qualvolle Stunde des Wartens auf die nächste Rolle, wenn es überhaupt eine solche geben würde. War Weatherby am Ende angelangt? Ben rieb sich mit den Fäusten die Augen. Irgendwann letzte Woche hatte Weatherby ihm mitgeteilt, er habe vier weitere Rollen gefunden. Wann war das gewesen? Hatte Ben sie etwa schon gelesen?» O Gott, bitte nicht«, flüsterte er.»Mach, daß die Rollen nicht eher enden, als bis ich sie alle gelesen habe. Ich muß herausfinden, was David mir sagen will. Ich muß wissen, warum er gerade mich auswählte.«

Die Stunde verbrachte Ben träumend im Jerusalem der Antike. Er schloß die Augen, legte den Kopf nach hinten und glitt sanft in eine andere Welt hinüber. In West Los Angeles fiel grauer Regen, doch in Jerusalem war es heiß und sonnig. Die Straßen waren staubig und erfüllt von dem ständigen Summen der Fliegen. Hunde schliefen im spärlichen Schatten, und die Bettler waren nirgends zu sehen. Ben ging zusammen mit seinem Freund David spazieren. Sie gingen auf das Tor zu, das zu den Gärten jenseits der Stadt führte. Sie würden der Straße nach Bethanien folgen, den Kidron überqueren und den alten Händler auf dem Ölberg besuchen. Vielleicht würden sie auch im Schatten eines Olivenbaumes etwas Wein trinken und die müßigen Stunden ungestört mit Scherzen und Lachen verbringen. Es war ein gutes Gefühl, einen Nachmittag mit David zu verleben, und Ben kehrte nur ungern in die Wirklichkeit zurück. Nur aus einem Grund tat er es dennoch. Der Postbote würde bald vorbeikommen. Mit einem Satz erwachte er plötzlich wieder zum Leben, stürmte zum Garderobenschrank und zog hastig eine Jacke daraus hervor.»Okay, David, mein Freund. Nun wollen wir hoffen, daß du mich nicht enttäuschst.«