«Wieder Alpträume?«

Er nickte.

Judy wollte gerade weiterreden, da klingelte das Telefon. Ben schien es nicht zu hören. Beim fünften Klingeln nahm Judy den Hörer ab und meldete sich:»Hallo?«Es war Professor Cox.

Judy legte ihre Hand auf die Hörmuschel.»Er sagt, Sie seien um fünf mit ihm verabredet.«

Ben schaute auf seine Armbanduhr.»Ach du großer Gott! Ich kann nicht hingehen. Nicht jetzt. Hören Sie, sagen Sie ihm. sagen Sie ihm, daß es in meiner Familie einen Todesfall gegeben habe und daß ich es vor Schmerz kaum aushalten könne und daß ich verreisen müsse und eine Vertretung für meinen Unterricht brauchte. «Judy starrte ihn mit offenem Mund an.

«Machen Sie schon. Sagen Sie ihm das. Sagen Sie ihm, daß ich mich in ein paar Tagen mit ihm in Verbindung setzen werde und daß es mir wirklich leid tut.«

Sie zögerte abermals, unsicher, was sie tun sollte. Schließlich, als sie sah, daß sie wirklich keine Wahl hatte, setzte sie Professor Cox, so gut sie konnte, auseinander, was Ben gesagt hatte, legte auf und starrte ihn wieder an.»Was ist los?«

«Ihr Unterricht.«

«Ich kann keinen Unterricht geben, Judy. Nicht jetzt. Sie wissen das. Ich kann keine Minute von David lassen — oder besser. er wird nicht von mir lassen. Er verfolgt mich, hält mich gefangen und wird mir keine Atempause geben, bevor ich nicht seine ganze Geschichte kenne.«

Ohne eine weitere Überlegung zu äußern, wandte sich Ben von ihr ab und beugte sich über das nächste Papyrus-Stück. Als er zu lesen begann, musterte Judy ihn eingehend, sah die dunklen Ringe unter seinen Augen, die tiefen Falten, die sich um seinen Mund herum eingegraben hatten. Ben war in den letzten Tagen deutlich gealtert.

Nachdem sie einige Zeit nachgedacht hatte, legte sie ihm schließlich sanft eine Hand auf die Schulter.»Ben?«Er schien nicht zu hören.»Ben?«

«Hm?«Er blickte auf.»Wann haben Sie zum letzten Mal gegessen?«

«Gegessen? Ich weiß nicht. Kann nicht lange her sein. Erst vor. erst vor. «Er runzelte die Stirn.»Ich erinnere mich nicht.«

«Kein Wunder, daß Sie Alpträume haben. Sie müssen ja am Verhungern sein. Ich werde nachsehen, ob ich in der Küche etwas für Sie finde.«

«Ja, ja, das wäre großartig.«

Als sie das Arbeitszimmer verließ, bemerkte Judy, daß es in der Wohnung sehr warm war. Während sie den Thermostat herunterdrehte, warf sie einen Blick ins Schlafzimmer und sah die Verwüstung, die er im Bett angerichtet hatte. Eine Spur aus schmutzigen Kleidungsstücken führte ins Schlafzimmer. Die übersetzten Seiten von Rolle Nummer sechs waren im Wohnzimmer über den ganzen Fußboden verstreut, Kissen lagen überall herum, auf Schritt und Tritt stieß man auf halb geleerte Kaffeetassen und überquellende Aschenbecher. Die Küche sah noch schlimmer aus. Inmitten von Bergen mit schmutzigem Geschirr stand dort auch ein Topf mit kalter Suppe auf dem Herd. Poppäa Sabina hockte zusammengekauert in einer Ecke und starrte Judy aus funkelnden Augen finster und mißtrauisch an. Sie hatte sich vor dem Schreien und Stöhnen ihres Herrchens in Sicherheit gebracht und schmollte nun über einem leeren Futternapf. Judy fütterte die Katze. Als nächstes reinigte sie die kleine Katzenkiste, die ebenso überquoll wie die Aschenbecher. Danach wollte sie sich daranmachen, so etwas wie ein Essen zusammenzustellen. Doch in den Schränken herrschte gähnende Leere.

Als sie das Telefon abermals klingeln hörte, fuhr sie zusammen. Es klingelte dreimal, bevor sich Ben mit gedämpfter Stimme meldete. Im nächsten Augenblick hörte sie ihn schreien:»Laß mich in Ruhe!«, gefolgt von einem Krachen.

Judy rannte ins Arbeitszimmer, wo sie Ben ruhig über die Rolle gebeugt vorfand.»Was ist passiert?«fragte sie atemlos.»Nichts.«

«Aber was war. «Die Frage wurde beantwortet, noch bevor sie sie ganz gestellt hatte. Auf dem Fußboden, an der Wand gegenüber, lag das Telefon, wo Ben es offensichtlich hingeschleudert hatte, nachdem er das Kabel herausgerissen hatte.

«Das erspart die Mühe, ständig den Hörer auszuhängen«, murmelte Judy, als sie das Zimmer verließ und in die Küche zurückkehrte. Da sie sich völlig im klaren darüber war, daß Ben im Augenblick selbst das erlesenste Festessen nicht anrühren würde, beschloß Judy, die Suppe für später aufzuheben. Sie wollte ihn bei der Übersetzung von Rolle sieben nicht stören und beschäftigte sich in der Zwischenzeit damit, die Wohnung in Ordnung zu bringen.

Als eine Stunde vergangen war und noch immer kein Geräusch aus dem Arbeitszimmer gedrungen war, wagte es Judy, einen Blick hineinzuwerfen. Ben saß noch immer über den Papyrus gebeugt, während er unablässig ins Übersetzungsheft kritzelte und seine Augen unverwandt an dem aramäischen Text hingen. Doch noch etwas anderes fiel

Judy auf, etwas, das sie faszinierte, bewog, näher heranzutreten. Unmittelbar vor Ben blieb sie stehen. Was sie sah, verblüffte sie.

Seine Gesichtszüge waren merkwürdig verklärt, und er schien in eine andere Welt zu blicken. Er war wie versteinert, wie ein Mensch, der eine tiefgreifende geistige Offenbarung erlebt. Die bleiche Haut wirkte unnatürlich straff und ließ die blauen Adern an Schläfen und Hals hervortreten. Seine weißen und blutleeren Lippen waren fest aufeinander gepreßt und bildeten eine dünne Linie. In Bens blauen Augen, die starr auf die Schriftrollen gerichtet waren, lag ein ungewöhnliches Leuchten, als ob in ihnen ein fiebriges Feuer loderte. Er atmete kaum und rührte sich nicht. Das einzige Geräusch, das man vernahm, war das Kratzen seines Bleistifts auf dem Papier, während er unleserliche Sätze dahinkritzelte. Kein einziges Mal schaute er auf das Heft oder wandte den Blick von dem Papyrus. Für ihn schien die Zeit stillzustehen. Er war gefangen in einer anderen Welt. Judy hatte so etwas noch nie gesehen und konnte nur darüber staunen. Nach einer Weile — sie hatte keine Ahnung, wie lange sie dagestanden und ihn beobachtet hatte — verließ sie das Arbeitszimmer und setzte sich hinüber ins Wohnzimmer. Sofort war Poppäa Sabina auf ihrem Schoß, dankbar schnurrend und bereit, sich verwöhnen zu lassen. Judy lächelte der Katze zu. Die arme Poppäa Sabina hatte keine Ahnung, was mit ihrem Herrchen vor sich ging.

«Ich weiß es auch nicht«, flüsterte Judy, als die Katze sich an sie schmiegte.»Ich kenne ihn erst seit kurzem, aber ich weiß, daß er sich verändert hat. Oder vielleicht noch dabei ist, sich zu verändern. Ist es schon geschehen oder geschieht es noch? Und dann muß man sich wieder fragen. was geht hier eigentlich vor?«

Als Ben aus dem Arbeitszimmer trat, hatte er das Gesicht eines Menschen, der gerade eine innere Wandlung durchgemacht hat. Er war nicht derselbe Mann, der sich zwei Stunden zuvor hingesetzt hatte, um die Schriftrolle zu Ende zu lesen, obgleich die Veränderungen kaum auffielen. Es war, so dachte Judy bei sich, als ob er sich jedesmal, wenn er eine Rolle las, ein wenig veränderte.»Ich bin froh, daß Sie noch hier sind«, sagte er. Als ob mit jeder der Rollen ein wenig von Ben Messer verlorenginge und ein wenig von etwas anderem an seine Stelle träte.»Ich konnte nicht gehen, ohne Rolle sieben gelesen zu haben«, erwiderte sie ruhig. Ja, es hatte sich tatsächlich eine Wandlung mit ihm vollzogen. Seine seltsam gesteckte Sprechweise war jetzt noch ausgeprägter.

Er nahm ihr gegenüber neben dem Kaffeetischchen Platz und schaute sie mit strahlend blauen Augen an.»Danke, daß Sie mir in dieser schwierigen Lage beistehen.«

«Mochten Sie jetzt etwas essen?«

«Noch nicht. Lesen Sie das zuerst. «Er reichte ihr die Blätter, auf die er seine Übersetzung gekrakelt hatte.»Meine Handschrift wird immer schlimmer.«

Als sie ihm die Seiten aus der Hand nahm und den Text überflog, sah sie, wie er den Mund öffnete, um noch etwas zu sagen.»Worum geht es?«

Er zögerte.»In dieser Rolle gibt es eine neue Entwicklung, Judy. Eine, die, wie ich fürchte, zu Problemen führen wird.«

«Zu Problemen?«

Er stieß einen Seufzer aus.»David erwartet vermutlich eine bestimmte Reaktion von uns, aber das weiß ich nicht genau. Alles, was ich sagen kann, ist, daß es eine Katastrophe gibt, wenn die Zeitungen Wind davon bekommen. Dann wird ein Massenansturm auf Magdala einsetzen.«

Dann tat Ben etwas Merkwürdiges. Sowie er das letzte Wort gesprochen hatte, drehte er den Kopf nach einer Seite, als ob er jemandem zuhörte. Er blickte starr auf die Wand hinter Judy und schien sich auf irgend etwas zu konzentrieren. Ben lächelte und schüttelte den Kopf.

«David will mir keinen Hinweis über den Inhalt der nächsten Rolle geben.«

«David?«

«Ich denke, wir werden unser Lehrgeld bezahlen müssen.«

Judy schauderte unwillkürlich. Bens Stimme klang eigentümlich scharf, so daß es ihr plötzlich ganz kalt wurde.

«Wie dem auch sei, lesen Sie, was ich geschrieben habe, und sagen Sie mir, was Sie davon halten.«

Während ich dastand und zu Salmonides hinüberstarrte, brachte ich keinen Ton heraus. Ich konnte ihn nicht ansprechen, so gelähmt war ich. Jener Abend vor acht Monaten, jene Nacht meines schändlichen Falls, erschien mir nun wie ein Traum. Ich hätte nie erwartet, den skrupellosen Griechen je wiederzusehen. Ich hatte sogar den Vertrag zerrissen, für den ich ihm in meiner Torheit mein ganzes Geld gegeben hatte. Ihn dort am Goldenen Tor stehen zu sehen, so leibhaftig, als wäre ich ihm erst gestern begegnet, traf mich so unerwartet, daß es mir die Sprache verschlug. Aber ich mußte auch gar nicht sprechen. Sowie Salmonides mich erblickt hatte, erhellte sich sein Gesicht zu meiner großen Überraschung, und er kam auf mich zu, als ob wir Freunde gewesen wären, die lange nichts voneinander gehört hatten.»Seid gegrüßt, junger Herr!«rief er mir zu und kam mir mit ausgestreckten Armen entgegen. Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück.»Vergebt mir, junger Herr«, entschuldigte er sich.»In meiner Freude, Euch zu sehen, hatte ich ganz vergessen, welch frommer Jude Ihr seid und daß Euch die Berührung durch einen Heiden verhaßt ist. Aber, bei den Göttern, ich bin froh, Euch zu sehen!«

«Warum?«fragte ich stumpfsinnig.

«Warum? Weil ich die ganze Stadt nach Euch abgesucht habe, Meister. Ich bringe Euch gute Nachrichten und reichlich Gewinn.«

«Was?«fragte ich, immer noch begriffsstutzig.»Die Schiffe sind sicher und ohne ein einziges Korn Verlust in Ostia angekommen. Die Schekel, die Ihr pflanztet, sind tatsächlich zu Sesterzen gewachsen.«

Ich war abermals sprachlos. Salmonides hatte sich also nicht nur getreu an unser Abkommen gehalten, sondern war überdies auch noch bestrebt, mir mein Geld zu geben. Er hatte daran gedacht, daß ich vielleicht nochmals bereit wäre, Geld zu verleihen, und so hatte er alles darangesetzt, mich zu finden. Ich vertraute meine Esel der Obhut eines Freundes an und begleitete Salmonides in die Straße der Geldverleiher, wo man ihm auf seine schriftliche Anweisung zweihundert Denare ausbezahlte. Von dort aus begaben wir uns zu den Geldwechslern beim Tempel, wo die römischen Münzen unter dem wachsamen Auge meines griechischen Begleiters gewogen, geprüft und gegen zweihundert syrische Zuzim eingetauscht wurden. Fünf davon gab ich Salmonides, der sie sogleich mit einem entschuldigenden Achselzucken in Drachmen umwechselte. Danach kehrten wir in eine Schenke ein, wo wir uns im Schatten niederließen und über die Wirtschaft des römischen Reiches diskutierten. Daß ich von solchen Dingen nicht die leiseste Ahnung hatte, war für Salmonides ganz offensichtlich. Trotzdem war er geduldig mit mir. Er sagte:»Ihr habt eine seltene Eigenschaft, mein junger Herr, die ein scharfsinniger Mann wie ich auf Anhieb erkennt. Ihr besitzt eine schnelle Auffassungsgabe und seid gewandt im Umgang mit Zahlen. Seht selbst, mit welcher Leichtigkeit Ihr versteht, was ich Euch erkläre. Die meisten Menschen begreifen das nur langsam und langweilen sich dabei. Doch Ihr interessiert Euch für das, was ich sage, und könnt es leicht im Gedächtnis behalten. Ihr habt den falschen Beruf gewählt, mein junger Herr. Anstelle der Thora solltet Ihr besser den Geldhandel studieren. «So erzählte ich Salmonides, was nach der Nacht meiner Schande geschehen war, und es überraschte ihn, daß Eleasar so hart gegen mich gewesen war.

«Doch Ihr geht auch mit Euch selbst übermäßig hart ins Gericht. Welcher junge Mann verbringt nicht einmal im Leben eine solche Nacht? Und das nicht nur einmal, sondern oft. War denn Euer Verbrechen wirklich so groß — ein kleiner Rausch? Ihr solltet Rom besuchen, wenn Ihr einmal sehen wollt, was wirkliche Sünde ist.«

Doch ich hob abwehrend meine Hand.»Für Juden gelten andere Maßstäbe«, entgegnete ich,»denn wir sind Gottes auserwähltes Volk. Da wir dem Rest der Welt ein gutes Beispiel geben sollen, müssen wir eifrig darauf bedacht sein, das Gesetz zu befolgen. Was wären wir für ein Vorbild, wenn wir uns ebenfalls der Trunkenheit, der Unzucht und anderen schändlichen Taten hingeben würden?«