«Ich weiß einfach nicht, was mit mir los ist. Ich habe nie zuvor so etwas getan. Ich blicke einfach nicht mehr durch. «Wie er so dasaß und den Kopf schüttelte, versuchte Judy sich vorzustellen, was er durchmachte. Sie sah sein gealtertes, blasses Gesicht mit dem Stoppelbart und fragte sich, wie es wohl für einen Menschen sein mußte, wenn man ihm plötzlich seine Identität aus dem Leibe reißt und ihn ohne irgendeinen
Ersatz einfach stehenläßt. Ohne irgend etwas Greifbares, nur mit entsetzlichen Erinnerungen.»Ich erinnere mich«, begann er mit belegter Stimme,»ich erinnere mich noch genau daran, wie meine Mutter und ich am Schabbes im Dunkeln saßen, und wie sie mir immer und immer wieder einschärfte; >Benjy, deine Aufgabe ist es, unter den Juden ein Führer zu sein. Dein einziger Lebensinhalt muß darin bestehen, ein großer Rabbiner zu werden und die Juden zu lehren, die Thora als Schutzschild zu benutzen.««
Er zwang sich zu einem trockenen Lachen.»Sie hatte immer nach Eretz Israel gehen wollen, doch statt dessen war sie in die Vereinigten Staaten gekommen. Sie sprach ständig davon, eines Tages mit ihrem Sohn, dem berühmten Rabbiner, nach Israel auszuwandern. «Er starrte nachdenklich in seinen schwarzen Kaffee.»Ich habe den Teppich bestimmt verhunzt, nicht wahr?«
Judy schaute auf den großen Weinfleck, der den Teppich verunstaltete.»Mit Shampoo müßte man den Flecken schon rauskriegen.«
«Das ist schön, aber im Grunde ist es mir auch egal. «Ben richtete seine blauen Augen auf Judy, und sie sah, wie sorgenvoll sie waren.»Ich hinterfrage es nicht mehr. Es ist einfach geschehen. Wer weiß, warum? Vielleicht ist der Fluch Mose daran schuld. Aber es ist mir gleich. David steht in diesem Augenblick hier neben mir und horcht mit, was ich Ihnen sage. Ich habe keine Ahnung, worauf er wartet, doch ich nehme an, daß ich es erfahren werde, wenn das geschieht, was er erwartet.«
Ben trank wieder ein paar Schluck Kaffee, während sein Blick abermals an dem Teppichflecken haften blieb. Als er endlich die Tasse abstellte, stieß er einen langen, tiefen Seufzer aus.»O David. David«, entfuhr es ihm. In seinen Augen standen Tränen.»Was ist dir vor all diesen Jahren widerfahren? Wie bist du gestorben? Und woher wußtest du, daß du sterben würdest? Du hast einmal daran gedacht, dir das Leben zu nehmen, als es dir unerträglich erschien, weiterzumachen. Ist es das, was am Ende passierte? Hofftest du darauf, im Selbstmord Trost zu finden?«
Judy langte zu ihm hinüber und legte ihre Hand auf die seine. Sehr lange blieben sie so sitzen und starrten vor sich hin.
Tags darauf kam sie am frühen Nachmittag zurück. Sie hatte Bens Wohnung um Mitternacht verlassen, nachdem sie sich vorher noch darum gekümmert hatte, daß er eine Weile schlief. Danach war sie nach Hause gegangen und hatte Vorbereitungen für den Fall getroffen, daß sie ihren Hund Bruno in den nächsten Tagen zu jemandem in Pflege geben müßte. Judy ahnte, daß sie vielleicht bald für längere Zeit von zu Hause weg wäre.
Nach ihren beiden Vorlesungen an der Uni hatte sie in einem Supermarkt eingekauft und traf um Punkt drei Uhr bei Ben ein. Als er auf ihr Klopfen nicht reagierte, kramte sie den Wohnungsschlüssel aus ihrer Tasche, den Ben ihr am Abend zuvor mitgegeben hatte, und öffnete die Tür. In der Wohnung stellte sie zu ihrer Überraschung fest, daß er nicht zu Hause war.
Das Bett war sorgfältig gemacht, das Wohnzimmer ein wenig aufgeräumt, und in der Küche standen frisch gespülte Kaffeetassen. Im Arbeitszimmer stieß Judy dagegen auf das vertraute Durcheinander. Auf dem überquellenden Schreibtisch lag die Post vom Vortag, darunter auch ein ungeöffneter Brief von Joe Randall, dem Mann, der auf eine Übersetzung des alexandrinischen Kodex’ wartete. Ganz oben auf dem unordentlichen Haufen lag ein Stück geblümtes Briefpapier, auf dem in einer weiblichen Handschrift eine kurze Mitteilung geschrieben stand. Es stammte von Angie. Eine Hotelagentur hatte ihr einen Job in Boston angeboten, und sie beabsichtigte, ihn anzunehmen. Dies würde bedeuten, daß sie eine Zeitlang fort wäre. Falls Ben darüber sprechen wollte, wäre sie noch bis morgen abend zu Hause. Dann würde sie aufbrechen.
Ein Stück Klebestreifen auf der Rückseite deutete darauf hin, daß Ben die Notiz wohl an seiner Wohnungstür vorgefunden hatte. Judy gab Poppäa etwas zu fressen und räumte die Lebensmittel weg. Dann verließ sie die Wohnung durch den separaten Küchenausgang. Sie wußte ganz genau, wo sie Ben finden würde.»Hallo«, begrüßte sie ihn, als sie die Hintertreppe herunterkam. Er saß auf der untersten Stufe und hielt bei den Briefkästen Wache.»Hallo«, erwiderte er schwerfällig.»Haben Sie heute nacht besser geschlafen?«
«Nein, ich wurde von denselben grausigen Bildern gequält. Von der Vorstellung, daß der Boden unter meinen Füßen nachgäbe. Von Massenmorden und Verfolgungen. Gott, warum macht David so etwas mit mir?«
«Ich sah den Brief von Randall. Haben Sie den Kodex nicht weiterübersetzt?«Ben schüttelte den Kopf.
Judy setzte sich neben ihn und nickte verständnisvoll. Auch sie hatte das Interesse an dem alexandrinischen Kodex verloren. Der Postbote kam fünfundvierzig Minuten später, und sowie Ben für den Umschlag quittiert hatte, hastete er in Windeseile die Treppe hinauf und ließ Judy weit hinter sich. Oben angekommen, riß er den Umschlag auf, zog die Fotos heraus und warf den Rest auf den Fußboden.
Als Judy zu ihm ins Arbeitszimmer trat, war er eben dabei, sich auf dem Schreibtisch Platz zu schaffen. Mit einer ausladenden Armbewegung fegte er über den Tisch, so daß alles krachend zu Boden fiel. Dann setzte er sich sofort hin, um die Rolle zu lesen. Sein Gesicht war rot vor Begeisterung; seine weit aufgerissenen Augen schienen beinahe aus den
Höhlen zu treten. Er leckte sich die Lippen, als schickte er sich an, einen Festschmaus zu verzehren. Judy hob ein Stück Papier vom Boden auf.»Es ist ein Brief von Weatherby. Wollen Sie ihn lesen?«Er schüttelte heftig den Kopf. Mit seinem Kugelschreiber, der sich rasch über ein sauberes Blatt Papier bewegte, hatte Ben bereits mit der Arbeit begonnen.
«Er schreibt, es gebe danach nur noch eine weitere Rolle.«
«Gut, gut«, gab er ungeduldig zurück, ohne aufzusehen.»Das bedeutet, daß der ganze Spuk morgen vorbei ist.«
«Und er schreibt. «Judy hielt mitten im Satz inne. Im nächsten Augenblick beschloß sie, Ben den restlichen Inhalt des Briefes nicht mitzuteilen, zumindest jetzt noch nicht, weil er doch gerade so wahnsinnig glücklich war und sich wieder dort befand, wo er sich so verzweifelt hinsehnte.
Simon war einer jener frommen Asketen, die in einer religiösen Gemeinschaft am Salzmeer unweit von Jericho leben. Er trug ein makelloses weißes Gewand und praktizierte die bemerkenswerten Wunderheilungen, für welche die Essener bekannt sind. Ich war sofort von ihm beeindruckt, denn obgleich seine Stimme sanft und seine Rede maßvoll war, klangen seine Worte gewichtig, und alles, was er sagte, war von großer Bedeutung.
Als Miriam uns miteinander bekanntmachte, küßte Simon mich auf die Wange und erklärte, daß es sich dabei um ihren Gruß handelte, der bedeutete: Friede sei mit dir, Bruder. Daraufhin wusch er mir die Füße und brach das Brot mit mir. In Jerusalem trifft man nicht selten auf Angehörige der unterschiedlichsten religiösen Sekten, von den extremen Nazaräern, die Samsons Beispiel folgen, bis zu den schwerttragenden Zeloten, welche die Thora mit dem Blut von Israels Feinden nähren. Doch in den vielen Jahren, die ich nun schon in Jerusalem lebte, war ich so mit Eleasar und dem Studium des Gesetzes beschäftigt gewesen, daß ich nicht ein einziges Mal Gelegenheit gefunden hatte, mich mit einem der edlen Essener zu unterhalten.»Wir leben in Erwartung der Endzeit«, erklärte mir Simon,»die jederzeit über uns hereinbrechen kann. Und während einige meiner Brüder im Kloster, in der Wüste und in anderen abgeschiedenen Gemeinschaften bleiben, ziehen meine Freunde und ich unter die Leute und verkünden die Wiederkunft. «Er fuhr fort, mir die Philosophie seiner Sekte auseinanderzusetzen, die darin bestand, Gottes Gesetz in seiner Reinheit zu bewahren und sich für die Wiederkehr des nächsten Königs von Israel rituell rein zu halten. Nach Simons Ansicht und der seiner vielen Freunde stand diese Wiederkehr kurz bevor.
Seine Rede war klar und vernünftig und bewies eine außergewöhnliche Kenntnis des Gesetzes und der Propheten.»Seid Ihr ein Rabbi?«fragte ich ihn.
«Ich bin nur einer der Armen, der Söhne des Lichts, welche die Erde erben werden.«
Die meisten Juden warten auf die Zeit, da Gott seinen Stellvertreter auf die Erde herabsenden werde, um die Vorherrschaft Israels über alle anderen Völker zu verwirklichen. Simon bildete darin keine Ausnahme. In vielerlei Hinsicht erinnerte er mich an Eleasar, der ein Pharisäer war und ebenfalls in Erwartung des Messias lebte. Und doch unterschieden sich ihre Auffassungen in einem Punkt: Während Eleasar von einer Zeit sprach, die noch kommen sollte, behauptete Simon, dem neuen König bereits begegnet zu sein.»Wo ist er?«erkundigte ich mich.»Wie heißt er?«
«Er ist fort und bereitet sich vor. Sein Name ist nicht von Belang. Aber er ist von königlichem Geblüt, der letzte aus der
Linie der Hasmonäer und ein Nachfahre Davids. Ihr werdet ihn kennenlernen, wenn er zurückkehrt.«
Simon und ich saßen bis spät in die Nacht zusammen, und ich verließ Miriams Haus in der Oberstadt mit gemischten Gefühlen. Ich konnte Simons Prophezeiung kaum glauben, wonach unser Königreich schon jetzt kommen sollte. Und doch hatte er so überzeugend gesprochen, daß ich in den darauffolgenden Tagen an nichts anderes denken konnte.
Zu meiner Überraschung nahm Eleasar Simons Überzeugungen mit größter Vorsicht auf.»Die Mönche sind gute Menschen und halten das Gesetz rein«, sagte er.»Aber in ihrem Eifer, das Königreich Israel wieder errichtet zu sehen, sind sie zu fanatischen Schwärmern geworden. Sie sind voreilige Menschen, David, und irren sich in ihren Voraussagen. Jedermann weiß, daß keiner vom Stamm der Hasmonäer übriggeblieben ist, denn der letzte wurde vor Jahren durch die Römer hingerichtet.«
«Kann es vielleicht einen anderen geben, der sich versteckt hielt?«fragte ich.
«Wenn ein rechtmäßiger Anwärter auf den Thron heute noch am Leben wäre, so würden wir von ihm wissen, denn alle Juden würden sich zu seiner Unterstützung zusammentun. Doch wie ich schon sagte, wurde der letzte kurz vor deiner Geburt gekreuzigt.«
Ich glaubte Eleasar, aber wenngleich Simons Worte mich nicht überzeugten, so machten sie mich doch neugierig, und so kehrte ich in Miriams Haus zurück.
Eines Abends nahm ich Rebekka mit mir, und sie ließ sich sofort zu dem neuen Glauben bekehren. Simon überzeugte sie davon, daß der Messias schon unter uns geweilt habe und daß er zurückkehren werde.
Da fragte ich Simon:»Wenn er schon einmal hier war, warum ist er dann wieder weggegangen?«
«Weil er das erste Mal kam, um sein eigenes Kommen zu verkünden. Er ist erschienen, um uns Zeit zu geben, uns vorzubereiten. Wenn er das nächste Mal durch die Straßen Jerusalems zieht, wird er als Gottes Stellvertreter kommen, und all jene, die nicht vorbereitet sind, werden verdammt sein.«
«Wohin ist er gegangen?«forschte ich.
Und hier ist die verblüffende Antwort, die Simon mir gab: Er sprach:»Unser Meister fand an einem römischen Holzkreuz den Tod und wurde von Gott wieder zum Leben erweckt, um den Menschen zu zeigen, daß er wirklich unser neuer König sei. «Während Rebekka dies ohne Widerspruch hinnahm und der neuen Sekte, die sich» die Armen «nannte, beitrat, war ich dazu nicht imstande. Und so beriet ich mich ein zweites Mal mit Eleasar. Er warnte mich:»Diese Männer sind fehlgeleitet, David. Ihr Führer starb nicht an dem Holzkreuz, denn er hing dort nur für ein paar Stunden. Jedermann weiß, daß der Tod am Kreuz erst nach Tagen eintritt. Er wurde von Männern in weißen Gewändern, die von einfältigen Augenzeugen als Engel bezeichnet wurden, heruntergenommen und in ihr Kloster am Salzmeer gebracht. Du hast selbst die Wunder gesehen, die die Mönche dort schon seit über hundert Jahren in der Heilkunst vollbringen, und der Name Essener, den sie sich geben, bedeutet soviel wie >Heilender<. Ich zweifle nicht daran, daß ihr Führer heute am Leben ist und sich in der Wüste versteckt hält. Sie sind Fanatiker, David, die verzweifelt danach trachten, das Joch römischer Unterdrückung niederzureißen, und sich blind an ein Wunder klammern, das nie stattgefunden hat. «Ein zweites Mal ließ ich mich von Eleasar überzeugen und ging mit dem Gedanken weg, daß Simon zwar ein guter Jude sei, aber fehlgeleitet.
Statt mich zum Passah-Fest Eleasar und seiner Familie anzuschließen, wie es meine Gewohnheit war, begab ich mich diesmal in Begleitung von Rebekka und dem Olivenhändler, für den ich arbeitete, in Miriams Haus. Ich tat dies aus zwei Gründen: Erstens war es Rebekkas Wunsch, und zweitens war ich neugierig auf das Ritual von religiösen Menschen, die dem Tempelkult abgeschworen waren.
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