«Hör zu, ich muß dir von heute morgen erzählen. Es ist wirklich unheimlich. «Seine Stimme erstarb zu einem Flüstern, während er mit ausdruckslosen Augen vor sich hin starrte.»Nun. ich muß auf der Straße herumgelaufen sein und mit mir selbst geredet haben. Himmel, hab ich ein Glück, daß sie mich nicht aufgegriffen haben!«

«Ben.«

«Ich werde einfach mit dem, was mir geschieht, nicht fertig.«

«Ben, hör mir zu. Ich möchte, daß du etwas ißt.«

«Später.«

«Nein! Du bist in keiner guten Verfassung. Schau dich nur an, blaß und zittrig. Tiefliegende Augen. Um Himmels willen, du siehst schrecklich aus.«

«Ich komme einfach nicht darüber hinweg.«

«Ben, gib mir nicht das Gefühl, daß ich gegen eine Wand rede. Schau, ich habe etwas mitgebracht, was ich dir zeigen will. «In ihrem verzweifelten Bemühen, ihn aus seiner Verwirrung herauszureißen, hielt Judy ihm die Zeitung hin, die sie ihm eigentlich erst später zeigen wollte. Doch es wirkte. Sowie er die Schlagzeile erblickte, kam Ben wieder zu sich. Er las die Überschrift.»Was zum Teufel.? Meinen sie das im Ernst?«

«Lies die Geschichte. Ich mache dir einen Kaffee. «Ben überflog die Titelgeschichte, betrachtete eingehend die Bilder von der Ausgrabungsstelle und warf die Zeitung dann angeekelt zu Boden.

«Ach komm, Judy! Das ist doch pure Auflagenschinderei! Du weißt, daß sie es nur darauf abgesehen haben!«Er ging hinüber zur Küche, lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete, wie sie die Kanne füllte und die Kaffeemaschine einsteckte.»Noch mehr Regenbogenjournalismus! Wie zum Teufel machen sie es nur, daß sie mit ihren Fragezeichen in der Überschrift immer ungestraft davonkommen?«Er warf einen Blick hinter sich auf die Zeitung, die ausgebreitet auf dem Boden lag. Von hier konnte er die Überschrift erkennen:

Q-SCHRIFTEN GEFUNDEN?

«Sie wollen wirklich nur Geld damit machen!«schrie er.»Wie kann Weatherby das zulassen?«

«Ich glaube nicht, daß er irgendeinen Einfluß darauf hat, Ben. «Er schüttelte voll Abscheu den Kopf. Die Überschrift nahm Bezug auf ein nicht existierendes Schriftstück, das nach der gängigen Meinung der Bibelkundler in der Zeit kurz nach Jesu Tod und noch vor der Niederschrift des ersten

Evangeliums verfaßt worden war. Auf Grund gewisser Hinweise bei Matthäus, Markus und Lukas war man zu der Annahme gelangt, daß eine andere Sammlung mit den Aussprüchen Jesu noch vor Erscheinen des MarkusEvangeliums unter Nazaräern im Umlauf gewesen sein mußte. Diese vermeintliche Spruchsammlung ist von deutschen Gelehrten im neunzehnten Jahrhundert als» Quelle «bezeichnet und in neuerer Zeit einfach mit Q abgekürzt worden. Keine Spur dieses Dokuments war je gefunden.»Glauben die Leute tatsächlich, daß es das ist, was Weatherby hat?«

«Nicht die Leute, Judy, sondern die Zeitungsschreiber. Und nicht einmal die glauben daran. Vielmehr ist es das, was sie die Leute glauben machen wollen, damit sie ihre verdammten Zeitungen verkaufen können. Nur weil David hin und wieder ein paar Zitate einstreute, die vielleicht beweisen, daß sie tatsächlich von Jesus stammen! Ich glaube kaum, daß die Schriftrollen von Magdala die Grundlage für Markus, Matthäus und Lukas waren!«

Judy lächelte verschmitzt. Sie war froh, in Ben wieder den analytischen Historiker zu erkennen.»Weißt du was«, meinte sie, als die Kaffeemaschine zu brodeln begann,»ich möchte sogar bezweifeln, daß David je etwas von der Unbefleckten Empfängnis oder der Geburt Christi gehört hat. «Ben verschränkte die Arme und lehnte sich gegen den Türrahmen.»Die mythische Verklärung kam erst viel später, und Jesus hatte keinerlei Absicht, die Heiden zu bekehren. Sogar Matthäus sagt uns das im fünften Vers des zehnten Kapitels. Wenn man David Ben Jona fragte, wüßte er nicht, was ein Christ ist, ja nicht einmal, was eine Kirche ist. Er und all die anderen, die auf die Rückkehr Jesu warteten, waren fromme Juden, die das Passah-Fest begingen, an Jom Kippur fasteten, den Verzehr von Schweinefleisch unterließen und sich selbst als Gottes auserwähltes Volk betrachteten. Die ganze

Mythologie und die Rituale kamen erst viel später, als die Heiden sich dem neuen Glauben anschlossen.«

Judy zog den Stecker der Kaffeemaschine heraus und füllte zwei Tassen mit dampfendem Kaffee.»Hier. Komm, wir wollen uns setzen. Ich wünschte wirklich, die letzte Rolle wäre nicht zerstört worden. Vielleicht hätte sie einige der Dinge klären können, von denen du gerade sprachst.«

Ben versetzte der Zeitung einen Tritt, bevor er sich setzte.»Q-Schriften, was ihr nicht sagt! Ein Haufen Scheiße! Was wißt ihr schon davon?«

Judy schlürfte ihren Kaffee langsam und genüßlich.»Als David von einem Kloster am Salzmeer sprach, meinte er doch Qumran, oder?«

«Die alte Bezeichnung für das Tote Meer war Salzmeer. Aller Wahrscheinlichkeit nach kannte er den Mann, der die Qumran-Handschriften in jenen Höhlen versteckte, sogar persönlich. «Judy schauderte unwillkürlich.»Gott, ist das Ganze einfach überwältigend. «Sie drehte sich zu Ben um.»Was willst du jetzt tun? Ein Buch schreiben?«Doch er hüllte sich in Schweigen. In seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck, der Judy beunruhigte.»Noch ist es nicht vorbei«, sagte er abwesend.

«Was? Woher willst du das wissen?«

«Ich habe es im Gefühl. Judy, erinnerst du dich an gestern abend, als du in der Küche warst und ich plötzlich aufschrie? Und du kamst hereingerannt? Ich habe dir noch gar nicht gesagt, was mir da passierte. Es war das merkwürdigste. «Bens Augen umwölkten sich, als er sich an das unheimliche Gefühl erinnerte, in eine andere Zeit zurückversetzt zu werden.»Ich finde keine Worte, um es zu beschreiben. Es war einfach. überirdisch! Ich saß hier an meinem Schreibtisch und hatte die Hände über den Fotos ausgebreitet, als ich urplötzlich spürte, wie eine Veränderung über mich kam. Es war höchst absonderlich. Ich hatte keine Kontrolle darüber. Ich war wie angewurzelt und konnte mich nicht vom Fleck rühren. Und als ich so dasaß, da begann ich zu fühlen. zu fühlen.«

«Was zu fühlen, Ben?«

«Zu fühlen, wie die Luft sich um mich herum veränderte. Sie verwandelte sich in die Luft eines anderen Ortes und einer anderen Zeit. Dann sah ich Bilder vor meinen Augen, Dinge, die ich mir normalerweise nicht ausdenken würde. Sie flimmerten wie schlechtes Fernsehbild, bald verschwommen, bald scharf, bis ich plötzlich alles ganz klar und deutlich sah. Alles. Und da saß ich inmitten der wirklichen Düfte und Geräusche und Sehenswürdigkeiten von Jerusalem. Judy, für einen kurzen Augenblick war ich tatsächlich in Davids Jerusalem!«

Sie starrte ihn ungläubig an. Die Erregung spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. Seine Augen standen wie in Flammen. Und die Worte, die er gerade gesprochen hatte. Judy wurde unruhig. Bens Stimmungen schlugen zu leicht um, er wurde immer unbeständiger.

«Du glaubst mir nicht«, stellte er mit ausdrucksloser Stimme fest.»Nein.«

«Aber was ich sah.«

«Du warst schon in Israel, Ben. Du hast Jerusalem viele Male gesehen. Und du hast Beschreibungen darüber gelesen, wie es früher dort aussah. Du hast dir das alles nur eingebildet!«

«Nein, das habe ich nicht. Und heute morgen bin ich fünf Stunden lang durch die Straßen von West Los Angeles gelaufen, und jede einzelne Sekunde habe ich im alten Jerusalem verbracht. Ich habe mir das nicht eingebildet!«

«Und was willst du mir damit sagen? Daß David versucht, dich mit sich nach Jerusalem zu nehmen?«

«Nein«, entgegnete Ben,»das will ich damit überhaupt nicht sagen. Letzte Nacht bin ich David Ben Jona mutig entgegengetreten und habe ihn angeschrien. Ich ballte meine Fäuste und forderte ihn heraus, sich von der Stelle zu rühren. Nun«, Ben blickte zu Judy auf,»David nahm meine Herausforderung an. Jetzt weiß ich, was er die ganze Zeit hier tat. Er war nicht hier, um dabeizustehen, während ich seine Schriftrollen übersetzte, wie ich anfangs dachte. Nein. David hatte einen anderen Grund, weshalb er herkam, sich neben mich stellte und mich beobachtete. Er wartete auf den Anblick, in dem ich zusammenbrechen würde, was ich letzte Nacht schließlich tat.«

«Warum? Was will er?«

«Er will mich, Judy. Oder vielmehr, er will meinen Körper. «Sie rückte unwillkürlich von ihm ab und starrte ihn aus großen, ungläubigen Augen an.»Nein!«flüsterte sie heiser.»Doch, es ist wahr. David schert sich einen Dreck um mich, Judy. Er will nur in meinen Körper schlüpfen, damit er nach Israel zurückkehren kann.«

«O Ben, das ist doch irrsinnig!«

«Verdammt noch mal, sag das nicht! Ich bin völlig in Ordnung!«Sie sah die Adern an seinem Hals hervortreten, sah, wie ihm beim Schreien Speichel aus dem Mund lief.»Hör zu, Ben, das kann unmöglich so sein«, meinte sie beschwichtigend.»David würde dir nicht weh tun. Er ist doch. dein Freund.«

«Oh, aber verstehst du nicht? Es tut überhaupt nicht weh. Es ist sogar sehr schön. «Ben lachte in sich hinein.»Er hat mir gezeigt, wie angenehm es sein kann, ins alte Jerusalem zurückzukehren. «Oh, lieber Gott, dachte Judy in panischem Schrecken.»Was willst du jetzt tun?«fragte sie mit erstickter Stimme.

«Ich weiß es nicht, Judy. Ich habe mir noch nicht so viele Gedanken darüber gemacht. Vielleicht werde ich David die Entscheidung überlassen.«»Meinst du. meinst du, du wirst es zulassen, daß er. dich beherrscht.«

«Warum nicht?«

Judy spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte.»Aber Ben, du bist doch dein eigener Herr! Was wird aus dir, wenn sich David auch deines Geistes bemächtigt? Was wird dann aus Benjamin Messer?«

«Benjamin Messer kann von mir aus zur Hölle fahren, zusammen mit seiner geistesgestörten Mutter und seinem heldenhaften Vater. Siehst du, ich habe letzte Nacht, nachdem du gegangen warst, eine Menge Veränderungen durchgemacht.«

«Und?«

«David zeigte mir, was für ein Mensch ich in Wirklichkeit war. Was für ein elender Tropf er eigentlich ist, dieser Ben Messer, der seine Mutter im Stich ließ und sich seines verstorbenen Vaters schämte. Ich war von Anfang an ein niederträchtiges Kind und ein noch schlechterer Jude.«

«Aber Ben, für das alles kannst du doch nichts. So, wie du aufgezogen wurdest.«

«Ich denke, ich werde mit David glücklicher sein. «Sie wandte sich von ihm ab und rang verzweifelt die Hände.»Und was wird aus mir?«

«Aus dir? Nun ja, ich werde dich natürlich mitnehmen. «Judy fuhr herum. Bens blaue Augen waren hell und durchdringend. Seine Züge entspannten sich, und auf seinem Gesicht zeigte sich ein unbefangenes Lächeln. Er sah aus wie ein Mann, der ein Picknick auf dem Land organisiert.»Mich. mitnehmen.?«

«Aber sicher. Das wäre Davids Wunsch, und es ist auch ganz bestimmt der meine. «Ben griff nach ihrer Hand, drückte sie zart und sagte sanft.»Du hast doch nicht geglaubt, ich würde ohne dich gehen, oder?«

Völlig unbeherrscht schossen ihr Tränen in die Augen. Sie war nun schon eine ganze Weile in Ben verliebt, und es trieb sie zur Verzweiflung, zu sehen, was mit ihm geschehen war. Sie beschloß, ihm ab sofort nicht mehr von der Seite zu weichen. Sie würde in seine Wohnung ziehen und diese Sache bis zum Ende mit ihm durchstehen. Und wenn es kein Ende gäbe.

Genau in diesem Moment klopfte es an die Tür, und Ben sprang auf, um zu öffnen. Sie konnte die Person auf der anderen Seite nicht sehen, aber sie hörte eine Stimme:»Ein Telegramm aus Übersee für Dr. Messer. Normalerweise geben wir den Eingang eines Telegramms telefonisch durch, aber Ihr Telefon ist defekt. Wußten Sie das?«

«Ja, ja, danke. «Ben quittierte für das Telegramm, gab dem Boten ein Trinkgeld und schloß langsam die Tür.»Es ist von Weatherby«, verkündete er.

«Wahrscheinlich hat er versucht dich anzurufen, und es klappte nicht. Ich wette, er will wissen, warum du ihm keine Übersetzungen geschickt hast.«

«Ja, du hast recht. «Ohne es zu öffnen, warf Ben das Telegramm auf das Couchtischchen. Dann nahm er Judys leere Tasse.»Soll ich dir nachschenken?«

«Ja bitte. Tu diesmal viel Sahne hinein.«

Als Ben in der Küche verschwand, schaute Judy auf den zerknitterten braunen Umschlag auf dem Couchtischchen. Und eine frostige Vorahnung überkam sie. Nein, dachte sie traurig. Mit diesem Telegramm hat es mehr auf sich, als wir denken. Sonst hätte Weatherby wohl nur einen gewöhnlichen Brief geschickt.

Mit großer Besorgnis nahm sie den Umschlag und schlitzte ihn auf. Als sie die kürze Nachricht darinnen las, blieb ihr fast das Herz stehen.»O Gott!«flüsterte sie und begann zu zittern. Wieder einmal befand sie sich in einer verzwickten Lage. Sie wußte nicht, wie sie Ben die Neuigkeit beibringen sollte. Oder ob sie ihm überhaupt etwas davon sagen sollte. Aber auf der anderen Seite würde er ohnehin bald dahinterkommen, und es war besser für ihn, es von ihr zu erfahren.