Da es ihr schwerfiel, laut zu sprechen, flüsterte Judy nur:»Ich erinnere mich.«

«Es gab daran etwas, das ich nicht genau bestimmen konnte. Natürlich weiß ich jetzt, was es war. Poppäa Sabina heißt doch meine Katze, und aufgrund dieses Erlebnisses kam ich darauf, sie nach der Kaiserin zu nennen. Als ich die Katze vor zwei Jahren kaufte, erinnerte sie mich an Neros Frau, die ich in ihrem Streitwagen an mir hatte vorüberfahren sehen.«

Judy kniff die Augen fest zusammen.»Nein«, murmelte sie kaum hörbar.

«Und als du mir die Brille angeboten hast, brauchte ich sie nicht mehr, denn schon letzte Nacht war ich nicht mehr Ben. Ich sah, wie sehr du dich über meinen Zustand beunruhigt hast, aber es gab keinen Grund zur Besorgnis, liebe Judith, da es sich nur um das letzte Stadium meiner Selbstwerdung handelte.«

Sie schlug die Augen auf und starrte ihn an, als wäre er ein Monster.

«Bitte, komm und setze dich zu mir.«

«Nein.«

«Bitte, halte dich nicht von mir fern. Ich hatte nicht die Absicht, dich zu verletzen. Ich dachte, du würdest dich freuen. «Als er traurig den Kopf schüttelte, tauchte im Eingang zur Küche eine kleine schwarze Gestalt auf, die den Mann auf der Couch mit mißtrauischem Blick und stark geweiteten Pupillen beäugte. Poppäa lief vorsichtig ein paar Schritte in seine Richtung, doch als er sich vorbeugte, um sie zu locken, machte sie einen Buckel und fauchte ihn an. Ben lachte nur leise.»Das tut sie, weil ich jetzt ein Fremder für sie bin. Sie wird mich schon noch kennenlernen, und dann werden wir Freunde sein.«

Judy blickte die Katze ungläubig an. Poppäas Fell war gesträubt, ihre Ohren lagen flach am Kopf an. Im nächsten Augenblick schoß sie voller Angst in die Küche zurück, und man konnte hören, wie sie sich in einem kleinen Winkel verkroch.

«Sie wird es schon noch lernen«, ließ sich Bens sanfte Stimme vernehmen.»Und auch du wirst dich daran gewöhnen, liebste Judith. «Judy blickte ihn an und sah ein traurigsüßes Lächeln auf seinem Gesicht. Seine ganze Haltung, sein ganzes Wesen schien um Vergebung und Annahme zu bitten. Und als sie ihn so sah, fühlte Judy, wie ihr Herz ihm entgegenschlug.

«Ich fürchte mich vor dir«, gestand sie schließlich.»Aber das mußt du doch nicht. Ich würde dir nie etwas zuleide tun.«

«Ich weiß nicht, was du bist. Ich weiß nicht, wer du morgen oder selbst in der nächsten Stunde sein wirst. Und das macht mir Angst.«

«Aber es ist alles vorbei, Judith, siehst du das nicht? Kein Identitätskampf und kein Bemühen um Selbstfindung mehr. Die Höllenqualen, die Benjamin Messer durchstehen mußte, die Alpträume und die Tränen und die quälenden Gedanken waren nichts anderes als die Schmerzen meiner Geburt. Es war notwendig, daß er, daß ich all dies erduldete, damit ich wiedergeboren werden konnte. All das gehört nun der Vergangenheit an, meine liebe Judith, denn ich bin jetzt eins mit mir selbst und mit meiner Persönlichkeit ins reine gekommen. Ich hoffte, du würdest verstehen.«

Sie musterte ihn noch ein wenig länger und näherte sich dann vorsichtig und behutsam der Couch. Während sie sich auf der äußersten Kante, so weit wie möglich von ihm entfernt, niederließ, hielt sie fortwährend die Augen auf ihn gerichtet. Endlich flaute ihre Übelkeit ab, und die Unruhe verebbte. Die erste Erschütterung war vorüber, und jetzt ließ auch die Bestürzung nach. Statt dessen fühlte sich Judy unsicher, weil sie nicht wußte, was sie als nächstes tun sollte. Ben streckte seine Hand aus, als wollte er ein Geschenk überreichen. Judy ergriff sie und fühlte, wie sie noch ruhiger wurde. Er lächelte ihr beruhigend zu und erweckte den Anschein von völliger Kontrolle und Selbstvertrauen. Seine Hand war warm und zart, seine Stimme ermutigend.»Was sich verändert hat, hat sich verändert, und es gibt keinen Weg zurück. Was gestern war, wird nie wiederkehren. Benjamin Messer lebt nicht mehr. Ich war nicht glücklich in dem Leben von damals. Aber in diesem hier bin ich es. «Judy spürte, wie er ihre Hand drückte und sie ein wenig zu sich hin zog. Zuerst wehrte sie sich, gab dann aber nach und ließ es zu, daß er sie auf der Couch nahe an sich heranholte. Er hielt sie mit beiden Armen umschlungen, aber so leicht, als befürchtete er, sie zu zerbrechen, und er sprach mit gefühlvoller Stimme:»Du kannst mich doch unmöglich als Ben gemocht haben, denn dieser Ben war ein geplagter Mann.

Er war ein Mensch, der seine Vergangenheit und sein Erbe verleugnete und der immer etwas sein wollte, was er nicht war. Benjamin Messer war nur eine Seite meiner Persönlichkeit, und es tut mir leid, daß du gerade diese kennenlernen mußtest. Nun, da ich David Ben Jona bin. «Er zog sie an sich und drückte ihr Gesicht gegen seinen Hals.»Doch nun, da ich endlich David Ben Jona bin, kannst du, teure Judith, in deinem Herzen vielleicht ein wenig Liebe für mich finden.«

Als Judy erwachte, lag sie im Bett. Obgleich sie noch alle Kleider anhatte, war sie zugedeckt, und ihre Schuhe standen fein säuberlich neben dem Bett. Ein ermutigend heller Tag flutete durchs Fenster und brachte die noch an der Scheibe hängenden Regentropfen zum Glitzern. Durch das Geäst der Bäume hindurch konnte sie weiße Wolken und blauen Himmel erkennen. Und durch die offenstehende Tür hörte Judy, wie jemand im angrenzenden Zimmer herumhantierte. Ihre Gedanken überschlugen sich. Obgleich ihr die unheilvollen Ereignisse der letzten Nacht auf Anhieb wieder einfielen, konnte sie sich nicht daran entsinnen, ins Bett gegangen oder eingeschlafen zu sein. Das letzte, woran sie sich erinnerte, war, daß sie mit Ben eng umschlungen auf der Couch gesessen und seiner sanften Stimme gelauscht hatte, die auf unwiderstehliche Weise von Liebe gesprochen hatte.

Sie war sich unschlüssig, ob sie aufstehen sollte. Sie fürchtete sich vor dem, was sie vielleicht im Nebenzimmer vorfinden würde. Bens Wahnsinn konnte in jede Richtung losbrechen; seine vorübergehende Festigkeit konnte durch die leichteste Herausforderung ins Wanken geraten. Doch obwohl es ihr widerstrebte, ihm gegenüberzutreten, verlangte es sie danach, an seiner Seite zu bleiben und über ihn zu wachen. Sie steckte in einem unüberwindlichen Zwiespalt der Gefühle: Einerseits verspürte sie den Drang, aus diesem Irrenhaus zu fliehen; andererseits hegte sie den Wunsch, Ben zu helfen, die Krise durchzustehen. Sie stand geräuschlos auf und schlich leise ins Bad, um von ihm nicht gesehen zu werden. Judy versuchte, eine Entscheidung zu treffen, was sie als nächstes tun sollte.

Unter der kühlen Dusche wichen die Erinnerungen an die unheilvolle vorangegangene Nacht einer analytischen Betrachtungsweise. Als sich ihre Schläfrigkeit verlor und der Schrecken allmählich nachließ, fühlte Judy sich eher in der Lage, die Situation zu meistern. Immerhin hatte Ben — in seiner neuen Identität als David — noch keine Neigung zu Gewalttätigkeiten erkennen lassen. Und wenn er seine gegenwärtige Ruhe und Gelassenheit beibehielte — zumindest bis die letzte Rolle gelesen war —, könnte sie gut mit ihm fertig werden. Was danach geschehen würde, konnte sie sich nicht im geringsten vorstellen. Und es war ihr im Augenblick auch gleichgültig. Momentan ging es für sie und Ben allein darum, einen weiteren Tag irgendwie durchzustehen.

Er schaute auf, als sie ins Zimmer kam, und verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen.»Guten Morgen, Judith. Fühlst du dich besser?«

«Ja, danke. «Sie musterte ihn vorsichtig.

«Du bist in meinen Armen eingeschlafen, und da habe ich dich ins Bett getragen. Du bist so leicht; es war, wie wenn man ein Kind hochhebt.«

Als er sprach, starrte Judy ihn mit wachsender Faszination an. Der Mann vor ihr war, mit Ausnahme der braunen Augen, in jeder Hinsicht Benjamin Messer. Nur war es nicht.

Er kam auf sie zu und ergriff ihre Hand. Dann führte er sie zum Eßtisch.

Nein, dieser Mann war zweifellos verändert. Er mochte genauso aussehen wie Ben Messer, unterschied sich aber von ihm durch sein ganzes Verhalten. Die Gebärden und das zuweilen etwas gespreizte Benehmen gehörten zu einem anderen. Und seine Art, sich zu geben, war völlig neu. Dieser Mann erschien älter, reifer und auffallend selbstsicher. Er war ein Mensch, der sich selbst voll unter Kontrolle hatte und es gewohnt war, den Ton anzugeben. Er setzte sich an den Tisch vor eine dampfende Tasse Kaffee und einen Teller mit Eiern und Buttertoast. Während er ihr gegenüber Platz nahm, erklärte er:»Ich habe schon gegessen. Bitte, laß es dir schmecken, du wirst dich gleich besser fühlen. «Judy merkte beim Essen, wie hungrig sie eigentlich war. Gierig verschlang sie das Frühstück und stürzte zwei Tassen Kaffee hinunter. Während sie aß, hielt Ben/David seinen beunruhigenden Blick ständig auf sie geheftet und ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Ein kaum merkliches heimlichtuerisches Lächeln umspielte die ganze Zeit über seinen Mund. Zweimal wollte sie etwas sagen, doch jedesmal hob er eine Hand und meinte:»Iß zuerst. Später werden wir uns unterhalten. «Und sie gehorchte.

Anschließend gingen sie zusammen ins Wohnzimmer, das zu Judys Überraschung mit peinlicher Gründlichkeit gereinigt worden war. Sogar der Weinfleck auf dem Teppich erschien blasser, und alles wirkte sauber und ordentlich. Ohne nachzusehen, vermutete sie, daß es im Arbeitszimmer wohl genauso aussah.

Als sie sich auf der Couch niederließen, sagte Ben:»So, nun fühlst du dich sicher besser. Ist es dir jetzt immer noch unbehaglich, mit mir zusammen zu sein?«

«Ich weiß nicht«, antwortete sie unsicher.»Bist du.?«Er lachte herzlich.»Ja, ich bin noch immer David. Ich habe dir doch gestern nacht gesagt, daß Ben fort ist und nie mehr wiederkommt. Aber ich sehe ein, daß es Zeit braucht, dich davon zu überzeugen. Das ist schon in Ordnung, denn ich bin ein geduldiger Mensch. «Judy lehnte sich bequem auf der Couch zurück. Jetzt, da sie gegessen hatte, fühlte sie sich wirklich besser und überlegte, was sie als nächstes sagen sollte.»Wenn du David Ben Jona bist«, begann sie vorsichtig,»dann kannst du mir ja sicher verraten, was in der nächsten Rolle steht?«

Er lächelte vielsagend.»Du willst mich auf die Probe stellen, Judith. Das ist ein Zeichen von Ungläubigkeit, und ich will, daß du an mich glaubst. Tust du das?«

«Du weichst meiner Frage aus.«

«Und du meiner.«

Judy drehte sich um, so daß sie ihm direkt ins Gesicht sehen konnte.»Ich habe keine Lust, Wortspiele mit dir zu veranstalten, Ben. Ich versuche nur zu verstehen, was passiert ist. Du behauptest, du seist jetzt der wiedergeborene David. Ist das richtig?«

«Wenn dir diese Ausdrucksweise zusagt, ja. Aber es ist mehr als eine Wiedergeburt, mehr als eine Wiederverleiblichung, denn, siehst du, ich war ja nie wirklich fort. Als Benjamin Messer bin ich die ganze Zeit über hier gewesen.«

«Ich begreife.«

«Das glaube ich nicht.«

«Nun, zumindest versuche ich es. «Sie lehnte sich zurück und betrachtete ihn wieder.

Ja, diese neue Persönlichkeit war zweifellos umgänglicher. Benjamin Messer war ein Mensch gewesen, der von seiner Vergangenheit gequält wurde und mit dem man nur schwer auskommen konnte. Als David von ihm Besitz ergriffen hatte, war er still und in sich gekehrt. Doch dieser neue Zustand, in dem er nun tatsächlich den Juden verkörperte, war beinahe angenehm. Er wirkte vernünftig, war mitteilsam und schien einigermaßen gefestigt.

Wenn er nur nicht plötzlich wieder in eine andere Zeit abglitt oder von Gedächtnisschwund heimgesucht würde; wenn er keine Wutausbrüche bekam, wie Ben sie zuvor gehabt hatte, dann wäre diese neue Entwicklung möglicherweise nur von Vorteil. Zumindest im Augenblick.

«Und wie soll es weitergehen?«fragte sie ruhig.»Das kann ich nicht wissen. Die Zukunft ist mir ebenso unbekannt wie dir.«

«Aber gewiß kannst du nicht als Ben Messer weitermachen.«

«Und warum nicht? Der Name hat mir bis jetzt gute Dienste geleistet. Ich kann die Identität auch noch eine Weile länger benutzen, bis ich mir über meine Pläne klar werde. Doch wie dem auch sei, liebe Judith«, er griff nach ihrer Hand,»sie werden dich mit einschließen. «O Ben, schrie sie innerlich voller Verwirrung, ich will, daß du mich immer mit einschließt! Und ich liebe dich über alles. Aber was bist du jetzt? Wer bist du? Und wer wirst du morgen sein?» Warum schaust du so traurig, Judith?«Sie wandte ihr Gesicht ab.»Weil ich Ben liebe.«

«Aber ich bin doch der gleiche Mann.«

«Nein«, entgegnete sie schnell,»nein, das bist du nicht.«

«Nun. «Seine Stimme wurde leiser.»Kannst du in deinem Herzen nicht auch ein wenig Liebe für mich finden?«

Sie wandte sich jäh um. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Sehnsucht und sanfte Trauer wider. Sie spürte, wie er mit den Fingerspitzen ihre Wange streichelte, hörte seine liebevolle Stimme. In ihren Augen war es Ben, der da ungeschickte Versuche unternahm, mit ihr zärtlich zu werden, doch im Herzen wußte sie, daß es ein anderer Mann war. In seinem Identitätskampf hatte Ben die Schlacht verloren und auf sonderbare Weise die Persönlichkeit des Mannes aus den Schriftrollen angenommen. Aus welchen unausgesprochenen Bedürfnissen und verborgenen Gründen heraus es auch geschehen sein mochte, Ben hatte sich nun einmal entschlossen, David zu werden, einfach, weil er nicht mehr stark genug war, als Ben weiterzuleben.»Ich will dich zurück«, flüsterte Judy in einem letzten Versuch, auf ihn einzuwirken.»Schick David dorthin zurück, wo er hingehört, Ben, und komm zurück zu mir.«