Ich machte große Augen. Davon hatte ich nie etwas gehört.»Das wußtest du nicht, hm? Ich seh's deinem Gesicht an. Hat deine Mutter dir nie von uns erzählt? Nein? Hm…«Sie sah auf ihre Hände nieder.»Irgendwie kann ich's verstehen. Die Townsends hatten eine schreckliche Geschichte, bevor dein Großvater und ich heirateten.«

«Schrecklich? Wieso?«

Sie fuhr fort, als hätte sie meine Frage nicht gehört.»Deine Mutter hat dir wahrscheinlich nur aus ihrer eigenen Kindheit erzählt.

Von sich und Elsie und William. Ja, das kann ich gut verstehen. Aber du mußt auch etwas von deinen Großeltern wissen, nicht wahr, Kind? Schließlich bist du auch ein Teil von uns. Ach, dein Großvater und ich hatten oft ein aufregendes Leben, glaub mir. Stell dir vor, genau an dem Tag, an dem wir 1915 heirateten, wurde er nach Übersee geschickt. Danach habe ich ihn zwei Jahre lang nicht mehr gesehen, und als er endlich nach Hause kam, war er so verändert, daß er praktisch ein Fremder für mich war. Er war als junger Bursche fortgegangen, und als er nach Hause kam, war er ein Mann.«

Ich starrte auf ihre runzligen alten Lippen, während sie mir in diesem schwer verständlichen Dialekt ihrer Heimat erzählte.»Ja, er war ein ganz anderer geworden. Und als wir mit zwei Jahren Verspätung unsere Hochzeitsnacht nachholten, da war es für mich, als läge ich bei einem völlig Fremden. «Ich versuchte, mir diesen Mann vorzustellen, den ich nie gesehen hatte, den Vater meiner Mutter, der jetzt im nahen Krankenhaus im Sterben lag und der zweiundsechzig Jahre in diesem Haus gelebt hatte. Und dann versuchte ich, mir Großmutter als junges Mädchen vorzustellen, einundzwanzig Jahre alt, wie sie schamhaft und scheu das erstemal mit ihrem Mann zu Bett ging. Ich dachte an Doug, an unsere letzte gemeinsame Nacht, an die verletzenden Worte, die wir einander ins Gesicht geschleudert hatten. Aber als sein vertrautes, lächelndes Gesicht vor mir erschien, vertrieb ich augenblicklich die Erinnerung. Es war vorbei. Doug und ich waren fertig miteinander. Dieser Schmerz würde vergehen, die Erinnerungen verblassen, und ich würde wieder frei sein.

«Wenn man jung ist, denkt man nicht viel über die Vergangenheit nach, nicht?«meinte Großmutter. Sie rieb die Hände aneinander und hielt sie in die Wärme der Gasheizung.»Ich habe es jedenfalls nicht getan. Ich glaubte, ich würde ewig leben. In der Jugend denkt man nie an den Tod. Man hat noch keine Vergangenheit, auf die man zurückschauen kann, und man ist vom Tod so weit entfernt, daß man glaubt, er wird nie zu einem kommen. Aber wenn man alt wird, Andrea, und der Tod nicht mehr weit ist, dann ist die Vergangenheit das einzige, was einem bleibt. «Sie blickte einen Moment gedankenverloren vor sich hin, dann stand sie plötzlich aus ihrem Sessel auf, als wäre ihr etwas eingefallen.»Ich möchte dir etwas zeigen.«

Sie ging schwerfällig zum Büffet, stützte sich dabei auf die Rückenlehne des Sessels und auf ihren Stock. Ihre Beine waren nach außen gekrümmt, und ihre Schultern waren unter dem runden Rücken weit nach vorn gezogen.

Sie kramte in einer Schublade und sagte dann:»Hier hab ich etwas, das du nie gesehen hast.«

Sie reichte mir eine Fotografie. Es war eine sehr alte Aufnahme, die das Gesicht einer strahlend schönen Frau zeigte, das wie unter verblichenem Sepia verschleiert schien.»Wer ist das?«fragte ich.

«Das war die Mutter deines Großvaters«, antwortete sie. Ich konnte den Blick nicht von diesem schönen Gesicht wenden.»Seine Mutter? Hat Großvater Ähnlichkeit mit ihr? Wie alt ist das Bild?«

«Oh, das weiß ich nicht genau. Laß mich nachdenken. Es wurde aufgenommen, bevor Robert — das ist dein Großvater — geboren war, und sie war, glaub ich, zwanzig, als sie ihn bekam…«Ich spürte, wie mich diese traurigen braunen Augen in ihren Bann zogen. Das Lächeln der Frau, die das Haar züchtig zum Knoten gesteckt hatte und am hochgeschlossenen Kragen ihres Kleides eine Kamee trug, schien mir süß und schwermütig zugleich, und ich hatte den Eindruck, als hätte sie dem Fotografen nur widerstrebend für dieses Porträt gesessen. Ein Blick der Verlorenheit lag in den jungen Augen, eine Schwermut, die von stiller Zurückgezogenheit sprach. Ich stellte mir vor, wie sie gewesen sein mußte. Eine scheue, traurige, verwirrte junge Frau.»Vielleicht 1893«, sagte Großmutter.»Ist sie nicht eine Schönheit?«

Ich nickte. Die Mutter meines Großvaters. Meine Urgroßmutter.

«Sie war eine geborene Adams. Sie wohnte in der Marina Avenue. Aber ursprünglich kam ihre Familie aus Wales. Aus Prestatyn, glaube ich.«

«Und Großvaters Vater? Wie sah der aus — ihr Mann? Hast du von ihm auch ein Bild?«Sie antwortete nicht.

«Großmutter?«Ich sah auf. Ihr Gesicht schien mir hart. Ich wiederholte:»Hast du von meinem Urgroßvater auch ein Bild?«Großmutter beugte sich zu mir herunter und nahm mir das Foto aus den Händen. Mit einem Kopf schütteln ging sie zum Büffet zurück und legte das Bild wieder in die Schublade. Als sie zu ihrem Sessel zurückkam und ein wenig näher an den Kamin rückte, gab sie dem Gespräch eine andere Wendung.»Die Jubiläumsfeiern für die Königin in diesem Jahr waren wirklich wunderschön…«

Kapitel 2

Es war noch nicht halb elf an diesem ersten Abend, aber ich konnte kaum noch die Augen offenhalten. Ich spürte eine leichte Berührung an der Schulter und sah, daß Großmutter aufgestanden war. Und mit schlechtem Gewissen sah ich, daß sie Teller und Tassen hinausgetragen hatte.

«Bin ich eingeschlafen? Entschuldige, Großmutter, ich wollte dir doch helfen — «

«Unsinn! Ich werd dich doch nicht arbeiten lassen, wo du hier zu Besuch bist. Es war egoistisch von mir, dich nach der langen Reise so lange wachzuhalten. Du mußt doch todmüde sein. Marsch jetzt, ins Bett mit dir.«

Sie hatte recht. Ich war unglaublich müde, ja, ich fühlte mich, als ob meinem Körper auch das letzte Fünkchen Energie entzogen worden wäre.

Sobald ich in den Flur trat, überkam mich wieder dieses bizarre Gefühl, nur noch stärker diesmal. Es war beinahe, als läge greifbare Feindseligkeit in der Luft. Ich zögerte am Fuß der schmalen Treppe und blickte in die Finsternis über mir.»Ist was?«fragte Großmutter, die mein Zögern bemerkte.»Ich — äh, ich weiß gar nicht, wo mein Zimmer ist.«

«Ich hab dir das Vorderzimmer gerichtet. Ed hat deinen Koffer schon raufgebracht, und Elsie hat dir eine Wärmflasche ins Bett gelegt. Es tut mir leid, daß das Zimmer keine Heizung hat. Aber weißt du, es ist viele Jahre nicht mehr benutzt worden. Seit Williams Auszug nicht mehr. Das muß jetzt gut zwanzig Jahre her sein. Also, Kind, rauf mit dir.«

Vorsichtig stieg ich die steile Treppe hinauf und stützte mich dabei mit den Händen an den Seitenwänden ab. Ich verkniff es mir, in die Schwärze des oberen Stockwerks hinaufzusehen, und versuchte so zu tun, als mache mir die Kälte nichts aus.

Aber das gelang mir nicht, und je — höher ich stieg, desto kälter wurde mir. Ich fing an zu zittern. Der Atem stieg mir in kleinen Dampfwölkchen aus dem Mund. Hinter mir, ein paar Stufen tiefer, quälte sich Großmutter schwerfällig die Treppe hinauf, und ich fragte mich, ob sie mich überhaupt vor sich sehen konnte.

Oben begann ich wieder zu schnattern. Ich biß die Zähne zusammen und suchte nach einem Lichtschalter. Ich tastete mit einer Hand über die klamme Wand. Ich berührte etwas und drückte.

«Hast du das Licht gefunden?«fragte Großmutter keuchend hinter mir.»Ich — nein — «

Sie streckte den Arm aus, und augenblicklich ging die Deckenbeleuchtung an. Ich schaute auf die Wand. Das Ding, das ich berührt hatte, war der Lichtschalter.

«Na also. Jetzt geh nach rechts«, sagte sie außer Atem und lehnte sich an die Wand.

Der Treppe direkt gegenüber war das Badezimmer und daneben Großmutters Zimmer. Um die Ecke jedoch, einen kurzen Gang entlang, war noch eine Tür.

«Wenn du in der Nacht raus mußt, dann weißt du jetzt, wo es ist. Vergiß nicht, immer das Licht auszumachen. Gute Nacht, Kind.«

Ich rieb mir die eiskalten Arme und eilte durch den Flur zum vorderen Zimmer. Die Tür knarrte, als ich sie aufstieß, und Schwärze gähnte mir entgegen. Hastig hob ich die Hand zur Wand und fand den Lichtschalter.

Ich lächelte erleichtert. Wirklich ein hübsches Zimmer. Ein behagliches Doppelbett mit großen, weichen Kissen und einer bunten Steppdecke. Auf dem Boden ein schon fadenscheiniger, aber freundlicher Perserteppich. An einer Wand ein alter Schrank, dessen eine Tür offenstand. Gegenüber ein offener Kamin, der jetzt vernagelt war, und darüber ein großer alter Spiegel in geschwungenem Rahmen. Neben dem Bett ein kleines Tischchen mit einem Spitzendeckchen und der Bibel darauf.

Es sah alles sehr gemütlich aus, und meine Beklemmungen auf der Treppe kamen mir plötzlich recht albern vor. Ich drehte mich um, schloß die Tür und schob die >Wurst< vor die Ritze, das längliche Polster, das verhindern sollte, daß die Kälte aus dem Flur ins Zimmer drang. Dann mußte ich schnell machen. Das bißchen Wärme, das ich von unten mitgenommen hatte, war jetzt ausgekühlt, und die eisige Kälte des Zimmers drang auf mich ein. Schon begannen meine Finger steif zu werden, so daß ich Mühe hatte, die Schlösser meines Koffers zu öffnen. Ich fror erbärmlich. Noch nie hatte ich so etwas erlebt. Wenn es vor einigen Stunden draußen um null Grad gewesen war, wie weit war die Temperatur dann in der Zwischenzeit noch gesunken? Dieses alte, schlecht isolierte Haus kam mir vor wie ein Tiefkühlschrank. Nachdem ich meine Jeans und das T-Shirt im Schrank aufgehängt hatte, zog ich meinen Bademantel über den Schlaf anzug und ging zum Fenster. Ich zog die Vorhänge ein wenig auseinander und blickte durch die bereiften Scheiben in pechschwarze Nacht hinaus. Kein Mond, kein Stern war am Himmel, nur eine ferne Straßenlampe spendete etwas trübes Licht. Die Häuser gegenüber, eines am anderen, alle gleich, aufgereiht wie die Zinnsoldaten, waren dunkel und still. Das abgeschliffene Kopfsteinpflaster der Straße, auf der die wenigen geparkten Autos fremd wirkten, glänzte eisig.

Ich ließ die Vorhänge wieder zufallen. Mittlerweile war ich so durchgefroren, daß ich beschloß, im Bademantel zu schlafen. Erst knipste ich das Licht aus, dann sprang ich im Dunklen mit einem Riesensatz zum Bett, warf mich hinein und zog die Decken bis zum Kinn. Die Wärmflasche, die noch warm war, drückte ich an meinen Bauch und rollte mich auf der Seite zusammen. Es war so still im Haus, daß ich meinen eigenen Herzschlag hörte. Ich war überzeugt, daß ich in diesen arktischen Verhältnissen niemals einschlafen würde. Immer noch schlugen mir die Zähne aufeinander, meine Hände und Füße waren starr vor Kälte, ich zitterte am ganzen Körper. Mindestens eine Stunde lang muß ich wachgelegen und in die Finsternis gestarrt haben, und die ganze Zeit dachte ich an Doug und bemühte mich, das Unbehagen abzuschütteln, das mir dieses Haus einflößte.

Ich weiß nicht, wann ich endlich eingeschlafen bin, aber plötzlich war ich wieder hellwach, ohne zu wissen, was mich geweckt hatte. Ich starrte mit offenen Augen ins Dunkle und hielt mit verkrampften Fingern die Decke umklammert. Ich war schon mit Angst erwacht; die Angst hatte mich schon im Schlaf überfallen, sie hatte mich geweckt. Es war eine Angst vor etwas, das ich nicht sehen konnte. Während ich angestrengt versuchte, mit den Augen die Schwärze der Nacht zu durchdringen, wurde mir klar, daß es nicht die Dunkelheit war, die mich so ängstigte, sondern etwas anderes; etwas, das in diesem Zimmer war. Eine unsichtbare Gegenwart…

Ich kämpfte um meinen Verstand. Ich versuchte, mich zu erinnern, wer ich war, wo ich mich befand, was ich hier tat. Aber mein Geist war gefangen in einem Käfig des Vergessens. Ich erinnerte mich an nichts. Mein Gedächtnis war ausgelöscht. In schwarzer Nacht versunken.

Mitten in meinem verzweifelten Kampf, meinem ohnmächtigen Bemühen, meine Erinnerungen zu finden, entdeckte ich das Schreckliche, das mich aus dem Schlaf gerissen hatte. Ein ungeheurer Druck lastete auf meinem Körper. Eine Kraft, die nicht zu greifen war und keine Substanz besaß, stieß mich tief in die Kissen und drohte, mich zu ersticken. Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht. Ich bekam keine Luft.

Aus Angst und Entsetzen wurde kopflose Panik. Wie eine Rasende begann ich, mich gegen den grauenvollen Druck zu wehren. Ich rang krampfhaft um Atem und empfand jeden eisigen Luftzug, der in meine Lunge drang, wie einen Messerstich. Ich mußte zum Licht. Meine Gedanken überschlugen sich. War ich vielleicht gelähmt?

Wie konnte eine solche erstickende Kraft mich niederdrücken, ohne daß ich fähig war, sie zu fassen?

Ich konzentrierte mich ganz darauf, einen Arm freizubekommen. Mein Atem flog in kurzen Stößen. Ich mußte sehen. Ich mußte sehen!