Als ich am nächsten Morgen erwachte, flutete Sonnenlicht durch das Fenster und tauchte das ganze Zimmer in Helligkeit. Von meinem Platz auf dem Sofa aus konnte ich strahlend blauen Himmel zwischen grauen Wolken sehen und ein paar Spatzen, die auf der Backsteinmauer saßen und den schönen Tag genossen. Dann bemerkte ich, daß die Küchtentür offen war, und hörte Großmutter, die vor sich hin summte, während sie mit dem Geschirr hantierte.
Ich setzte mich auf und sah auf die Uhr. Es war fast Mittag. Großmutters Likör hatte Wunder gewirkt. Ich hatte herrlich geschlafen, fühlte mich so frisch und ausgeruht wie seit Tagen nicht. Das Sofa war sehr bequem gewesen, ich hatte nicht gefroren, und vor allem hatte ich keinen >Besuch< bekommen.
Jetzt konnte ich über die nächtlichen Begebenheiten lächeln. Wie anders sehen doch die Dinge bei Tag aus! Bei Nacht sind alle Schatten bedrohlich, alle Geräusche unheimlich. Aber bei Tageslicht erkennen wir, daß diese Ängste nur Ausgeburten unserer Phantasie sind. Das Sonnenlicht vertreibt Schatten und Ängste und flößt gleichzeitig Mut ein. Ich konnte den nächtlichen Schrecken jetzt gelassen ins Auge sehen. Träume jedoch hatte ich gehabt.
Nachdem ich meiner Großmutter guten Morgen gewünscht und ihr versichert hatte, daß ich gesund und munter sei, ging ich nach oben ins Schlafzimmer, wo ich, ganz ohne Angst und ein wenig beschämt ob meiner nächtlichen Hysterie, meine Toilettensachen und die Kleider auspackte, die ich an diesem Tag anziehen wollte.
Ja, ich hatte Träume gehabt. Nichts Greifbares, zusammenhanglose Szenen, Wortfetzen, verschwommene Gesichter, die vor mir auftauchten und sich wieder auflösten. Menschen, die mich umgaben, zu mir herunterblickten und flüsterten. Und im Hintergrund die Melodie von >Für Elise<, die jemand auf einem blechern klingenden Klavier spielte. Aber Träume eben, nichts als Träume.
Als ich nach einem Abstecher ins eiskalte Badezimmer wieder hinunterging, fühlte ich mich wie neugeboren und bereit, dem neuen Tag ins Auge zu sehen. Großmutter hatte mir eine große Kanne Tee und warme Butterbrötchen auf den Tisch gestellt. Ich setzte mich und begann mit Heißhunger zu essen.»Als ich heute morgen ins Zimmer kam«, bemerkte Großmutter lächelnd,»hast du so tief geschlafen, daß du, glaub ich, nicht mal aufgewacht wärst, wenn eine Bombe ins Haus eingeschlagen hätte.«
«Ja, weil du mich so gut versorgt hast, Großmutter.«
«Keine Alpträume mehr?«
Ich dachte an die vagen Träume und konnte mich ihrer nicht mehr erinnern.»Nein, keine Alpträume mehr.«
«Hör zu, Kind, heute koche ich nicht, denn du besuchst ja heute abend Onkel William und Tante May. Da gibt es sicher etwas Gutes zu essen. William ist schon so gespannt, dich wiederzusehen, daß er es kaum erwarten kann.«
Ich nickte und goß mir von dem süßen Tee ein. Merkwürdig klang das: Er würde mich wiedersehen, für mich jedoch würde es wie ein erstes Zusammentreffen sein.
«May gefällt dir bestimmt. Sie kommt aus Wales, eine feine Person. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht an sie. Du warst ja erst zwei, als ihr nach Amerika gegangen seid. Sie und deine Mutter haben sich sehr gut verstanden. Die beiden steckten fast immer zusammen. Sie kann dir sicher viel erzählen. «Das erinnerte mich an etwas. Während ich Zitronenmarmelade auf mein Brötchen strich, betrachtete ich nachdenklich das Gesicht meiner Großmutter. Sie sah jünger aus heute morgen, ausgeruht. Und guter Stimmung. Vielleicht war das der richtige Moment.»Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte ich, ohne sie anzusehen.»Aber kannst du mir jetzt nicht noch ein bißchen was von den Townsends erzählen?«
«Da gibt's nicht viel zu erzählen. Sie kommen ursprünglich aus London. Eine gute Familie. Soviel ich weiß, lebt ein anderer Zweig der Familie oben in Schottland.«
«Das meinte ich eigentlich nicht. Ich wollte gern mehr über meinen Urgroßvater wissen, Victor Townsend.«
Sie stellte ihre Tasse nieder und sah mich so nachdenklich an, als wäre sie dabei, eine wichtige Entscheidung zu fällen. Schließlich sagte sie bedächtig:»Andrea, es gibt gewisse Dinge, die man am besten vergißt. Du hättest gar nichts davon, wenn ich dir erzählen würde, was in diesem Haus vorgefallen ist. Das waren Dinge, über die kein anständiger Christenmensch sprechen möchte. Ich weiß von ihnen und dein Großvater auch, aber unseren Kindern haben wir nie etwas davon gesagt. William, Elsie und deine Mutter wissen nichts von der Zeit damals. Und für dich ist es das Beste, wenn du auch nichts erfährst.«
«Heißt das, daß es bei den Townsends schwarze Schafe gab?«Großmutters Blick war sehr ernst.»Wenn es nur das wäre! Ich weiß genau, was du denkst, Andrea — daß ich eine spießige alte Frau bin und mich die heutige Sittenlosigkeit schockiert. Gut, du hast recht, ich bin schockiert von der heutigen Lebensart. Aber ich weiß auch, daß sich die Zeiten nun mal ändern und daß es gewisse Dinge gibt, die man einfach akzeptieren muß. Zum Beispiel, daß junge Leute miteinander leben, ohne verheiratet zu sein. Aber es gibt auch Dinge, die zu jeder Zeit schlimm sind, gleich, in welchem Jahrhundert man ist, ja, schreckliche, unaussprechliche Dinge, Andrea. Und solche Dinge sind damals in diesem Haus vorgefallen.«
Der Ton meiner Großmutter erschreckte mich, dennoch sagte ich:»Aber ich möchte es trotzdem wissen, Großmutter.«
«Warum?«
«Weil…«Ich suchte nach einer Erklärung. Warum konnte ich die Sache nicht einfach fallenlassen und vergessen, wie sie das offensichtlich wünschte? Warum dieser Drang zu wissen?» Weil die Townsends auch meine Familie sind, genau wie du und Großvater und Elsie und William. Ich möchte euch kennenlernen, und ich möchte auch meine Vorfahren kennenlernen. Ich bin von so weit hergekommen, ich möchte etwas mit nach Hause nehmen.«
«Und was ist mit den Dobsons? Das ist meine Seite der Familie. Von denen kann ich dir erzählen.«
«Ja, von denen auch, Großmutter. Aber ich möchte alles wissen. Auch über die Townsends.«
«Ich kann nicht — «
«Ich habe keine Wurzeln, Großmutter«, unterbrach ich sie.»Meine Vergangenheit besteht aus fünfundzwanzig Jahren in Kalifornien und damit basta. Da hört sie einfach auf. Wie ein gerissener Film. Aber das kann doch nicht alles sein. «Sie sah mich bekümmert an.
«Wenn ich eine Vergangenheit habe, dann möchte ich sie kennen — ganz! Ich möchte das Gute genauso wissen wie das Schlechte. Ich habe ein Recht darauf, finde ich.«
Über den kleinen Tisch hinweg starrten wir einander an, und meine Worte dröhnten mir in den Ohren. Was um alles in der Welt redete ich da? Nie zuvor hatte mich die Vergangenheit gekümmert. Nie zuvor hatte es mich interessiert, woher ich gekommen war, was für ein Erbe ich in mir trug. Bis zu diesem Moment waren mir sogar die lebenden Verwandten gleichgültig gewesen. Woher kam dieser plötzliche Drang zu wissen? Wozu sollte er gut sein?
Es ist dieses Haus, dachte ich.
«Natürlich hast du ein Recht, alles zu wissen, Kind, aber…«Ich beobachtete aufmerksam ihr Gesicht. Es spiegelte deutlich, was in ihr vorging: den Widerwillen, von der Vergangenheit zu sprechen, den Abscheu über das, was sie wußte, den inneren Zwiespalt, ob sie sprechen oder schweigen sollte. Schließlich sagte sie seufzend:»Also gut, Kind. Ich sag dir, was du wissen möchtest.«
Wir standen vom Tisch auf und setzten uns an den Kamin. Ich drängte sie nicht. Sie brauchte Zeit und Mut. Ich wartete schweigend.
«Alles, was ich weiß«, sagte sie schließlich,»weiß ich von Robert, deinem Großvater. Als ich ihn vor zweiundsechzig Jahren heiratete, lebte er allein in diesem Haus. Er war der einzige Überlebende der Familie, die seit dem Jahr 1880 in diesem Haus gelebt hatte. Ich habe seine Familie nie kennengelernt. Nicht einmal dein Großvater kannte sie, denn alle verschwanden oder starben sie, noch ehe er aus den Kinderschuhen heraus war. Robert wurde in diesem Haus von seiner Großmutter großgezogen, und sie starb kurz ehe er zum Pioniercorps ging. Auch sie habe ich nie kennengelernt. Aber sie war es, die ihm die Geschichten über die Townsends erzählt hat. Und er erzählte sie mir.«
Großmutter holte tief Atem, als müsse sie sich wappnen.»Er erzählte mir, daß sein Vater, Victor Townsend, ein nichtswürdiger Mensch war. Manche sagen, er hätte sich der Schwarzen Kunst verschrieben. Andere behaupten, er hätte mit dem Satan selbst in Verbindung gestanden. Wundern würde es mich nicht. Er hat schreckliche Dinge getan. Aber ich werde dir nicht sagen, was es war, Andrea. Nichts in der Welt wird mich dazu bringen, über die unsäglichen Scheußlichkeiten zu sprechen, die dieser Mensch — dieser Teufel begangen hat. Nur eines kann ich dir sagen: Solange Victor Townsend lebte, machte er den Menschen in diesem Haus das Leben zur Hölle.«
Kapitel 4
«Ja, das waren schlimme Zeiten. Also, hör zu — sie waren drei Kinder, Victor, der Älteste, dann John und die Jüngste war Harriet. 1880 übersiedelte der alte Townsend mit seiner Familie von London nach Warrington, und sie zogen in dieses Haus. Er war ein guter Mann, Roberts Großvater. Ein guter Christ und ein strenger Vater. Er war hier in Warrington sehr angesehen. Wie er zu einem Sohn wie Victor kam…«
Großmutter schüttelte den Kopf. Ich wollte sie nicht drängen, bemühte mich um Geduld, aber die Neugier ließ sich nicht zurückdrängen.
«Was hat Victor getan, Nana?«Sie hob den Kopf.»Getan?«
«Ja. Ich meine, beruflich.«
«Ach so…«Großmutter legte die Hand an die Stirn.»Laß mich überlegen. Ich weiß gar nicht recht. Nein, ich weiß es nicht. Vielleicht weiß es dein Großvater, aber ich glaube, er hat es mir nie erzählt. John, der jüngere Bruder, arbeitete im Stahlwerk. Ich glaube in der Verwaltung.«
«War er auch verheiratet?«
Großmutter warf mir einen erstaunten Blick zu.»Wie meinst du das — auch? Natürlich war John verheiratet. Er war mit Jennifer verheiratet. Ich hab dir doch ihr Bild gezeigt.«
«Aber ich dachte, sie wäre Victors Frau gewesen.«
«Nein, nein. Jennifer war mit John verheiratet. Victor war nie verheiratet.«
«Aber du hast gesagt, sie wäre meine Urgroßmutter.«
«Andrea. «Die Stimme meiner Großmutter klang bedrückt.»Jennifer heiratete John Townsend und zog in dieses Haus. Aber eines Nachts — «Sie senkte den Blick.»Eines Nachts kam Victor nach Hause, und er — er überfiel Jennifer und zwang sie.«
Das Ticken der Uhr klang mir plötzlich überlaut. Ich weiß nicht, wie viele Sekunden oder Minuten vergingen, ehe ich den Blick wieder auf Großmutter richtete, aber als ich es tat, spürte ich sogar ein wenig Teilnahme. Großmutter sah so unglücklich aus.»Verstehst du jetzt, Andrea?«fragte sie leise.»Dein Großvater wurde bei einer Vergewaltigung gezeugt.«
«Großmutter — «
«John — Jennifers Mann und Victors Bruder — ertrug es nicht, als er erfuhr, daß Jennifer schwanger war, und verließ sie. Beide Brüder verschwanden. Jennifer blieb allein zurück. Sie mußte ganz allein ihr Kind zur Welt bringen. Weder von John noch von Victor hörte sie je wieder. Ihre Schwiegermutter, die Mutter von Victor und John, zog das Kind groß, und nach dem, was dein Großvater mir erzählt hat, muß sie nicht ganz richtig gewesen sein, wenn du verstehst, was ich meine.«
«Und was war mit der Schwester, Harriet? Was wurde aus Jennifer selbst?«
«Was aus Harriet wurde, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß an den Umständen ihres Todes etwas sehr Sonderbares oder Geheimnisvolles war. Und Jennifer starb, ehe dein Großvater aus den Windeln war. An gebrochenem Herzen, heißt es.«
«Ich verstehe…«
«Ja, aber noch lange nicht alles. Das Schlimmste ahnst du noch nicht einmal.«
Die Leidenschaft im Ton meiner Großmutter überraschte mich. Ihr Blick war voller Feuer, und sie gestikulierte heftig, als sie weitersprach.»Du hast keine Ahnung, wie dein Großvater sein Leben lang gelitten hat, nachdem er erfahren hatte, was für ein Mensch sein Vater gewesen war. Es machte ihn zu einem ewig gequälten Menschen. Immer hing dieser schreckliche Schatten über ihm, das Wissen, daß sein Vater ein grausamer und sadistischer Mensch gewesen war. Er hatte nicht eine einzige glückliche Erinnerung, war nie von jemandem geliebt worden, bis er mit mir zusammentraf. Ach, Andrea, wie oft hab ich ihn im Schlaf aufschreien hören, wenn er Alpträume hatte; wie oft hab ich ihn in diesem Sessel sitzen und weinen sehen über das furchtbare Erbe, das er mitbekommen hatte.«
Die Augen meiner Großmutter wurden feucht. Ihre Lippen zitterten.»Du wirst denken, ach was, das alles ist ewig her. Aber soll ich dir sagen, was dein Großvater glaubt? Er glaubt, daß Victor Townsend verrückt war. Und sein Leben lang hat er mit der Furcht gelebt, daß die Krankheit bei einem seiner Kinder wieder auftreten würde. Als ich Elsie erwartete, war dein Großvater wie ein Besessener. Er hatte Todesangst, das Kind könnte Victors Krankheit mitbekommen haben. Dann kam deine Mutter und danach William. Und alle drei entwickelten sich zu normalen gesunden Menschen. Aber dann begann dein Großvater zu fürchten, Victors schreckliches Erbe könnte sich bei einem seiner Enkelkinder zeigen. Er lebte in der ständigen Angst, Victor könnte in einem von euch wieder lebendig werden. Das ist das wahre Unglück, Andrea — was die Vergangenheit aus deinem Großvater gemacht hat! Und ich war bis jetzt der einzige Mensch, der davon wußte. Nun weißt du es auch. Dabei wollte ich, du hättest unbelastet bleiben können.«
"Haus der Eriinnerungen" отзывы
Отзывы читателей о книге "Haus der Eriinnerungen". Читайте комментарии и мнения людей о произведении.
Понравилась книга? Поделитесь впечатлениями - оставьте Ваш отзыв и расскажите о книге "Haus der Eriinnerungen" друзьям в соцсетях.